Zehntes Kapitel.

[134] Droogstoppel sucht den jungen Stern auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.


Wenn ich auch, wo es sich um Prinzipien handelt, niemand fürchte, habe ich doch begriffen, daß ich mit Stern einen anderen Weg einschlagen muß als mit Fritz. Und da zu erwarten steht, daß mein Name (die Firma ist Last & Co.; aber ich heiße Droogstoppel, Batavus Droogstoppel mit einem Buche in Berührung kommen wird, in dem Dinge stehen, die mit der Ehrerbietung, wie sie jeder anständige Makler vor sich selbst haben muß, nicht zusammenstimmen, so achte ich für meine Pflicht, mitzuteilen, wie ich diesen Stern auf den richtigen Weg zurückzuführen versucht habe.[134]

Ich habe ihm nicht von dem Herrn gesprochen, weil er lutherisch ist, aber ich habe auf sein Gemüt und seine Ehre gewirkt. Sieh hier, wie ich das angelegt habe, und merk dabei auf, wie weit man es in der Menschenkenntnis bringen kann. Ich hatte ihn hören sagen: »Auf Ehrenwort«, und fragte, was er damit sagen wolle?

»Nun,« sagte er, »daß ich meine Ehre verpfände für die Wahrheit dessen, was ich sage.«

»Das ist sehr viel,« erwiderte ich. »Sind Sie denn so überzeugt, die Wahrheit zu sprechen?«

»Ja,« erklärte er, »die Wahrheit sage ich immer. Wenn die Brust mir glüht ...« Der Leser weiß den Rest.

»Das ist wirklich sehr schön,« sagte ich, und ich that so, als ob ich es glaubte.

Aber das war gerade die Feinheit des Strickes, mit dem ich ihn fangen wollte, um, ohne Gefahr, den alten Stern in die Hände von Büsselinck und Waterman fallen zu sehen, doch das junge Kerlchen einmal recht zum Bewußtsein seiner Stellung zu bringen und ihn fühlen zu lassen, wie groß der Abstand ist zwischen einem, der eben erst anfängt, wenn auch sein Vater große Geschäfte macht, und einem Makler, der zwanzig Jahre die Börse besucht hat. Es war mir nämlich bekannt, daß er allerlei Zeug von Versen aus dem Kopfe wußte (er sagte »auswendig«), und da Verse immer Lügen sind, so war ich sicher, ihn sehr bald auf Unwahrheiten zu ertappen. Es dauerte denn auch nicht lange. Ich saß im Seitenzimmer, und er war in der »Suite,« denn wir haben eine Suite; Marie strickte, und er wollte ihr etwas erzählen. Ich hörte aufmerksam zu, und als es aus war, fragte ich ihn, ob er das Buch hätte, wo das Ding drin stand, das er soeben hergedröhnt hatte. Er sagte Ja und brachte es mir; es war ein Band der Werke von einem gewissen Heine. Am folgenden Morgen gab ich ihm, Stern meine ich, die nachfolgenden


Betrachtungen

über die Wahrheitsliebe jemandes, der das folgende

Machwerk von Heine einem jungen Mädchen vorträgt,

das in der Suite sitzt und strickt.


»Auf Flügeln des Gesanges,

Herzliebchen, trag ich dich fort.«


Herzliebchen ...? Marie, Ihr Herzliebchen? Wissen die alten Leute davon? Und Luise Rosemeyer? Ist es brav, so[135] etwas einem Kinde zu sagen, das durch dergleichen sehr leicht seiner Mutter gegenüber ungehorsam werden könnte, weil sie sich in den Kopf setzen könnte, sie sei mündig, weil man sie »Herzliebchen« nennt? Was bedeutet das »Forttragen auf Ihren Flügeln?« Sie haben keine Flügel, und Ihr Gesang auch nicht. Probieren Sie es einmal über die Lauriergracht, die nicht einmal sehr breit ist. Aber wenn Sie wirklich Flügel hätten, dürfen Sie dann so etwas einem Mädchen vortragen, das noch nicht eingesegnet ist? Und wäre sie auch, angenommen, was bedeutet dies Angebot von »zusammen wegfliegen?« Pfui!


»Fort nach den Fluren des Ganges,

Da weiß ich den schönsten Ort.«


Dann gehen Sie doch allein hin und mieten Sie sich eine Stube, aber nehmen Sie nicht ein Mädchen mit, das seiner Mutter in der Hauswirtschaft helfen muß. Aber Sie meinen das ja auch gar nicht. Erstens haben Sie den Ganges nie gesehen und wissen also gar nicht, ob da gut leben ist. Soll ich Ihnen sagen, wie die Sachen stehen? Es sind alles Lügen, die Sie darum erzählen, weil Sie sich mit dem Geverse zum Sklaven von Versmaß und Reim machen. Hätte die erste Zeile geendet auf Lug oder Trug, so hätten Sie Marie gefragt, ob sie mitginge nach Broek und so weiter. Sie sehen also, daß Ihre angebliche Reiselinie nicht ernst gemeint war, und daß alles auf einen Klingklang von Worten ohne Sinn und Verstand hinausläuft. Wie wäre es nun, wenn Marie wirklich Lust bekäme, die Reise zu machen? Ich spreche noch nicht einmal von der unbequemen Manier, die Sie vorschlagen; doch sie ist, Gott sei Dank, zu verständig, um nach einem Lande zu verlangen, von dem Sie sagen:


»Dort liegt ein rotblühender Garten

Im stillen Mondenschein,

Die Lotosblumen erwarten

Ihr trautes Schwesterlein.

Die Beilchen kichern und kosen

Und schaun nach den Sternen empor,

Heimlich erzählen die Rosen

Sich duftende Märchen ins Ohr.«
[136]

Was wollen Sie in dem Garten mit Marie im Mondschein thun? Ist das sittlich, ist das brav, ist das anständig, Stern? Wollen Sie, daß ich mich schämen muß, wie Büsselinck und Waterman, mit denen kein anständiges Haus etwas zu thun haben will, weil ihre Tochter davongelaufen ist, und weil sie Pfuscher sind? Was sollte ich antworten, wenn man mich auf der Börse fragte, warum meine Tochter so lange in jenem Garten geblieben ist? Denn das begreifen Sie doch, daß kein Mensch mir glauben würde, wenn ich sagte, daß sie da die Lotosblumen besuchen mußte, die, wie Sie sagen, schon lange auf sie gewartet haben. Ebenso würde jeder verständige Mensch mich auslachen, wenn ich närrisch genug wäre, um zu sagen: Marie ist da in dem roten Garten (warum rot und nicht gelb oder lila?), um auf das Kichern und Kosen der Veilchen zu horchen, oder auf die Märchen, die die Rosen sich heimlich ins Ohr flüstern? Und könnte so etwas wahr sein, was hätte Marie davon, wenn es doch so heimlich geschieht, daß sie nichts davon versteht? Aber es sind Lügen, fauler Schwindel, und häßlich ist es auch; denn nehmen Sie einmal einen Bleistift und zeichnen Sie sich eine Rose mit einem Ohr, und sehen Sie, wie das aussieht. Und was bedeutet das, daß die Märchen duftend sind? Soll ich Ihnen das einmal auf gut holländisch sagen? Das will sagen, daß ein Lüftchen an dem Märchen ist ... so ist es!


»Es hüpfen herbei und lauschen

Die frommen klugen Gazell'n,

Und in der Ferne rauschen

Des heiligen Stromes Well'n ...

Dort wollen wir niedersinken

Unter dem Palmenbaum,

Und Liebe und Ruhe trinken

Und träumen seligen Traum.«


Können Sie nicht in den zoologischen Garten gehen, wenn Sie durchaus wilde Tiere sehen wollen? Müssen es gerade die Gazellen am Ganges sein, die doch in der Wildnis nicht so gut zu betrachten sind, wie in einer netten Umzäunung von geteertem Eisen? Warum sind diese Tiere fromm und klug? Das letztere lasse ich gelten, sie machen wenigstens nicht solche thöriche Verse – aber fromm? Was heißt das? Heißt das nicht einen Mißbrauch treiben mit einem heiligen Wort, das nur gebraucht werden darf von Menschen, die den[137] wahren Glauben haben? Und dann der heilige Strom? Wollen Sie Marie Dinge erzählen, die sie zu einer Heidin machen können? Wollen Sie ihren Glauben erschüttern, daß es kein heiliges Wasser giebt als das Wasser der Taufe, und keinen heiligen Fluß als den Jordan? Ist das nicht ein Untergraben von Sittlichkeit, Tugend, Religion, Christentum und Anstand?

Denken Sie einmal über das alles nach, Stern! Ihr Vater ist ein achtungswürdiges Haus, und ich bin sicher, er findet es gut, daß ich so auf Ihr Gemüt wirke, und er wird gern Geschäfte machen mit einem, der Tugend und Religion aufrecht erhält. Ja, Prinzipien sind mir heilig, und ich scheue mich nicht, gerade heraus zu sagen, was ich meine. Machen Sie also kein Geheimnis von dem, was ich sage, schreiben Sie es ruhig Ihrem Vater, daß Sie hier in einer soliden Familie sind, daß ich Sie auf das Gute hinweise, und fragen Sie sich selber, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie zu Büsselinck und Waterman gekommen wären? Da hätten Sie auch solche Verse aufgesagt, und da hätte man nicht auf Ihr Gemüt gewirkt, weil es Pfuscher sind. Schreiben Sie das getrost Ihrem Vater, denn wo Prinzipien im Spiele sind, fürchte ich niemand. Da wären die Mädchen auch mit Ihnen mitgegangen nach dem Ganges, und dann lägen Sie nun da unter jenem Baum im Grase, während Sie nun, weil ich Sie warne, bei uns bleiben können, in einem anständigen Hause. Schreiben Sie das alles Ihrem Vater, und sagen Sie ihm, daß Sie so dankbar sind, daß Sie zu uns gekommen sind, und daß ich so gut für Sie sorge, und daß die Tochter von Büsselinck und Waterman weggelaufen ist, und grüßen Sie ihn sehr von mir, und schreiben Sie, daß ich noch 1/16 Prozent Courtage unter deren Gebot ablassen werde, weil ich die Schleicher nicht leiden kann, die einem Konkurrenten das Brot vom Munde stehlen durch günstige Offerten.

Und thun Sie mir den Gefallen, in Ihren Vorlesungen bei Rosemeyers etwas Tüchtigeres zu bringen. Ich habe in Shawlmanns Paket Aufstellungen über die Kaffee-Erzeugung der letzten zwanzig Jahre gesehen: lesen Sie einmal so etwas vor. Und Sie müssen auch die Mädchen und uns alle nicht so als Kannibalen hinstellen, die etwas von Ihnen aufgefressen haben. Das ist nicht anständig, mein Sohn; glauben Sie doch jemand, der weiß, was in der Welt los ist. Ich habe Ihren Vater schon vor seiner Geburt bedient (die Firma, meine ich, Last & Co., früher war es Last & Meyer); Sie[138] begreifen also, daß ich es gut mit Ihnen meine. Und spornen Sie Fritz an, daß er besser aufpaßt, und lehren Sie ihn keine Verse machen, und wenn er Gesichter schneidet gegen den Buchhalter, und dergleichen mehr, thun Sie, als ob Sie es nicht sähen. Geben Sie ihm ein Vorbild, weil Sie so viel älter sind, und bringen Sie ihm Ernst und Würde bei, weil er Makler werden soll.

Ich bin Ihr väterlicher Freund

Batavus Droogstoppel

(Firma Last & Co., Makler in Kaffee,

Lauriergracht Nr. 37).

Quelle:
Multatuli (Eduard Douwes Dekker): Max Havelaar. Halle a. d. S[aale] [o. J.], S. 134-139.
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