[204] Stern fährt fort. Havelaars Brief an Verbrügge. Was ihn hinderte, gegen den Regenten vorzugehen.
Havelaars Vorgänger, der das Gute wollte, aber zugleich einige Furcht vor der hohen Ungnade der Regierung hatte – der Mann hatte viel Kinder und kein Vermögen – hatte also lieber mit dem Residenten über das, was er weitgehende Mißbräuche nannte, gesprochen, anstatt es gerade heraus in einem offiziellen Berichte darzulegen. Er wußte, daß ein Resident nicht gern einen schriftlichen Bericht empfängt, der dann in seinem Archiv liegen bleibt und später ein Beweis sein kann, daß er rechtzeitig auf diese oder jene Verkehrtheit aufmerksam gemacht worden ist, während eine mündliche Mitteilung ihm, ohne Gefahr, die Wahl läßt; ob er einer Klage Folge geben will oder nicht. Solche mündliche Besprechungen hatten gewöhnlich eine Unterhaltung mit dem Regenten zur Folge, der natürlich alles leugnete und Beweise verlangte. Dann wurden die Leute aufgerufen, die die Frechheit hatten, sich zu beklagen, und, indem sie sich dem Adhipatti zu Füßen warfen, baten sie flehentlich um Verzeihung. »Nein, der Büffel war ihnen nicht geraubt worden, sie glaubten sicher, daß dafür ein doppelter Preis bezahlt werden würde.« »Nein, sie waren nicht von ihren Feldern weggeholt worden, um in den Sawahs des Regenten ohne Lohn zu arbeiten, sie wußten sehr gut, daß der Adhipatti sie später reichlich bezahlt haben würde.« »Sie hatten ihre Klage in[204] einem Augenblick frevelhafter Widersetzlichkeit eingebracht, sie wären wahnsinnig gewesen und fühlten, daß man sie für ihre grenzenlose Unehrerbietigkeit strafen müsse ...«
Dann wußte der Resident ganz gut, was er über die Zurückziehung der Klage zu denken hatte, aber diese Zurückziehung gab ihm nichtsdestoweniger eine schöne Gelegenheit, den Regenten in Amt und Ehre zu halten, und ihm selber war die unangenehme Pflicht erspart, die Regierung mit ungünstigen Berichten zu »bemühen.« Der ruchlose Ankläger wurde mit Stockschlägen bestraft, der Regent hatte triumphiert, und der Resident kehrte nach dem Hauptorte zurück mit dem angenehmen Bewußtsein, diese Sache wieder einmal recht gut »geschoben« zu haben.
Aber was sollte nun der Adsistent-Resident thun, wenn tags darauf sich wieder andere Kläger bei ihm meldeten? Oder, und das geschah oft, wenn dieselben Kläger wiederkehrten und die Zurückziehung zurückzogen? Sollte er dieselbe Sache wieder in sein Notizbuch schreiben, um darüber noch einmal mit dem Residenten zu sprechen, um wieder dieselbe Komödie sich abspielen zu sehen, um schließlich für einen Beamten zu gelten, der fortwährend dumme und bösartige Beschuldigungen vorbrachte, die fortwährend als grundlos abgewiesen werden mußten? Und was sollte aus den so notwendigen freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem vornehmsten inländischen Haupte und dem ersten europäischen Beamten werden, wenn dieser fortgesetzt falschen Anklagen gegen dieses Haupt Gehör zu geben schien? Und was sollte vor allem aus den armen Klägern werden, wenn sie in ihr Dorf, unter die Macht des Distrikts- oder Dorfoberhaupts, zurückgekehrt waren, das sie als Vollstrecker der Willkür des Regenten angeklagt hatte?
Was aus diesen Klägern wurde? Wer flüchten konnte, flüchtete. Darum gab es so viele Bantamer in den Nachbarprovinzen. Darum waren so viele Leute aus Lebak unter den Aufständischen in den Lampongschen Distrikten. Darum hatte Havelaar in seiner Ansprache an die Häupter gefragt: »Wie kommt es, daß so viel Häuser leer stehen in den Dörfern? Und warum ziehen viele den Schatten der Büsche anderswo der Waldeskühle von Bantan-Kidul vor?«
Nicht jeder aber konnte flüchten. Der Mann, dessen Leiche des Morgens den Fluß hinabstieg, nachdem er am Abend vorher, im geheimen, ängstlich den Adsistent-Residenten um Gehör gebeten hatte, der hatte keine Sorge mehr um[205] die Flucht. Vielleicht war es als Humanität zu achten, ihn durch sofortigen Tod seiner weiteren Lebenszeit zu entziehen. Ihm blieb die Mißhandlung erspart, die ihn bei der Rückkehr in sein Dorf erwartete, und die Stockschläge, die die Strafe waren für alle, die einen Augenblick meinen konnten, kein Tier, kein unbeseeltes Stück Holz oder Stein zu sein, die Strafe derer, die in einem Augenblick des Wahnsinns geglaubt hatten, es wäre Recht im Lande und der Adsistent-Resident hätte Willen und Macht, das Recht zu handhaben.
War es nicht in der That besser, diesen Mann zu hindern, am folgenden Tage zum Adsistent-Residenten wieder zu kommen wie dieser ihm am Abend sagen ließ? War es nicht besser, seine Klage in dem gelben Wasser des Tjudjung zu ersticken, der ihn sachte nach seiner Mündung hinabtragen würde, er, der es gewohnt war, der Überbringer solcher brüderlichen Grüße und Geschenke von den Haifischen des Binnenlandes an die Haie der See zu sein?
Und Havelaar wußte das alles! Fühlt der Leser, was in seinem Gemüt vorging, als er dachte, daß er berufen sei, Recht zu üben, und daß er dafür einer höheren Macht, als die der Regierung ist, verantwortlich war, die wohl das Recht in ihren Gesetzen vorschrieb, aber seine Anwendung nicht immer gern sah? Fühlt man, wie er durch Zweifel gequält wurde, nicht was er zu thun habe, sondern wie er es thun sollte?
Er hatte mit Sanftmut angefangen. Er hatte zu dem Adhipatti als »älterer Bruder« gesprochen, und wer etwa dächte, daß ich, für den helden meiner Geschichte voreingenommen, seine Redeweise über das Maß erheben möchte, der höre, wie einst nach solcher Unterhaltung der Regent seinen Patteh zu ihm schickte, um ihm für das Wohlwollen in seinen Worten zu danken, und wie dieser Patteh noch lange danach, als er mit dem Kontroleur Verbrügge sprach, nachdem Havelar schon aufgehört hatte, Adsistent-Resident von Lebak zu sein, als man also von ihm nichts mehr zu hoffen oder zu fürchten hatte, – wie dieser Patteh bei der Erinnerung an diese Worte gerührt war und ausrief: »Noch niemals hat ein einziger Herr gesprochen wie er!«
Ja, er wollte retten, ordnen, nicht verderben.
Er hatte Mitleid mit dem Regenten. Er, der wußte, wie Geldmangel drücken kann, vor allem wo er zur Erniedrigung und Schmach führt, suchte nach Entschuldigungsgründen. Der Regent war alt und das Haupt eines Geschlechtes, das in[206] benachbarten Provinzen auf großem Fuße lebte, dort, wo viel Kaffee geerntet wurde und viele Bezüge abfielen. War es nicht drückend für ihn, in seiner Lebensweise seinen jüngeren Verwandten gegenüber zurückstehen zu müssen? Dazu war er ein religiöser Schwärmer und meinte, mit zunehmendem Alter das Heil seiner Seele durch bezahlte Wallfahrten nach Mekka und durch Almosen an Gebete singende Faulenzer erkaufen zu können. Die Beamten, die Havelaar in Lebak vorangegangen waren, hatten nicht immer ein gutes Beispiel gegeben und schließlich, die zahlreiche Lebaksche Familie des Regenten die ganz auf seine Kosten lebte, erschwerte ihm das Zurückkehren zum guten Wege sehr.
So suchte Havelaar nach Gründen, um alle Strenge beiseite zu lassen, und noch einmal zu versuchen, was mit Milde ausgerichtet werden könnte.
Und er ging noch weiter. Mit einem Edelmut, der an die Fehler erinnerte, die ihn so arm machten, schoß er dem Regenten immer wieder auf eigene Verantwortung Geld vor, damit ihn die Not nicht zu stark zum Mißbrauch drängte, und er vergaß sich selbst wie gewöhnlich so sehr, daß er sich erbot, sich und die Seinen auf das Nötigste einzuschränken, um dem Regenten mit dem Wenigen, was er von seinen Einkünften noch absparen konnte, zu Hilfe zu kommen.
Falls es noch nötig sein sollte, um die Milde zu beweisen, mit der Havelaar seine schwere Pflicht erfüllte, könnte der Beweis geliefert werden in einer mündlichen Botschaft, die er dem Kontroleur auftrug, als dieser auf einige Tage einmal nach Serang mußte. »Sagen Sie dem Residenten, wenn er von den Mißbräuchen höre, die hier herrschen, möge er nicht glauben, daß ich dagegen gleichgültig bin. Ich mag jetzt nicht offiziell davon Meldung machen, weil ich den Regenten, mit dem ich Mitleid habe, vor zu großer Strenge zu bewahren wünsche; ich will es erst versuchen, ihn mit Milde zu seiner Pflicht zu bringen.«
Havelaar war oft ganze Tage hintereinander fort. Wenn er zu Hause war, fand man ihn meist in dem Zimmer, das wir auf unserem Plan durch das siebente Fach bezeichnet finden. Dort schrieb er gewöhnlich und empfing die Personen, die um Gehör bitten ließen. Er hatte diese Stelle gewählt, weil er da in der Nähe seiner Tine war, die sich gewöhnlich im Zimmer nebenan aufhielt. Denn so innig waren sie verbunden, daß Max, auch wenn er mit Arbeiten beschäftigt war, die Aufmerksamkeit und Anstrengung erforderten, immer[207] das Bedürfnis hatte, sie zu sehen oder zu hören. Es war oftmals komisch, wenn er plötzlich ein Wort an sie richtete, das in seinen Gedanken über den Gegenstand, der ihn beschäftigte, gerade aufstieg, und wie schnell sie, ohne zu wissen, um was es sich handelte, den Sinn seiner Meinung zu erfassen wußte, die er ihr dann auch gewöhnlich nicht weiter erläuterte, als spräche es von selbst, daß sie wüßte, was er meinte. Oftmals auch, wenn er mit seiner eigenen Arbeit oder mit irgend einem soeben erhaltenen verdrießlichen Bericht unzufrieden war, sprang er auf und sagte etwas Unfreundliches zu ihr, die doch an seiner Unzufriedenheit keine Schuld trug. Aber das hörte sie gern, weil es ein Beweis mehr war, wie Max sie mit sich selbst verwechselte. Und nie war die Rede von Reue über solche scheinbare Härte oder von Vergebung auf der anderen Seite. Das würde ihnen so vorgekommen sein, als hätte jemand sich selbst um Verzeihung gebeten, weil er im Ärger sich an seinen eigenen Kopf geschlagen hatte.
Sie kannte ihn denn auch so gut, daß sie ganz genau wußte, wann sie da sein mußte, um ihm einen Augenblick Erholung zu verschaffen, – daß sie ebenso genau wußte, wenn er ihren Rat brauchte, und nicht minder, wenn sie ihn allein lassen mußte.
In diesem Zimmer saß Havelaar eines Morgens, als der Kontroleur eintrat mit einem soeben empfangenen Briefe in der Hand.
»Das ist eine schwere Sache,« sagte er beim Eintritt, »sehr schwierig!«
Wenn ich nun sage, daß der Brief einfach den Auftrag enthielt, Havelaar anzugeben, woher die Veränderung in dem Preise von Holz und Arbeitslohn kam, wird der Leser meinen, daß der Kontroleur Verbrügge recht bald etwas schwierig fand. Ich beeile mich daher, beizufügen, daß viele andere eine ebenso große Schwierigkeit in der Beantwortung dieser einfachen Frage gefunden hätten.
Vor einigen Jahren war in Rangkas-Betung ein Gefängnis gebaut worden. Nun ist allgemein bekannt, daß die Beamten in den Binnenländern Javas die Kunst verstehen, Gebäude aufzurichten, die Tausende wert sind, ohne mehr als ebenso viele Hunderte auszugeben. Man bekommt dadurch den Ruf von Geschicklichkeit und Eifer für des Landes Dienst. Der Unterschied zwischen den verwendeten Geldern und dem Wert dessen, was man dafür bekommen hat, wird durch[208] unbezahlte Lieferung oder unbezahlte Arbeit ausgeglichen. Seit einigen Jahren giebt es Vorschriften, die das verbieten. Ob man sie beachtet, ist hier nicht die Frage, ebensowenig, ob die Regierung selbst will, daß man sie mit einer Genauigkeit befolgt, die das Budget des Baudepartements belasten würde. Es wird wohl damit auch so sein wie mit allen anderen Vorschriften, die auf dem Papier sich so human ausnehmen.
Nun mußten zu Rangkas-Betung viele Baulichkeiten errichtet werden, und die Ingenieure, die zum Entwerfen der Pläne aufgefordert waren, hatten natürlich Angaben über die ortsüblichen Preise der Arbeitslöhne und der Materialien eingefordert. Havelaar hatte den Kontroleur mit einer gewissenhaften Untersuchung beauftragt und ihm anbefohlen, die Preise der Wahrheit gemäß, ohne Rücksicht auf das, was früher geschah, abzugeben, und Verbrügge hatte den Auftrag ausgeführt. Indessen kamen nun die Preise mit denen von einigen Jahren früher nicht überein. Es wurde nach dem Grunde dieses Unterschieds gefragt, und das fand Verbrügge so schwierig. Havelaar, der sehr wohl wußte, was hinter der scheinbar einfachen Sache steckte, antwortete, er werde ihm seine Gedanken über diesen schwierigen Fall schriftlich zugehen lassen, und ich finde unter den vor mir liegenden Schriftstücken eine Abschrift des Briefes, der die Folge von dieser Ankündigung gewesen zu sein scheint.
Sollte der Leser sich beklagen, daß ich ihn mit einer Korrespondenz über Holzarbeiten aufhalte, womit er scheinbar nichts zu schaffen hat, so muß ich ihn schon bitten, nicht außer acht zu lassen, daß es sich hier eigentlich um etwas ganz anderes handelt, nämlich um den Zustand des amtlichen indischen Staatshaushalts, und daß der Brief, den ich mitteile, nicht allein einen Lichtstrahl auf den künstlichen Optimismus wirft, von dem ich sprach, sondern gleichzeitig die Schwierigkeiten schildert, mit denen jemand wie Havelaar, der geradeaus und ohne Umsehen seinen Weg gehen wollte. zu kämpfen hatte.
Nr. 114.
Rangkas-Betung, 15. März 1856.
An den Kontroleur von Lebak.
Als ich den Brief des Direktors der öffentlichen Arbeiten, vom 16. Februar d.J., Nr. 271/354, an Sie weitergab, habe ich Sie ersucht, die Anfragen nach Rücksprache mit dem[209] Regenten zu beantworten, und dabei zu beachten, was ich in meinem Missive von 5. d. Mts., Nr. 97, schrieb.
Dieses Missive enthielt einige allgemeine Winke, was als billig und angemessen zu betrachten wäre, bei der Festsetzung der Preise der Materialien, durch die Bevölkerung zu liefern, an und zu Lasten der Regierung.
In Ihrem Missive vom. 8. d.M., Nr. 6, haben Sie dem entsprochen, und wie ich glaube, nach bestem Wissen, sodaß ich, im Vertrauen auf Ihre und des Regenten örtliche Kenntnis, die Aufstellungen, wie von Ihnen erhalten, dem Residenten überreicht habe.
Darauf folgte ein Missive von diesem Vorgesetzten, vom 11. d.M., Nr. 326, in dem Aufklärung verlangt wurde, betreffend die Ursache des Unterschieds zwischen den durch mich aufgeführten Preisen und denen, die in 1854 und 55, den beiden vorigen Jahren, bei Erbauung einer Gefangenen- Anstalt, eingestellt waren.
Ich stellte natürlich diesen Brief Ihnen zu Händen, und beauftragte Sie mündlich, nunmehr Ihre Angaben zu justifizieren, was Ihnen um so leichter fallen mußte, als Sie sich auf die Vorschriften, gegeben in meinem Schreiben vom 5. d.M., und von uns mehrfach mündlich besprochen, berufen durften.
Bis hierher ist alles einfach und ordnungsmäßig.
Aber gestern kamen Sie auf mein Bureau, mit dem zurückgeschickten Brief des Residenten in der Hand, und begann über die Schwierigkeit der Erledigung des darin Vorkommenden zu sprechen. Ich beobachte bei Ihnen wiederum eine gewisse Scheu, einige Dinge beim wahren Namen zu nennen; etwas, auf was ich Sie schon mehrfach aufmerksam machte, unter anderem kürzlich in Gegenwart des Residenten, – etwas, was ich zur Abkürzung Halbheit nenne, und wogegen ich Sie schon oft freundlichst vermahnte.
Halbheit führt zu nichts. Halb gut ist nicht gut. Halb wahr ist unwahr.
Für volles Gehalt, für vollen Rang, nach einem deutlichen vollständigen Eide thue man seine volle Pflicht.
Ist etwas Mut nötig, um sie auszuführen: man besitze diesen Mut.
Ich für mich würde nicht den Mut haben, dieses Muts zu ermangeln. Denn, abgesehen von der Unzufriedenheit mit sich selbst, die eine Folge von Pflichtversäumnis und Lauheit ist, bringt das Suchen nach bequemen Umwegen, die Sucht[210] überall und immer Unannehmlichkeiten zu entgehen, der Wunsch »sich zu drücken,« mehr Sorgen und in Wirklichkeit mehr Gefahr mit sich, als man auf dem geraden Wege treffen wird.
Während des Verlaufs einer sehr wichtigen Angelegenheit, die jetzt bei dem Gouvernement in Erwägung ist, und mit der Sie eigentlich von Amts wegen befaßt sein müßten, habe ich Sie stillschweigend gewissermaßen neutral gehalten und nur im Scherz von Zeit zu Zeit darauf angespielt.
Als, zum Beispiel, unlängst Ihr Bericht über die Ursachen von Mangel und Hungersnot unter der Bevölkerung bei mir eingelaufen war, und ich darauf schrieb: »Das könnte wohl alles die Wahrheit sein, aber es ist nicht die ganze Wahrheit, nicht die vornehmste Wahrheit; die Hauptsache steckt tiefer,« – stimmten Sie vollständig bei, und ich machte keinen Gebrauch von meinem Recht, zu fordern, daß Sie nun auch die Hauptwahrheit nennen sollten.
Ich hatte zu dieser Nachsicht viele Gründe, und unter anderen diesen, daß ich es unbillig fand, von Ihnen auf einmal etwas zu verlangen, was viele andere an Ihrer Stelle ebenso wenig leisten würden: Sie zu zwingen, auf einmal einer Routine von Zurückhaltung und Menschenfurcht lebewohl zu sagen, die nicht Ihre Schuld ist, sondern der Leitung, die Ihnen zu teil wurde. Ich wollte endlich Ihnen erst ein Beispiel geben, wie viel einfacher und leichter es ist, seine Pflicht ganz zu thun, als halb.
Jetzt jedoch, da ich die Ehre habe, Sie wieder so viele Tage länger unter meinen Befehlen zu sehen, und nachdem ich Ihnen wiederholentlich Gelegenheit geboten habe, Prinzipien kennen zu lernen, die – es sei denn, ich irre – zuletzt siegen sollen, wünschte ich, daß Sie die annähmen, daß Sie sich die nicht fehlende, aber in den Winkel geratene Kraft zu eigen machten, die nötig scheint, um stets nach bestem Gewissen geradeheraus zu sagen, was zu sagen ist, und daß Sie daher diese unmännliche Scheu, dreist mit einer Sache herauszukommen, ganz und vollständig fahren ließen.
Ich erwarte daher von Ihnen eine einfache aber vollständige Angabe dessen, was Ihnen die Ursache des Preisunterschiedes von heute und 1854/55 zu sein scheint.
Ich hoffe ernsthaft, daß Sie von keinem einzigen Satze dieses Briefes annehmen werden, er sei bestimmt, um Sie zu kränken. Ich hoffe, daß Sie mich genügend kennen gelernt haben, um zu wissen, daß ich nicht mehr und nicht weniger[211] sage, als ich meine, und obendrein gebe ich Ihnen zum Überfluß die Versicherung, daß meine Bemerkungen eigentlich weniger Sie betreffen als die Schule, in der Sie zum indischen Beamten herangebildet sind.
Dieser »mildernde Umstand« müßte indessen in Fortfall kommen, wenn Sie, länger mit mir im Verkehr, und im Dienste des Gouvernements unter meiner Leitung, fortführen, den Schlendrian mitzumachen, gegen den ich kämpfe.
Sie haben wohl gemerkt, daß ich das »Euer Wohledelgestrengen« weggelassen habe; es war mir langweilig. Thun Sie es auch, und lassen Sie uns unsere »Wohledelheit« und, wo es nötig ist, unsere »Strenge« wo anders und in anderer Weise zeigen, als in der albernen, sinnstörenden Titulatur.
Der Adsistent-Resident von Lebak.
(gez.) Max Havelaar.
Die Antwort auf diesen Brief warf die Schuld auf einige von Havelaars Vorgängern, und bewies, daß er nicht so unrecht hatte, wenn er die schlechten Beispiele früherer Zeiten mit unter die Gründe aufnahm, die für die Schonung des Regenten sprachen.
Ich bin bei der Mitteilung dieses Briefes der Zeit vorausgeeilt, um schon jetzt ins Auge fallen zu lassen, wie wenig Hilfe Havelaar von dem Kontroleur zu erwarten hatte, wenn ganz andere, wichtigere Dinge beim rechten Namen genannt werden müßten. Man kann sich das vorstellen, wenn man sieht, wie er, der ohne Zweifel ein braver Mensch war, so ermutigt wer den mußte, wo es sich doch bloß um die Preise von Holz, Steinen, Kalk und Arbeitslohn drehte. Und man sieht, wie Havelaar nicht allein mit der Macht der Personen zu kämpfen hatte, die von den Mißbräuchen Vorteile genossen, sondern zugleich mit der Furchtsamkeit derer, die, wenn sie auch diese Mißbräuche ebenso sehr verabscheuten wie er, sich doch nicht berufen oder geeignet fühlten, mit Mut dagegen aufzutreten.
Vielleicht wird man, wenn man diesen Brief liest, auch ein wenig von der Verachtung gegen die sklavische Unterwürfigkeit des Javanen zurückkommen, der, in Gegenwart seines angestammten Hauptes, die eingebrachte, noch so begründete Anklage feige zurücknimmt. Wenn man bedenkt, daß selbst für den europäischen Beamten, der doch der Rache etwas weniger preisgegeben war, so viel Grund zur Furcht war, was erwartete dann den armen Landbewohner, der in einem[212] Dorfe, weitab vom Hauptorte, ganz und gar der Macht seiner angeklagten Unterdrücker verfallen war? Ist es ein Wunder, daß diese armen Burschen, in Angst wegen der Folgen ihrer Kühnheit, diese Folgen durch demütige Unterwerfung zu vermeiden oder zu mildern suchten?
Und es war nicht allein der Kontroleur Verbrügge, der seine Pflicht that mit einer Scheu, die an Pflichtvergessenheit grenzen konnte. Auch der Djaksa, das inländische Haupt, das beim Rate des Landes das Amt eines öffentlichen Anklägers versieht, trat am liebsten des Abends, ungesehen und ohne Begleitung, in Havelaars Haus. Er, der auf Diebstahl passen sollte, dem aufgetragen war, den schleichenden Dieb zu fangen, schlich, als wäre er selbst der Dieb, der gefaßt zu werden fürchtete, mit leisem Tritt von der hinteren Seite in das Haus, nachdem er sich erst vergewissert hatte, daß kein Besuch da war, der ihn später, als der Pflichterfüllung schuldig, hätte verraten können.
War es ein Wunder, daß Havelaars Seele betrübt war, und daß Tine öfter als sonst in sein Zimmer treten mußte, um ihn aufzumuntern, wenn sie ihn da sitzen sah, den Kopf in die Hand gestützt?
Und die größte Sorge lag für ihn nicht einmal in der Furchtsamkeit derer, die ihm zur Seite standen, oder in der mitschuldigen Feigheit derer, die seine Hilfe angerufen hatten. Nein, ganz allein hätte er im Notfalle Recht geschaffen, ohne oder mit Hilfe von anderen, ja gegen alle, selbst gegen die, die das Recht nötig hatten. Denn er wußte, wie er Einfluß hatte auf das Volk, und wie er – wenn einmal die armen Unterdrückten, aufgefordert, laut vor Gericht zu wiederholen, was sie ihm abends und nacht in der Einsamkeit zugeflüstert hatten – er wußte, wie er die Macht hatte, dann auf ihr Gemüt zu wirken, und wie die Kraft seiner Worte stärker sein würde als die Angst vor Distriktshaupt und Regent. Die Furcht, daß seine Schützlinge von ihrer eigenen Sache abfallen könnten, hinderte ihn daher nicht. Aber es kostete ihn zu viel, diesen alten Adhipatti anzuklagen: das war der Grund seines Zwiespalts – denn auf der anderen Seite mochte er nicht zugeben, daß die ganze Bevölkerung, abgesehen von ihrem guten Recht, ebenso sehr Anspruch auf Mitleid hatte.
Furcht vor eigenem Leid hatte keinen Teil an seinem Zweifel. Denn wußte er auch, wie ungern im allgemeinen die Regierung einen Regenten anklagen sieht, und wie viel[213] leichter es fällt, den europäischen Beamten brotlos zu machen, als ein inländisches Haupt zu bestrafen, hatte er doch einen besonderen Grund, um zu glauben, daß gerade in diesem Augenblick bei der Beurteilung einer solchen Sache andere Grundsätze als gewöhnlich herrschen würden. Allerdings würde er auch ohne diese Meinung ebenso gut seine Pflicht gethan haben: um so lieber sogar, als er die Gefahr für sich und die Seinen größer geachtet hätte denn je. Wir sagten schon, wie Schwierigkeiten ihn reizten, wie er nach Aufopferung dürstete. Aber er meinte, daß das Verführerische eines Opfers hier nicht vorhanden war, und fürchtete, wenn er am Ende zu ernstlichem Kampf gegen das Unrecht vorgehen müsse, das ritterliche Bewußtsein entbehren zu müssen, daß er den Streit als der Schwächere angefangen habe.
Ja, das fürchtete er. Er glaubte, daß an der Spitze der Regierung ein General-Gouverneur stünde, der sein Bundesgenosse sein würde, und es war eine Eigentümlichkeit mehr in seinem Charakter, daß diese Meinung ihn länger, als es sonst der Fall gewesen wäre, von strengen Maßregeln zurückhielt; es war nicht sein Fall, das Unrecht in einem Augenblick anzugreifen, da er das Recht für stärker hielt als gewöhnlich.
Ich sagte schon einmal bei dem Versuche seiner Charakteristik, daß er naiv war, bei all seiner Schärfe.
Ich will versuchen zu erklären, wie Havelaar zu der Ansicht gekommen war.
* * *
Sehr wenig europäische Leser können sich eine richtige Vorstellung machen, wie hoch ein General-Gouverneur stehen muß, um nicht unter dem Niveau seiner Untergebenen zu bleiben, und es soll deshalb auch kein strenges Urteil sein, wenn ich die Ansicht anfüge, daß sehr wenige vielleicht kein einziger, einer so hohen Anforderung hat entsprechen können. Um nicht die Eigenschaften von Kopf und Herz, die dazu erforderlich sind, anzuführen, wende man den Blick lediglich auf die schwindelnde Höhe, auf die so plötzlich der Mann gestellt wird, der – gestern noch ein einfacher Bürger – heute Macht hat über Millionen Unterthanen. Er, der vor kurzer Zeit noch unter seiner Umgebung verschwand, ohne sich[214] irgendwie in Rang oder Macht auszuzeichnen, fühlt sich mit einmal, meist unerwartet, über eine Menge emporgehoben, die unendlich größer ist als der kleine Kreis, der ihn früher doch dem Auge ziemlich verbarg. Und ich glaube, daß ich nicht zu unrecht die Höhe schwindelnd nannte; sie erinnert wirklich an den Schwindel jemandes, der unerwartet einen Abgrund vor sich sieht, oder an die Blindheit, die uns trifft, wenn wir mit Plötzlichkeit aus tiefer Finsternis in scharfes Licht gebracht werden. Gegen solche Übergänge sind die Nerven von Auge und Hirn nicht gewappnet, wären sie auch übrigens von außergewöhnlicher Stärke.
Bringt also die Ernennung zum General-Gouverneur oftmals die Ursachen des Verderbs auch desjenigen mit sich, der in Verstand oder Gemüt hervorragend begabt war: was ist da von Personen zu erwarten, die schon vor der Ernennung an vielen Schwächen litten? Und nehmen wir an, daß der König wirklich immer gut unterrichtet sei, bevor er seinen hohen Namen unter die Akte setzt, in der er sagt: er sei überzeugt von der »guten Treue, dem Eifer und der Tauglichkeit« des erwähnten Statthalters; und nehmen wir an, daß der neue Vicekönig wirklich eifrig treu und tauglich ist, dann bleibt doch die Frage, ob der Eifer oder vor allem die Tauglichkeit bei ihm in einem genügend hohen, über die Mittelmäßigkeit erhabenen Maße vorhanden ist, um den Erfordernissen seiner Berufung zu genügen.
Denn die Frage kann nicht die sein, ob der Mann, der zu 's Gravenhage das Kabinett des Königs verläßt, auf den Augenblick die Tauglichkeit besitzt, die für sein neues Amt nötig sein wird: – das ist unmöglich. Mit der Kundgebung des Vertrauens auf seine Tauglichkeit kann nur die Meinung vertreten sein, daß er in einem ganz neuen Wirkungskreis, in einem gegebenen Augenblick, sozusagen durch Eingebung, wissen wird, was er in 's Gravenhage nicht gelernt haben kann, – mit anderen Worten: daß er ein Genie ist, das auf einmal kennen und können muß, was es bisher weder kannte noch konnte. Solche Genies sind selten, selbst unter Personen, die bei Königen in Gunst stehen.
Da ich von Genies sprach, merkt man wohl, daß ich davon absehen will, was von manchem Landvogt zu sagen wäre. Auch würde es nicht passen, in mein Buch Seiten einzufügen, die den ernsten Zweck dem Verdacht der Skandalsucht preisgeben würden. Ich übergehe daher die Besonderheiten, die sich auf bestimmte Personen beziehen würden. Aber als allgemeine[215] Krankheitsgeschichte des Zustandes der Gene ral-Gouverneure glaube ich angeben zu können:
Erstes Stadium. Schwindel. Weihrauchtrunkenheit. Eigenwahn. Maßloses Selbstvertrauen. Mißachtung anderer, besonders »Altgedienter.«
Zweites Stadium. Ermattung. Furcht. Mutlosigkeit. Neigung zu Schlaf und Ruhe. Übermäßiges Vertrauen auf den Rat von Indien. Heimweh nach einem holländischen Landsitz.
Zwischen den beiden Stadien, und vielleicht als Ursache des Übergangs, liegen dysenterische Leibesbeschwerden.
Ich denke, daß viele in Indien mir für diese Diagnose dankbar sein werden. Sie ist nützlich zu verwenden. Denn man kann ziemlich sicher annehmen, daß der Kranke, der in der ersten Periode, während der Überspannung, an einer Mücke ersticken würde, später, nach der Bauchkrankheit, ohne Beschwer Kamele vertragen kann. Oder, um deutlicher zu sprechen, daß ein Beamter, der »Geschenke annimmt, ohne den Zweck, sich zu bereichern,« sagen wir ein Büschel Bananen im Werte von ein paar Groschen, – in der ersten Periode der Krankheit mit Schmach und Schande davongejagt wird; daß aber der Schlaue, der Geduld hat, zu warten, bis der letzte Zeitabschnitt kommt, sehr gemütlich und ohne Furcht vor Strafe sich des Gartens bemächtigen kann, wo die Bananen wachsen, mitsamt den Gärten, die daneben liegen, und den Häusern, die in der Umgebung stehen, und was in den Häusern ist, und noch das eine oder andere dazu ... nach Belieben.
Jeder benutze diese pathologisch-philosophische Anmerkung zu seinem Vorteil, halte aber das Rezept geheim, um der großen Konkurrenz zuvorzukommen ...
Verflucht, daß Entrüstung und Traurigkeit sich so oft in das Lumpengewand der Satire kleiden müssen! Verflucht, daß eine Thräne, um verstanden zu werden, mit einem Grinsen vereint erscheinen muß! Oder ist es die Schuld meiner Unerfahrenheit, daß ich keine Worte finde, um die Tiefe der Wunde zu bezeichnen, die an unserem Staatskörper schwärt, ohne daß ich meinen Stil bei Figaro oder Polichinell suchen müßte?
Stil – ja! Da liegen Schriftstücke vor mir, in denen Stil ist; Stil, der anzeigte, daß ein Mensch in der Nähe war; ein Mensch, dem die Hand zu reichen der Mühe wert war! Und was hat der Stil dem armen Havelaar genützt? Er[216] erklärte seine Thränen nicht mit einem Grinsen, er suchte nicht zu packen durch Buntheit der Farbe oder durch die Faxen des Jahrmarkt-Ausrufers ... was hat es ihm genützt?
Könnte ich schreiben wie er, würde ich anders schreiben als er!
Stil? ... Habt ihr gehört, wie er zu den javanischen Häuptern sprach? ... Was hat es ihm genützt? ...
Könnte ich sprechen wie er, ich würde anders sprechen als er!
Weg mit der gemütlichen Sprache, weg mit der Milde, Offenherzigkeit, Deutlichkeit, Einfalt, Gefühl! Weg mit allem, was erinnert an Horatius' »Justum et tenacem« ... Trompeten her und scharfen Beckenschlag, und Gezisch von Feuerpfeilen, und Gekreisch falscher Saiten, und hie und da ein wahres Wort, das mit durchschlüpfe wie verbotene Ware, unter Bedeckung von so viel Getrommel und so viel Gepfeife!
Stil! ... Er hatte Stil! Er hatte zu viel Seele, um seine Gedanken in »Ich habe die Ehre« und »die Edelgestrengen« und »ehrerbietig zur Erwägung geben,« die die hohe Lust der kleinen Welt ausmachten, in der er sich bewegte, zu ertränken! Wenn er schrieb, durchfuhr euch etwas beim Lesen, das euch klar machte, wie Wolken trieben bei dem Sturm, und daß ihr nicht das Geknatter eines blechernen Theaterdonners hörtet. Wenn er mit seinen Ideen Feuer schlug, fühlte man die Hitze des Feuers, ob man nun ein geborener Commis war oder General-Gouverneur oder Schreiber eines ekelhaften Berichts über die »ruhige Ruhe.« Und was hat es ihm genützt?
Wenn ich also gehört werden will – und vor allem verstanden – muß ich anders schreiben als er. Aber wie?
Sieh, Leser! Ich suche nach Antwort auf das Wie? Und darum hat mein Buch ein so buntes Ansehen. Es ist eine Musterkarte: trefft eure Wahl, und ich will euch dann Gelb oder Blau oder Rot geben nach eurem Wunsch.
Havelaar hatte die Gouverneurs-Krankheit bereits bei so vielen Leidenden beobachtet – und oft in »niederem Stoffe,« denn es giebt auch dergleichen Residents-Kontroleure – auch[217] Supernumerars-Krankheiten giebt es, die zu der ersten sich verhalten wie die Masern zu den Pocken, und endlich hatte er selbst auch an der Krankheit gelitten; – schon oft hatte er das alles beobachtet, sodaß er die Erscheinungen sehr gut kannte.
Er hatte den gegenwärtigen General-Gouverneur, am Anfang seiner Amtsführung, minder schwindlig gefunden als die meisten anderen, und er schloß daraus, daß auch der weitere Verlauf der Krankheit eine andere Richtung nehmen würde.
Darum fürchtete er der Stärkere zu sein, wenn er zum Schluß würde auftreten müssen als Verteidiger des guten Rechts der Einwohner von Lebak.
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