[87] Stern fährt fort. Der neue Chef wird in sein Amt eingeführt und beginnt sich häuslich einzurichten.
Der Resident von Bantam stellte den Regenten und den Kontroleur dem neuen Adsistent-Residenten vor. Havelaar begrüßte beide Beamten sehr höflich; den Kontroleur – es ist immer etwas Peinliches bei der Begrüßung eines neuen Vorgesetzten – ermutigte er sofort durch einige Worte, als wollte er eine Art von Vertraulichkeit einführen, die den Verkehr erleichtern sollte. Mit dem Regenten war seine Begrüßung, wie es sich gehörte einer Person gegenüber,[87] die »den goldenen Payong führt,« die aber gleichzeitig »sein jüngerer Bruder sein« sollte. Mit würdiger Liebenswürdigkeit machte er ihm Vorwürfe über seinen großen Diensteifer, der ihn in solchem Wetter an die Grenzen seines Bezirks geführt hatte – wozu allerdings, genau genommen, nach den Regeln der Etikette der Regent nicht verpflichtet war.
»Wirklich, Herr Adhipatti, ich bin Ihnen böse, daß Sie sich um meinetwillen die Mühe gemacht haben ... ich dachte Sie erst in Rangkas-Betung zu treffen.«
»Ich wünschte den Herrn Adsistent-Residenten so früh wie möglich zu sehen,« sagte der Adhipatti, »um Freundschaft zu schließen.«
»Gewiß, gewiß, ich fühle mich sehr geehrt; aber ich sehe nicht gern jemand Ihres Ranges und Ihres Alters sich allzuviel anstrengen ... und zu Pferde?«
»Ja, Herr Adsistent-Resident! wo der Dienst ruft, bin ich noch immer stark und rüstig.«
»Das ist zu viel verlangt ... nicht wahr, Resident?«
»Der Herr Adhipatti. Ist. Sehr.«
»Gütig, aber es giebt eine Grenze ...«
»Eifrig,« schleppte der Resident hinterher.
»Wohl, aber es ist eine Grenze,« mußte Havelaar noch einmal sagen, wie um das Vorige zurückzuschlucken, – »wenn Sie es gut finden, Resident, machen wir im Wagen Platz. Die Babu kann hier bleiben, wir schicken ihr dann von Rangkas-Betung eine Tandu. Meine Frau nimmt Max auf den Schoß ... nicht wahr, Tine! ... und es ist noch Platz genug.«
»Es. Ist. Mir.«
»Verbrügge, wir nehmen Sie auch mit, ich sehe nicht ein ...«
»Recht,« sagte der Resident.
»Ich sehe nicht ein, warum Sie ohne Not zu Pferde durch den Modder klappern sollen. Es ist Platz für uns alle, wir können dann sofort Bekanntschaft machen, ... nicht wahr, Tine, wir werden uns schon einrichten ... hier, Max ... sehen Sie, Verbrügge, ist das nicht ein nettes Kerlchen ... das ist mein Kleiner ... das ist Max!«
Der Resident hatte mit dem Adhipatti Platz genommen.[88] Havelaar rief Verbrügge, um ihn zu fragen, wem der Schimmel mit der roten Schabracke gehörte, und als Verbrügge nach dem Eingang der Pendoppo trat, um zu sehen, welches Pferd er meinte, legte er diesem die Hand auf die Schulter und fragte:
»Ist der Regent immer so diensteifrig?«
»Es ist für seine Jahre ein starker Mann, Mijnheer Havelaar, und Sie begreifen, daß er gern einen guten Eindruck auf Sie machen wollte.«
»Ja, das verstehe ich. Ich habe viel Gutes von ihm gehört ... er ist gebildet?«
»O ja ...«
»Und hat er eine große Familie?«
Verbrügge sah Havelaar an, als begriffe er diesen Sprung nicht. Das war denn auch für einen, der ihn nicht kannte, oftmals nicht leicht. Die Regsamkeit seines Geistes ließ ihn in Gesprächen manchmal einige Glieder der Schlußfolgerung überschlagen, und wie bequem sich auch der Übergang in seinen Gedanken abspielte, so war es doch jemand, der minder rege oder an seine Regsamkeit nicht gewöhnt war, nicht übel zu nehmen, wenn er ihn bei solch einer Gelegenheit anstarrte mit der unausgesprochenen Frage auf den Lippen: Bist du närrisch oder was ist los?
So etwas lag auch in Verbrügges Zügen, und Havelaar mußte die Frage wiederholen, ehe er antwortete:
»Ja, er hat eine sehr ausgebreitete Familie.«
»Und sind Medjets im Bezirk im Bau?« fuhr Havelaar fort, wieder in einem Tone, der, im Gegensatz zu den Worten selbst, anzudeuten schien, daß ein Zusammenhang bestehe zwischen den Moscheen und der großen Familie des Regenten.
Verbrügge antwortete, es würde wirklich viel an Moscheen gearbeitet.
»Ja, ja, ich wußte es wohl,« rief Havelaar. »Und sagen Sie mir, ist viel Rückstand bei der Bezahlung der Landrenten?«
»Ja, das könnte wohl besser sein ...«
»Richtig, besonders im Distrikt Parang-Kudjang,« sagte Havelaar, als fände er es bequemer, selbst zu antworten.[89]
»Wie hoch ist der diesjährige Voranschlag?« fuhr er fort, und als Verbrügge etwas zögerte, als ob er sich auf die Antwort besinnen müsse, kam ihm Havelaar zuvor, der in einem Atem fortfuhr:
»Gut, gut, ich weiß schon ... sechsundachtzigtausend und einige Hundert ... fünfzehntausend mehr als im vorigen Jahre ... aber doch bloß sechstausend mehr als im Jahre 185 .... Wir sind seit den dreißiger Jahren bloß achttausend gestiegen ... und auch die Bevölkerung ist sehr dünn ... ja, Malthus! ... in zwölf Jahren sind wir bloß elf Prozent gestiegen, und das ist noch die Frage, denn die Volkszählungen waren früher sehr ungenau ... und jetzt noch! ... Im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts haben wir sogar eine Abnahme ... auch der Viehbestand kommt nicht vorwärts ... ein schlechtes Zeichen ... was Kuckuck springt das Pferd so? ich glaube, es wird wild ... komm hierher, Max!«
Verbrügge hatte den Eindruck, er würde dem neuen Adsistent-Residenten wenig zu lehren haben, und von einem Übergewicht durch »lokale Anciennität« würde keine Rede sein, was der gute Junge übrigens auch nicht erwartet hatte.
»Aber es ist natürlich,« fuhr Havelaar fort, während er Max auf den Arm nahm, »im Tjikandschen und Bolangschen sind sie sehr froh darüber ... und die Aufständischen in den Lampongs auch. Ich rechne sehr auf Ihre Mitwirkung, Mijnheer Verbrügge. Der Regent ist ein Mann von Jahren ... sein Schwiegersohn ist noch immer Distriktshaupt? Alles zusammengenommen halte ich ihn für eine Person, die Nachsicht verdient ... den Regenten meine ich ... ich bin sehr froh, daß hier alles so arm ist ... ich hoffe, lange hier zu bleiben.«
Hierauf reichte er Verbrügge die Hand. Und als dieser nun mit ihm nach dem Tische zurückkehrte, an dem der Resident, der Adhipatti und Mewrouw Havelaar saßen, fühlte er bereits besser als fünf Minuten vorher, daß »dieser Havelaar doch nicht so närrisch war,« wie der Kommandant meinte. Verbrügge war durchaus nicht ohne Verstand, und er, der den Bezirk Lebak kannte, wie eben ein Mann einen so großen Landstrich kennen kann, in dem nichts gedruckt wird, fing an einzusehen, daß doch ein Zusammenhang war zwischen den scheinbar nicht zusammenhängenden Fragen Havelaars, und ferner, daß der neue Adsistent-Resident, obwohl er den Bezirk noch nicht betreten hatte, doch etwas davon wußte, was darin vorging. Allerdings begriff er die[90] Freude nicht über die Armut in Lebak, aber er dachte, den Ausdruck vielleicht nicht richtig gehört zu haben. Später freilich, als Havelaar ihm dasselbe öfter offenbarte, sah er ein, wie viel Großes und Edles in dieser Freude war.
Havelaar und Verbrügge nahmen an der Tafel Platz, und während man den Thee nahm, wartete man unter gleichgültigen Gesprächen, bis Dongso kam, dem Residenten zu melden, daß frische Pferde angespannt wären. Man packte sich so gut wie möglich in den Wagen und fuhr los.
Das Sprechen fiel infolge des Rüttelns und Stoßens schwer. Max wurde mit Bananen beruhigt; seine Mutter hatte ihn auf dem Schoße und wollte durchaus nicht zugeben, daß sie müde wäre, als Havelaar ihr den schweren Jungen abnehmen wollte. In einem Augenblick gezwungener Ruhe in einem Modderloch fragte Verbrügge den Residenten, ob er schon über Mewrouw Slotering gesprochen habe?
»Der Herr Havelaar. Hat. Gesagt.«
»Natürlich, Verbrügge, warum nicht? Die Dame kann bei uns bleiben. Ich möchte nicht ...«
»Daß. Es. Gut. Wäre,« schleifte der Resident mühsam hinterdrein.
»Ich möchte nicht gern einer Dame in diesen Umständen mein Haus versagen ... so etwas spricht von selbst ... nicht wahr, Tine?«
Auch Tine meine, es spräche von selbst.
»Sie haben in Rangkas-Betung zwei Häuser, und es ist Platz im Überfluß für zwei Familien,« sagte Verbrügge.
»Aber auch wenn das nicht so ...«
»Ich. Konnte. Es. Ihr.«
»Gewiß, Resident,« rief Mewrouw Havelaar; »es ist kein Zweifel daran.«
»Nicht. Versprechen. Denn. Es. Ist.«
»Und wenn sie ihrer zehn wären, wenn sie nur bei uns vorlieb nehmen wollen.«
»Eine. Große. Last. Und. Sie. Ist.«
»Aber das Reisen in dieser Lage ist unmöglich, Resident.«
Ein heftiger Stoß des Wagens, der herausgehoben wurde, setzte hinter die Erklärung, daß das Reisen für Mewrouw Slotering unmöglich wäre, ein Ausrufungszeichen. Jeder hatte das übliche »Heh« gerufen, das auf solchen Ruck folgt; Max hatte im Schoße seiner Mutter die Banane wiedergefunden, die er durch den Stoß verloren hatte, und schon[91] war man ein gutes Stückchen näher an dem nächsten Modderloch, ehe der Resident sich entschließen konnte, seinen Satz zu beendigen, indem er beifügte:
»Eine. Inländische. Frau.«
»O, das ist ganz dasselbe,« versuchte Mewrouw Havelaar sich verständlich zu machen. Der Resident nickte, als fände er es gut, daß die Sache also erledigt wäre, und da das Sprechen so beschwerlich war, brach man das Gespräch ab.
Die Frau Slotering war die Witwe von Havelaars Vorgänger, der vor zwei Monaten gestorben war. Verbrügge, der darauf vertretungsweise mit dem Amt des Adsistent-Residenten betraut worden war, hätte das Recht gehabt, während dieser Zeit die geräumige Wohnung zu beziehen, die zu Rangkas-Betung, wie in jedem Bezirke, von Landes wegen für das Haupt der Verwaltung hergerichtet ist. Er hatte es indes nicht gethan, teils aus Furcht, bald wieder umziehen zu müssen, teils um der Dame mit ihren Kindern die Benutzung zu überlassen. Es wäre sonst Raum genug gewesen; denn außer der ziemlich großen Adsistent-Residentswohnung stand daneben auf demselben Grundstück noch ein anderes Haus, das früher dazu gedient hatte, und wenn auch in baufälligem Zustande, doch noch zum Bewohnen geeignet war.
Mewrouw Slotering hatte den Residenten gebeten, bei dem Nachfolger ihres Gatten ihr Fürsprecher zu sein um die Vergünstigung, dieses alte Haus bis zu ihrer Niederkunft zu bewohnen, die sie in einigen Monaten erwartete. Dies war die Bitte, die Havelaar und seine Frau so bereitwillig zugestanden, denn gastfrei waren sie im höchsten Maße.
Der Resident hatte gesagt, daß Mewrouw Slotering eine »inländische Frau« war. Das erheischt für nicht-indische Leser einige Erklärung; denn man könnte leicht auf die unrichtige Vermutung kommen, daß es sich um eine eigentliche Javanerin handle.
Die europäische Gesellschaft in Indien ist scharf geschieden in zwei verschiedene Teile: die eigentlichen Europäer, und diejenigen, die, obwohl gesetzlich in demselben Rechtsverhältnis stehend, nicht in Europa geboren sind und mehr oder weniger inländisch Blut in den Adern haben. Zur Ehre der Humanitätsbegriffe in Indien beeile ich mich hinzuzufügen, daß, wie scharf die Linie auch ist, die man im gesellschaftlichen Verkehr zwischen den zwei Arten von Menschen zieht, die dem Eingeborenen gegenüber gemeinsam den Namen »Europäer«[92] tragen, diese Scheidung keineswegs den barbarischen Charakter besitzt, der in Amerika bei der Sonderung der Stände vorherrscht. Ich verkenne nicht, daß immer noch viel Ungerechtes und Verletzendes in dem Verhältnis vorhanden ist, und daß mir das Wort »Liplap« oft in den Ohren klang als ein Beweis, wie weit der Nicht-Liplap, der Weiße, oft noch von wahrer Bildung entfernt ist. Es ist wahr, daß der Liplap nur ausnahmsweise in Gesellschaften zugelassen wird, daß er gewöhnlich, um mich eines sehr gewöhnlichen Ausdrucks zu bedienen, nicht für voll angesehen wird, aber selten wird man solche Absonderung oder Geringschätzung als Princip hinstellen oder verteidigen hören. Es steht jedem frei, seinen Verkehr zu wählen, und man kann es dem eigentlichen Europäer nicht übel deuten, wenn er den Umgang mit Leuten seiner Art vorzieht, gegenüber dem Verkehr mit Personen, die – ihre größere oder geringere Würdigkeit außer acht gelassen – seine Eindrücke und Ideen nicht teilen, oder – und das ist am Ende die Hauptsache – deren Vorurteile eine andere Richtung genommen haben als die seinen.
Ein »Liplap« – wollte ich den Ausdruck benutzen, der für gebildeter gilt, müßte ich sagen: »ein sogenanntes inländisches Kind«; ich bitte aber um Erlaubnis, mich an den aus Allitteration geborenen Sprachgebrauch zu halten, ohne daß ich etwas Beleidigendes mit dem Ausdruck beabsichtige, und was bedeutet das Wort denn auch? – ein Liplap hat viel Gutes, und der Europäer hat viel Gutes. Beide haben viel Schlechtes; darin gleichen sie also einander. Aber das Gute und Schlechte, das beiden anhängt, geht zu sehr auseinander, als daß ihr Verkehr miteinander im allgemeinen zu gegenseitiger Befriedigung ausschlagen könnte. Außerdem, und daran hat die Regierung viel Schuld, ist der Liplap oft schlecht unterrichtet. Die Frage ist nun nicht, wie der Europäer sein würde, wenn er so von Jugend auf in seiner Entwicklung gehindert worden wäre. Aber es ist sicher, daß die geringe wissenschaftliche Bildung des Liplap im allgemeinen seiner Gleichstellung mit dem Europäer im Wege steht, auch da, wo er als Individuum, in Bildung, Wissenschaft oder Kunst den Vorrang vor einer bestimmten europäischen Person verdienen würde.
Auch hierin liegt wieder nichts Neues. Es lag in der Politik Wilhelms des Eroberers, den geringsten Normannen über den gebildetsten Sachsen zu erheben; und jeder Normanne berief sich auf das Übergewicht der Normannen im allgemeinen,[93] um seine Person zur Geltung zu bringen, auch da, wo er, ohne den Einfluß seiner Stammesgenossen als der siegenden Partei, der geringste gewesen wäre.
Auf solcher Basis wurde von vornherein in allen Verkehr eine Gezwungenheit gebracht, die nur durch philosophische, weitherzige Einsicht der Regierung wieder beseitigt werden könnte.
Daß der Europäer, der dabei im Vorteil ist, sich gern in dies künstliche Übergewicht findet, spricht für sich selbst, aber manchmal ist es komisch, jemand, der seine Bildung und seine Ausdrucksweise in der Rotterdamschen Sandstraße auflas, den Liplap auslachen zu hören, weil dieser »ein Glas Wasser« oder »Gouvernement« männlich und »Sohn« oder »Mond« sächlich verwendet.
Ein Liplap kann gebildet, gut erzogen, ja gelehrt sein – es giebt deren – sobald der Europäer, der sich krank stellte, um von dem Schiff zurückzubleiben, auf dem er Teller wusch, dessen Höflichkeit basiert auf »Uwee« und »Verexküsiert«, der an der Spitze der Handelsunternehmung stand, die am Indigo im Jahre 1800 »enorm« verdient hat – so viel, nein, lange bevor er den »Toko« besaß, in dem er Schinken und Jagdflinten verkaufte – sobald dieser Europäer merkte, daß der gebildetste Liplap Schwierigkeiten hat, das g und h auseinanderzuhalten, lachte er über die Dummheit des Mannes, der nicht weiß, daß ein Unterschied ist zwischen einem »Heck« und einem »Geck«.
Aber um darüber nicht zu lachen, hätte man auch wissen müssen, daß im Arabischen und Malayischen das »cha« und das »ha« durch ein und dasselbe Zeichen ausgedrückt wird, daß »Hieronymus« über Geronimo in Jerôme übergeht, daß wir aus »Huano« Guano machen, daß ein »Want« ein Handschuh ist, daß »Kous« von Hose abstammt, daß wir aus »Guild- Heaume« im Holländischen Huillem und Willem machen. Das[94] ist zu viel verlangt von einem, der sein Vermögen im Indigo machte.
Und solch ein Europäer kann doch nicht umgehen mit solch einem Liplap! Ich begreife, wie Willem von Guillaume kommt, und muß bekennen, daß ich, besonders auf den Molukken, viele Liplapen kennen gelernt habe, die mich durch den Umfang ihrer Kenntnisse in Staunen setzten, und die mich auf den Gedanken brachten, daß wir Europäer, denen so viel Hilfsmittel zur Verfügung stehen, oftmals, und nicht allein vergleichsweise, weit zurück sind gegen die armen Parias, die von der Wiege an mit einer künstlichen, absichtlichen Zurücksetzung und mit den Vorurteilen gegen ihre Farbe zu kämpfen hatten.
Aber Mewrouw Slotering war ein für allemal vor Fehlern im Holländischen sicher, denn sie sprach malayisch. Wir werden sie später zu Gesicht bekommen, wenn wir mit Havelaar, Tine und dem kleinen Max in der Vorgalerie der Adsistent-Residentswohnung zu Rangkas-Betung Thee trinken, wo ja unsere Reisegesellschaft, nach vielem Rasseln und Stoßen, endlich wohlbehalten ankam.
Der Resident, der nur mitgekommen war, um den neuen Adsistent-Residenten in sein Amt einzusetzen, gab den Wunsch zu erkennen, noch denselben Tag nach Serang zurückzukehren, »Weil. Er.«
Havelaar erklärte sich zu aller Eile bereit.
»Es. So. Eilig. Habe.«
Und es wurde verabredet, daß man dazu in einer halben Stunde zusammenkommen wolle in der großen Vorgalerie der Wohnung des Regenten. Verbrügge, der darauf vorbereitet war, hatte schon vor vielen Tagen den Distriktshäuptern, dem Patteh, dem Kliwon, dem Djaksa, dem Steuerkollekteur, einigen Mantris, und ferner allen inländischen Beamten, die dieser Feierlichkeit beiwohnen mußten, den Auftrag gegeben, sich auf dem Hauptplatze zu versammeln.
Der Adhipatti nahm Abschied und ritt nach seinem Hause. Mewrouw Havelaar besah ihre neue Wohnung und war damit sehr zufrieden, vor allem, weil der Garten so groß war: das schien ihr sehr gut für Max, der viel in die Luft sollte. Der Resident und Havelaar hatten sich jeder in ein Zimmer begeben, um sich umzukleiden, denn bei der Feierlichkeit, die[95] bevorstand, war das offiziell vorgeschriebene Kostüm ein Erfordernis. Rund um das Haus standen Hunderte von Menschen, die entweder zu Pferde den Wagen des Residenten begleitet hatten, oder zu dem Gefolge der versammelten Häupter gehörten. Die Polizei- und Bureau-Aufseher liefen eifrig hin und her; kurz, alles deutete darauf, daß die Eintönigkeit auf dem vergessenen Fleckchen Erde für einen Augenblick durch einiges Leben unterbrochen wurde.
Jetzt fuhr der hübsche Wagen des Adhipatti auf dem Vorplatz vor. Der Resident und Havelaar, blitzend von Gold und Silber, aber etwas über ihre Degen stolpernd, stiegen ein und begaben sich nach der Wohnung des Regenten, wo sie mit der Musik von Gongs, Gamelangs und allerlei Schnarr-Instrumenten empfangen wurden. Auch Verbrügge, der sein beschmutztes Gewand abgelegt hatte, war bereits angelangt. Die niederen Häupter saßen in einem großen Kreis, nach orientalischer Weise auf Matten am Fußboden, und am Ende der langen Galerie stand ein Tisch, an dem der Resident, der Adhipatti, der Adsistent-Resident, der Kontroleur und ein paar Häupter Platz nahmen.
Der Resident erhob sich und las den Beschluß des General-Gouverneurs vor, worin der Herr Max Havelaar zum Adsistent-Residenten des Bezirks Bantan-Kidul oder Süd-Bantam, von den Inländern Lebak genannt, angestellt wurde. Er nahm darauf das Staatsblatt, auf dem der für die Einführung in Ämter allgemein vorgeschriebene Eid stand, »daß man, um zu dem betreffenden Amte zu gelangen, niemand etwas versprochen oder gegeben habe, noch auch versprechen[96] oder geben werde, daß man treu und zu Diensten sein werde Seiner Majestät dem König der Niederlande, sowie gehorsam Seiner Majestät Stellvertreter in den Indischen Landen, daß man die Gesetze und Bestimmungen, die gegeben seien oder noch gegeben würden, genau befolgen und für ihre Befolgung durch die Untergebenen sorgen werde, wie es einem guten ... (in diesem Falle: Adsistent-Residenten) zukommt.«
Hierauf folgte natürlich das sakramentale »So wahr mir helfe Gott der Allmächtige.«
Havelaar sprach den vorgelesenen Eid nach. Als in diesen Eid inbegriffen hätte eigentlich das Gelöbnis angesehen werden müssen, daß man die inländische Bevölkerung gegen Aussaugung und Unterdrückung beschirmen werde; denn wenn man schwur, daß man die bestehenden Gesetze und Bestimmungen befolgen werde, brauchte man schlechthin auf die zahlreichen diesbezüglichen Vorschriften hinzublicken, um einzusehen, daß eigentlich ein besonderer Eid für diesen Punkt nicht nötig wäre. Es scheint indessen, daß der Gesetzgeber gemeint hat, Überfluß am Guten könne nichts schaden; man fordert also von dem Adsistent-Residenten noch einen besonderen Eid, in dem diese Pflicht noch einmal ausdrücklich ausgesprochen wird, und Havelaar rief daher Gott den Allmächtigen nochmals zum Zeugen an, daß er »die inländische Bevölkerung beschirmen werde gegen Unterdrückung, Mißhandlung und Erpressung.«
Für einen feinen Beobachter wäre es der Mühe wert gewesen, den Unterschied in Ton und Haltung bei dem Residenten und bei Havelaar bei dieser Gelegenheit zu beobachten. Beide hatten einer solchen Feierlichkeit schon öfter beigewohnt; der Unterschied, den ich meine, lag also nicht darin, daß der eine oder der andere von dem Neuen und Ungewohnten mehr oder minder berührt wäre, sondern er wurde ganz allein durch das Verschiedenartige der Charaktere beider Personen hervorgerufen. Der Resident sprach allerdings etwas schneller als gewöhnlich, da er den Beschluß und die Eide lediglich vorzulesen brauchte, was ihn der Mühe überhob, nach dem Schluß seiner Sätze zu suchen; aber es geschah doch alles mit einer Würde und einem Ernst, die dem oberflächlichen Zuschauer eine sehr hohe Vorstellung von dem Gewicht, das er der Sache beilegte, einflößen mußte. Havelaar dagegen hatte etwas in Gesicht, Stimme und Haltung, als ob er sagen wollte: »Das versteht sich alles[97] von selber, auch ohne Gott den Allmächtigen würde ich das thun« – und wer ein Menschenkenner ist, würde sich wohl auf seine Zwanglosigkeit mehr verlassen haben als auf die Würde des Residenten.
Ist es nicht in der That komisch, anzunehmen, daß der Mann, der berufen ist Recht zu sprechen, dem das Wohl und Wehe von Tausenden in die Hand gegeben ist, sich durch ein paar ausgesprochene Laute gebunden erachten sollte, wenn er nicht, auch ohne diese Laute, sich durch sein eigenes Herz dazu gedrungen fühlte?
Wir glauben von Havelaar, daß er die Armen und Unterdrückten, wo er sie antreffen mochte, auch geschützt hätte, wenn er bei Gott dem Allmächtigen das Gegenteil gelobt hätte.
Darauf folgte eine Ansprache des Residenten an die Häupter, in der er den Adsistent-Residenten als Oberhaupt des Bezirks vorstellte, sie aufforderte, ihm zu gehorsamen, ihren Verpflichtungen gewissenhaft nachzukommen, und dergleichen Gemeinplätze mehr. Die Häupter wurden darauf einzeln mit Namen vorgestellt, Havelaar reichte jedem die Hand, und die »Installation« war beendigt.
Man nahm im Hause des Adhipatti das Mittagsmahl ein, zu dem auch der Kommandant Düclari geladen war. Gleich nach Beendigung der Mahlzeit stieg der Resident, der gern noch diesen Abend in Serang sein wollte, »Weil. Er. So. Viel. Zu. Thun. Hatte,« in seinen Reisewagen, und so kehrte Rangkas-Betung wieder zu der Ruhe zurück, die man von einer javanischen Binnenstation, von wenig Europäern bewohnt und dazu auch nicht am großen Wege gelegen, erwarten konnte. Die Bekanntschaft zwischen Düclari und Havelaar war bald auf einen gemütlichen Fuß gebracht, der Adhipatti schien von seinem neuen »älteren Bruder« recht eingenommen, und Verbrügge er zählte später, daß auch der Resident, dem er ein Stück Weges auf seiner Rückfahrt nach Serang das Geleit gegeben hatte, sich über die Familie Havelaar sehr günstig ausgelassen hatte. Sie hatten auf ihrer Reise nach Lebak einige Tage in seinem Hause verweilt; und der Resident hatte noch hinzugefügt, es wäre wohl zu erwarten, daß Havelaar, der bei der Regierung gut angeschrieben wäre, höchstwahrscheinlich bald zu einem höheren Amte befördert oder wenigstens in einen »vorteilhafteren« Bezirk versetzt werden würde.
Max und »seine Tine« waren erst unlängst von einer Reise nach Europa zurückgekehrt und fühlten sich dessen, was[98] ich einmal sehr bezeichnend »das Kofferleben« nennen hörte, müde. Sie waren deshalb glücklich, nach vielem Umhertreiben endlich wieder einen Fleck zu bewohnen, auf dem sie zu Hause waren. Vor ihrer Reise nach Europa war Havelaar Adsistent-Resident von Amboina gewesen. Er hatte da mit vielen Unannehmlichkeiten zu kämpfen gehabt, weil die Bevölkerung dieser Insel sich in unruhigem und aufrührerischem Zustande befand, und zwar infolge zahlreicher falscher Maßregeln, die in der letzten Zeit ergriffen worden waren. Er hatte diesen Geist mit viel Energie zu unterdrücken gewußt. Aber aus Verdruß über die geringe Hilfe, die man ihm darin von oben her gewährte, und aus Aerger über die schlechte Verwaltung, die seit Jahren die herrlichen Landstriche der Molukken entvölkert und ruiniert – man suche darüber nachzulesen, was bereits im Jahre 1825 der Baron van der Capellen geschrieben hat: man kann die Publikation dieses Menschenfreundes finden in dem Indischen Staatsblatt dieses Jahres, und es ist seit der Zeit nicht besser geworden – aus Ärger über das alles war er krank geworden, und das hatte ihn bewogen nach Europa zu reisen. Genau genommen, hätte er bei der Wiedereinstellung Anspruch auf eine bessere Wahl gehabt, als den armen Bezirk Lebak; denn sein Wirkungskreis auf Amboina war von größerer Bedeutung gewesen, und er hatte da, ohne einen Residenten über sich, ganz auf eigenen Füßen gestanden. Außerdem war, schon bevor er nach Amboina kam, die Rede davon gewesen, ihn zum Residenten zu befördern, und es befremdete daher viele, daß ihm jetzt ein Bezirk übertragen wurde, der an Kultur-Emolumenten so wenig aufbrachte, weil viele den Wert eines Amtes nach den damit verbundenen Einkünften abmessen. Er selbst indes beklagte sich darüber nicht. Seine Ehrsucht war nicht von der Art, daß er um höheren Rang oder Gehalt betteln sollte.
Und das letztere wäre ihm doch gut zu statten gekommen. Denn auf seinen Reisen in Europa hatte er das wenige ausgegeben, was er in früheren Jahren erspart hatte, ja er hatte dort sogar Schulden machen müssen, und er war also, in einem Wort, arm. Aber er hatte sein Amt nie als Geldquelle[99] betrachtet, und bei seiner Berufung nach Lebak nahm er sich mit Zufriedenheit vor, das Rückständige durch Sparsamkeit einzuholen; in welchem Bestreben seine Frau, die in Geschmack und Bedürfnissen so einfach war, ihn gern unterstützen wollte.
Aber Sparsamkeit fiel Havelaar schwer. Er für sich selbst konnte sich auf das durchaus Notwendige beschränken, ja er konnte diesseits der Grenze davon bleiben, aber wo andere Hilfe brauchten, war ihm das Geben, das Helfen, ein wahrer Herzenszug. Er selbst sah diese Schwäche ein und stellte sich mit all dem gesunden Verstande, der ihm gegeben war, vor, wie unrecht er that, jemand zu unterstützen, wo er selbst mehr Anrecht auf seine eigene Hilfe gehabt hätte. Er fühlte dies Unrecht noch lebhafter, wenn er »seine Tine« und Max, die er beide so lieb hatte, unter den Folgen seiner Freigebigkeit leiden sah. Er verwies sich seine Gutherzigkeit als Schwäche, als Eitelkeit, als Sucht, für einen verkleideten Prinzen zu gelten; er gelobte sich Besserung, und doch, wenn dieser oder jener sich ihm als Opfer des Mißgeschicks hinzustellen wußte, vergaß er wieder alles, um zu helfen. Und er hatte doch bittere Erfahrungen gemacht mit den Folgen dieser zu weit getriebenen Tugend. Acht Tage vor der Geburt seines kleinen Max hatte er nicht so viel, um das eiserne Bettchen zu kaufen, in dem der Liebling ruhen sollte, und kurze Zeit vorher hatte er die wenigen Schmucksachen seiner Frau geopfert, um einem beizustehen, dem es gewiß besser ging als ihm selber.
Aber das lag ja nun, da sie in Lebak angekommen waren, weit hinter ihnen. Mit fröhlicher Ruhe hatten sie von dem Hause Besitz ergriffen, in dem sie nun doch einige Zeit zu bleiben hofften. Mit einem eigenartigen Genuß hatten sie zu Batavia die Möbel bestellt, die alles so »komfortabel« und, gemütlich machen sollten; sie zeigten sich die Stellen, wo sie das Frühstück einnehmen, wo der kleine Max spielen würde wo die Bibliothek stehen sollte, wo er ihr des Abends vorlesen würde, was er am Tage geschrieben hatte – denn er hatte stets den Trieb, seine Gedanken zu Papier zu bringen ... und »es wird einmal gedruckt werden,« meinte sie, »dann würde man schon sehen, wer ihr Max war.«
Aber er hatte niemals etwas unter die Presse gehen lassen, was seinen Kopf beschäftigte, weil eine gewisse Scheu, die mit einem schamhaften Gefühl verwandt war, ihn daran hinderte. Er selbst wußte diese Scheu nicht besser zu beschreiben,[100] als indem er denen, die ihn zur Veröffentlichung anspornten, antwortete: »Würdet ihr eure Tochter ohne Hemd auf die Straße laufen lassen?«
Das war wieder eine von den »Grillen,« die seine Umgebung zu dem Ausspruch veranlaßte, daß »Havelaar doch ein sonderbarer Mensch wäre,« und ich will nicht das Gegenteil sagen. Aber wenn man sich die Mühe nähme, seine ungewöhnliche Sprechweise zu »übersetzen,« so hätte man in der sonderbaren Frage über die Toilette eines Mädchens vielleicht die Unterlage zu einer Abhandlung über die »Keuschheit des Geistes« gefunden, die scheu ist vor den Blicken des gefühllosen Passanten und sich in eine Hülle jungfräulicher Scham zurückzieht.
Ja, sie würden glücklich sein zu Rangkas-Betung, Havelaar und seine Tine! Die einzige Sorge, die sie drückte, waren die Schulden, die sie in Europa zurückgelassen hatten, vermehrt durch die noch unbezahlten Kosten der Reise nach Indien zurück und durch die Ausgaben für die Ausstattung ihrer neuen Wohnung. Aber sie würden ja von der Hälfte, von dem dritten Teil der Einkünfte leben ... vielleicht würde er bald Resident werden ... und dann würde das alles in wenigen Jahren geregelt werden ...
»Wenn es mir auch nicht lieb wäre, Tine, Lebak zu verlassen; denn es ist hier viel zu thun. Du mußt recht sparsam sein, meine Beste, dann können wir vielleicht auch ohne Beförderung alles abstoßen ... und dann hoffe ich recht lange hier zu bleiben.«
Eine Aufforderung zur Sparsamkeit brauchte er nun eigentlich an sie nicht zu richten. Sie hatte keine Schuld daran, daß die Sparsamkeit nötig geworden war; doch hatte sie sich mit ihrem Max so identifiziert, daß sie diese Aufforderung durchaus nicht als einen Verweis auffaßte, was sie auch nicht sein sollte. Havelaar wußte sehr gut, daß er allein durch seine zu weit getriebene Freigebigkeit gefehlt hatte, und daß ihr Fehler – wenn überhaupt auf ihrer Seite ein Fehler vorhanden war – höchstens darin liegen konnte, daß sie aus Liebe zu ihrem Max alles, was er that, gutgeheißen hatte.
Ja, sie hatte es gut gefunden, als er die beiden armen Frauen aus der Nieuwstraat, die nie in ihrem Leben Amsterdam verlassen hatten und niemals »ausgewesen« waren, auf dem Haarlemer Jahrmarkt herumführte, unter dem spaßigen Vorgeben, daß der König ihn beauftragt hatte, »alte Frauchen zu[101] amüsieren, die sich so gut geführt hätten.« Sie fand es gut, daß er die Waisenkinder aus allen Stiften Amsterdams zu Kuchen und Mandelmilch einlud und sie mit Spielsachen beschenkte. Sie verstand es vollkommen, daß er das Fahrgeld für die arme Sängerfamilie bezahlte, die in ihr Land zurück wollten, aber nicht gern ihre Habe da lassen wollten, die Harfe und die Geige und den Baß, die sie zu ihrem ärmlichen Geschäft so nötig brauchten. Sie konnte nicht schelten, als er das Mädchen zu ihr brachte, das ihn am Abend auf der Straße angesprochen hatte, daß er ihr zu essen gab und sie beherbergte, und daß er das »Gehe hin und sündige nicht weiter!« nicht eher aussprach, als bis er ihr das Nichtsündigen möglich gemacht hatte. Sie fand es sehr schön von ihrem Max, daß er das Klavier auf den Treppenflur des Familienvaters zurückbringen ließ, den er hatte sagen hören, wie leid es ihm thue, daß die Mädchen nach dem Bankerott von ihrer Musik ganz abkämen. Sie begriff es sehr wohl, daß ihr Max die Sklavenfamilie zu Menado freikaufte, die so bitter weinte, als sie auf den Tisch des Auktionators steigen sollte. Sie fand es ganz natürlich, daß Max den Menschen, deren Pferde durch die Offiziere der »Bayonnaise« zu Tode geritten waren, wieder Pferde schenkte. Sie hatte nichts dagegen, daß er zu Menado und zu Amboina alle Schiffbrüchigen von den amerikanischen Walfischfängern zu sich rief und sich nachher zu sehr als »Grandseigneur« fühlte, um, wie ein Hotelwirt, der amerikanischen Regierung eine Rechnung zu schicken. Sie verstand vollkommen, wie es kam, daß die Offiziere von jedem angekommenen Kriegsschiff großenteils bei Max logierten, und daß sein Haus ihr beliebtes Absteigequartier war.
War er nicht ihr Max? War es nicht zu klein, zu nichtig, zu ungereimt, ihn, der so fürstlich dachte, an die Regeln der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit binden zu wollen, die für die anderen gelten? Und außerdem, mochte auch augenblicklich ein Mißverhältnis zwischen Einnahme und Ausgabe da sein, war Max, »ihr Max,« nicht bestimmt für eine glänzende Laufbahn? Mußte er nicht bald in Verhältnisse kommen, die ihm ermöglichen würden, seinen großherzigen Neigungen, ohne Überschreitung seines Einkommens, freien Lauf zu lassen? Mußte »ihr Max« nicht General-Gouverneur[102] werden? oder ein König? War es nicht eigentlich befremdend, daß er nicht schon längst König war?
Wenn überhaupt ein Fehler bei ihr gefunden werden konnte, so war ihre Eingenommenheit für Havelaar die Veranlassung davon, und wenn irgendwo, so müßte hier das Wort gelten, daß »man viel vergeben solle, wer viel geliebt hat.«
Jedoch, man hatte ihr wirklich nichts zu vergeben. Ohne die übertriebenen Vorstellungen zu teilen, die sie von ihrem Max hegte, konnte man in der That annehmen, daß er eine gute Laufbahn vor sich habe, und wenn diese begründete Aussicht sich verwirklicht hätte, wären in die That die unangenehmen Folgen seiner offenen Hand bald geschwunden. Aber noch ein anderer Grund entschuldigte seine und ihre scheinbare Sorglosigkeit.
Sie hatte jung beide Eltern verloren und war bei ihrer Familie aufgewachsen. Als sie heiratete, teilte man ihr mit, daß sie ein kleines Vermögen besäße, das dann auch ausgezahlt wurde. Aber Havelaar entdeckte aus einzelnen Briefen aus früherer Zeit, und aus einigen losen Blättern, die sie in einer von ihrer Mutter herstammenden Kassette bewahrte, daß ihre Familie sowohl von Vater- wie von Mutterseite sehr reich gewesen war, ohne daß indes klar wurde, wo, wie und wann der Reichtum verloren gegangen war. Sie selbst, die nie für Geldsachen Interesse gehabt hatte, wußte wenig oder nichts zu antworten, als Havelaar einige Mitteilungen über die früheren Besitztümer der Ihrigen verlangte. Ihr Großvater, der Baron von Wijnbergen, war mit Willem dem Fünften nach England übergesiedelt und im Heere des Herzogs von York Rittmeister gewesen. Er schien mit den übergesiedelten Mitgliedern der statthalterlichen Familie ein vergnügtes Leben geführt zu haben, was denn auch von vielen als die Ursache des Vermögensverfalls angesehen wurde. Später bei Waterloo fiel er bei einer Attacke unter den Husaren Boreels. Rührend war es in den Briefen ihres Vaters zu lesen – er war damals ein Jüngling von achtzehn Jahren, der als Leutnant bei derselben Attacke einen Säbelhieb über den Kopf bekam, an dessen Folgen er später, nach acht Jahren, in geistiger Umnachtung sterben sollte – Briefen an seine Mutter, in[103] denen er klagte, wie er erfolglos auf dem Schlachtfelde nach der Leiche seines Vaters gesucht hatte.
Von ihrer Mutter Seite her erinnerte sie sich, daß ihr Großvater auf sehr ansehnlichem Fuße gelebt hatte, und aus einigen Papieren ergab sich, daß er im Besitz der Postereien in der Schweiz gewesen war, wie ja auch jetzt noch in einem großen Teile Deutschlands und Italiens dieser Erwerbszweig eine Apanage der Fürsten von Thurn und Taxis ausmacht. Das ergab ein großes Vermögen, aber auch davon war, aus ganz unbekannten Ursachen, wenig oder nichts auf das zweite Geschlecht gekommen.
Havelaar erfuhr das wenige, was überhaupt darüber zu erfahren war, erst nach seiner Verheiratung; und bei seinen Nachforschungen erweckte es seine Verwunderung, daß die Kassette, von der ich sprach, und die sie mit Inhalt aus Pietät bewahrt hatte, ohne zu wissen, daß da vielleicht pekuniär wichtige Papiere darin steckten – auf unerklärliche Weise verloren gegangen war. Wie uneigennützig er auch war, so entstand doch infolge dieses und zahlreicher anderer Umstände bei ihm die Meinung, daß hierunter sich ein Familienroman verbarg, und man darf es ihm nicht übel deuten, daß er, der für seine Weise zu leben so viel brauchte, mit Freude gesehen hätte, daß der Roman ein gutes Ende nähme. Wie es nun auch sei mit dem Bestehen dieses Romans, ob da eine Beraubung stattgefunden hatte oder nicht, sicher ist, daß dadurch in Havelaars Kopfe eine Art von »Millionentraum« geboren wurde.
Eigenartig ist nun wieder, daß er, der so scharf und genau das Recht anderer aufgespürt und verteidigt hätte, und hätte es noch so tief unter staubigen Akten und dichtgewobenen Chikanen versteckt gelegen, – daß er hier, wo es sich um sein eigenes Interesse handelte, den Augenblick träge verbummelte, als er die Sache hätte anfassen müssen. Es schien ihn eine Art Scham zu befallen, weil es seinem eigenen Vorteil galt, und ich glaube gewiß, wenn »seine Tine« mit einem anderen vermählt gewesen wäre, der sich an ihn gewendet hätte mit der Bitte, das Spinngewebe zu zerstören, in dem ihr großväterliches Vermögen hängen geblieben war, es wäre ihm gewiß gelungen, die »interessante Waise« in den Besitz einzusetzen, der ihr gehörte. Aber nun war die interessante[104] Waise seine Frau, ihr Vermögen war seins: da fand er etwas Krämerhaftes, etwas Erniedrigendes darin, in ihrem Namen zu fragen: »Seid ihr mir nicht noch etwas schuldig?«
Und doch konnte er den Millionentraum nicht von sich weisen, und wäre es auch nur, um eine Entschuldigung zur Hand zu haben bei seinen öfters vorkommenden Selbstvorwürfen, daß er zu viel Geld ausgab.
Erst kurz vor der Rückkehr nach Java, als er schon viel gelitten hatte unter dem Druck des Geldmangels, als er das stolze Haupt schon unter das kaudinische Joch manches Gläubigers hatte beugen müssen, hatte er seine Trägheit und seine Scheu überwinden können, um mit den Millionen, die er seiner Ansicht nach gut hatte, ernst zu machen. Man antwortete ihm mit einer alten Rechnungsaufstellung, gegen die bekanntlich nichts zu machen ist.
Aber sie würden in Lebak sparsam sein. Warum auch nicht? In solchem uncivilisierten Lande laufen keine Mädchen des Abends auf der Straße herum, die ein wenig Ehre für ein wenig Brot zu verkaufen haben; es treiben sich da sogar keine Leute von problematischer Existenz umher. Da kommt es auch nicht so vor, daß eine Familie durch Schicksalstücke plötzlich zu Grunde geht ... und derartig waren ja gewöhnlich die Klippen, an denen Havelaars gute Vorsätze scheiterten. Die Zahl der Europäer war so gering, sie kam gar nicht in Betracht, und der Javane zu Lebak war zu arm, um – bei welchem Schicksalswechsel auch – durch noch größere Armut interesseweckend zu werden. Das berechnete Tine alles nicht so: dazu hätte sie sich richtiger, als ihre Liebe zu Max gestattete, Rechenschaft geben müssen über die Ursachen ihrer minder günstigen Verhältnisse. Aber es lag etwas in ihrer neuen Umgebung, was Ruhe atmete, eine Abwesenheit aller Ursachen mit mehr oder minder romantischer Färbung, die früher Havelaar öfters veranlaßt hatten zu sagen: »Nicht wahr, Tine, das ist doch ein Fall, dem ich mich nicht entziehen kann?« worauf sie dann stets geantwortet hatte: »Nein, Max, dem kannst du dich nicht entziehen.«
Wir werden sehen, wie das einfache, scheinbar unbewegte Lebak Havelaar mehr kostete als alle früheren Extravaganzen seines Herzens zusammen.
Aber das wußten sie nicht! Sie sahen der Zukunft mit Vertrauen entgegen und fühlten sich glücklich in ihrer Liebe und dem Besitz ihres Kindes ...[105]
»Was? schon Rosen im Garten?« rief Tine, »und sieh da auch Rampeh und Tjempaka, und so viel Melatti, und sieh einmal die schönen Lilien ...«
Und Kinder, wie sie waren, freuten sie sich ihres neuen Hauses, und als am Abend Düclari und Verbrügge nach einem Besuch bei Havelaar nach ihrer gemeinsamen Wohnung zurückkehrten, sprachen sie viel über die kindliche Fröhlichkeit der neu angekommenen Familie.
Havelaar begab sich nach seinem Kontor, und er blieb da die Nacht über, bis zum folgenden Morgen.
Buchempfehlung
Hume hielt diesen Text für die einzig adäquate Darstellung seiner theoretischen Philosophie.
122 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro