Zwanzigstes Kapitel.

[279] Stern fährt fort. Rangkas-Betung und Batavia. Havelaars Schicksal erfüllt sich.–Sterns und Droogstoppels plötzliches Ende. Multatuli.


Es war Abend. Tine saß in der Vorgalerie und las. Havelaar zeichnete eine Stickereivorlage. Der kleine Max spielte mit einem Bilderspiel, das zusammengelegt werden mußte, und war eifrig hinterher, weil er den »roten Rock der Frau« nicht finden konnte.

»Wird es nun gut sein, Tine?« fragte Havelaar. »Sieh, ich habe nun diesen Palmenzweig etwas größer gemacht, es ist gerade Hogarths Schönheitslinie.«

»Ja, Max, aber die Knopflöcher stehen zu dicht aneinander.«

»So? Und wie ist's mit dem anderen Streifen? Max, zeig mir mal dein Höschen ... hast du den Streifen dran? ... Ach, ich weiß noch, wo du den gestickt hast, Tine!«

»Ich nicht! Wo denn?«

»Es war im Haag, als Max krank war, und wir uns so ängstigten, weil der Arzt sagte, daß er ein so ungewöhnlich geformtes Köpfchen hätte, und daß viele Sorgfalt nötig wäre, um Andrang nach dem Gehirn zu vermeiden ... da sticktest du an diesem Streifen.«

Tine stand auf und küßte den Kleinen.

»Ich habe ihren Bauch!« rief dieser vergnügt, und die rote Frau war vollständig.

»Wer hört da einen Tontong schlagen?« fragte die Mutter.

»Ich,« sagte Mäxchen.

»Und was bedeutet das?«

»Zu Bett! Aber ich habe noch nicht gegessen.«

»Erst essen, das versteht sich.«

Und sie erhob sich und gab ihm sein einfaches Mahl, das sie aus einem gut verschlossenen Schrank in ihrer Stube geholt zu haben schien, denn man hörte das Knacken vieler Schlösser.

»Was giebst du ihm da?« fragte Havelaar.[280]

»O, sei ruhig! Es ist Biskuit aus einer Blechdose von Batavia, und auch der Zucker ist stets hinter Verschluß gewesen.«

Havelaars Gedanken kehrten an den Punkt zurück, von dem sie ausgegangen waren.

»Weißt du wohl,« sagte er, »daß wir die Rechnung dieses Doktors noch nicht bezahlt haben? ... O, das ist sehr schlimm!«

»Lieber Max, wir leben hier so sparsam, bald werden wir alles erledigen können: außerdem, du wirst ja bald Resident werden, und dann ist alles in kurzer Zeit geregelt.«

»Das ist gerade eine Sache, die mir Kummer macht,« sagte Havelaar. »Ich würde ungern Lebak verlassen ... ich werde dir das erklären. Glaubst du nicht, daß wir unseren Max nach der Krankheit noch lieber hatten? Nun, so scheint es mir auch, daß ich das arme Lebak lieb haben werde nach der Genesung von dem Krebsgeschwür, das an ihm frißt seit so viel Jahren. Der Gedanke an Beförderung erschreckt mich, und doch, auf der anderen Seite, wenn ich wieder bedenke, daß wir Schulden haben ...«

»Alles wird gut werden, Max! Und wenn du von hier fort bist, dann kannst du später Lebak helfen, wenn du General-Gouverneur bist.«

Dann kamen wilde Striche in Havelaars Stickereizeichnung. Es lag Zorn in den Blumen, die Knopflöcher waren eckig, scharf, sie bissen einander ...

Tine verstand, daß sie etwas gesagt hatte, was ihm nicht gefiel.

»Lieber Max!« begann sie freundlich.

»Verflucht! ... Willst du sie so lange hungern lassen? Kannst du von Sand leben?«

»Lieber Max!«

Aber er sprang auf. Es wurde diesen Abend nicht mehr gezeichnet. Er ging in der Binnengalerie auf und nieder, und endlich sprach er, in einem Tone, der für jeden Fremden rauh und hart geklungen hätte, der aber von Tine ganz anders aufgefaßt wurde:

»Verflucht die Lauheit, die schändliche Lauheit! Da sitze ich nun seit einem Monat und warte auf Recht, und inzwischen leidet das arme Volk schrecklich. Der Regent scheint darauf zu rechnen, daß sich keiner an ihn heranwagt ... sieh ...«[281]

Er ging in sein Zimmer und kam mit einem Briefe in der Hand zurück, einem Briefe, der jetzt vor mir liegt, Leser! ...

»Sieh, in diesem Briefe wagt er mir Vorschläge zu machen über die Art der Arbeit, die er durch die ungesetzlich herbeigeholten Menschen will verrichten lassen. Ist das nicht die Frechheit zu weit getrieben? Und weißt du, wer das ist? Das sind Frauen mit kleinen Kindern mit Säuglingen, schwangere Weiber, die von Parang-Kudjang an den Hauptort getrieben sind, um für ihn zu arbeiten – Männer giebt's nicht mehr! Und sie selber haben nichts zu essen und sie schlafen auf der Landstraße und essen Sand! Kannst du Sand essen? Sollen sie Sand essen, bis ich General-Gouverneur bin? Verflucht!«

Tine wußte sehr gut, auf wen Max eigentlich böse war, wenn er so sprach zu ihr, die er so lieb hatte.

»Und,« fuhr Havelaar fort, »das geht alles unter meiner Verantwortung. Wenn in diesem Augenblick von diesen armen Wesen einige draußen herumirren und das Licht unserer Lampen sehen, werden sie sagen: Da wohnt der Elende, der uns beschirmen wollte! Da sitzt er ruhig bei Weib und Kind und zeichnet Stickereivorlagen: und wir liegen hier wie die Buschhunde auf dem Wege, um mit unseren Kindern zu verhungern! Ja, ich höre es wohl, ich höre es wohl, das Rachegeschrei über meinem Kopfe! ... Hierher, Max!«

Und er küßte sein Kind mit einer Wildheit, die es erschreckte.

»Mein Kind, wenn man dir sagen wird, daß ich ein Elender bin, der keinen Mut hatte, um recht zu thun, und daß so viele Mütter durch meine Schuld gestorben sind; wenn man dir sagen wird, daß die Schuld des Vaters den Segen von deinem Haupte wegstahl ... o Max, o Max, bezeuge du dann, was ich leide!«

Er brach in Thränen aus, die Tine ihm fortküßte. Sie brachte darauf den kleinen Max in sein Bettchen, eine Strohmatte.

Als sie zurückkam, fand sie Havelaar im Gespräch mit Verbrügge und Düclari, die soeben hereingekommen waren. Das Gespräch drehte sich um die erwartete Entschließung der Regierung.

»Ich begreife sehr wohl, daß der Resident in einer schwierigen Lage ist,« sagte Düclari. »Er kann dem Gouvernement nicht anraten, Ihren Vorstellungen Folge zu geben; denn[282] dann würde zu viel an den Tag kommen. Ich bin schon lange im Bantamschen, und weiß etwas davon, mehr noch als Sie selber, Mijnheer Havelaar! Ich war schon als Unterleutnant in diesen Strichen, und da bekommt man Dinge zu hören, die der Inländer so nicht den Beamten zu sagen wagt. Aber wenn nun, nach öffentlicher Untersuchung, das alles herauskommt, wird der General-Gouverneur den Residenten zur Verantwortung ziehen und ihn fragen, woher es kommt, daß er in zwei Jahren nicht entdeckt hat, was Ihnen sofort aufgefallen ist? Er muß also versuchen, die Geschichte zu verhindern.«

»Ich habe das wohl verstanden,« entgegnete Havelaar, »und aufmerksam gemacht infolge der Versuche, den Adhipatti zu bewegen, gegen mich auszusagen, – wahrscheinlich will er die Frage verschieben, und vielleicht mich, ich weiß nicht welches Vergehens beschuldigen – habe ich mich gedeckt, indem ich Abschriften meiner Briefe direkt an die Regierung schickte. In einem dieser Briefe steht auch die Bitte, zur Verantwortung gezogen zu werden, wenn etwa angegeben werden sollte, daß ich mich in etwas vergangen hätte. Wenn also der Resident von Bantam mich angreift, kann darauf in gewohnter Billigkeit kein Beschluß gefaßt werden, ohne daß man mich zuerst gehört hat, das ist man ja einem Verbrecher schuldig – und da ich nichts verbrochen habe –«

»Da kommt die Post an!« rief Verbrügge.

Ja, es war die Post! Die Post, die den folgenden Brief mitbrachte, von dem General-Gouverneur von Niederländisch-Indien, »an den gewesenen Adsistent-Residenten von Lebak, Havelaar.«


»Kabinett

Nr. 54.

Buitenzorg, den 23. März 1856.


Die Art und Weise, in der durch Sie zu Werke gegangen ist, bei der Entdeckung oder Vermutung von schlechten Praktiken der Häupter im Bezirk Lebak, und die dabei Ihrem Chef, dem Residenten von Bantam, gegenüber eingenommene Haltung haben in hohem Maße meine Unzufriedenheit hervorgerufen.

In Ihren Handlungen werden ebensosehr maßvolle Überlegung, Einsicht und Vorsicht vermißt, die doch so unumgänglich nötig sind bei einem Beamten, der mit Ausübung der Regierung in den Binnenlanden bekleidet ist, wie auch Subordination Ihrem unmittelbaren Vorgesetzten gegenüber.[283]

Schon wenige Tage nach Antritt Ihres Amtes haben Sie es gut finden können, ohne vorherige Ratserholung bei dem Residenten, das Haupt der inländischen Verwaltung zu Lebak zum Objekt belastender Untersuchungen zu machen.

In diesen Untersuchungen haben Sie Anlaß gefunden, ohne Ihre Beschuldigungen gegen jenes Haupt irgendwie durch Fakta, geschweige durch Beweise zu erhärten, schließlich Vorstellungen zu erheben, die das Ziel hatten, einen inländischen Beamten von der Bedeutung des Regenten von Lebak, einen sechzigjährigen, aber noch eifrigen Diener des Landes, mit ansehnlichen nachbarlichen Regentengeschlechtern verwandt und verschwägert, über den stets günstige Berichte eingebracht waren, einer ihn moralisch total vernichtenden Behandlung zu unterwerfen.

Zudem haben Sie, als der Resident sich nicht geneigt zeigte, Ihren Vorstellungen sofort Folge zu geben, sich geweigert, das billige Verlangen Ihres Vorgesetzten zu erfüllen, ihm volle Auskunft zu geben, was Ihnen über die Handlungen der inländischen Verwaltung zu Lebak bekannt war.

Solche Handlungen verdienen alle Mißbilligung und lassen leicht an Ungeeignetheit glauben, ein Amt in der binnenländischen Verwaltung zu bekleiden.

Ich habe mich verpflichtet gesehen, Sie von der ferneren Wahrnehmung des Amtes eines Adsistent- Residenten von Lebak zu entheben.

Aus Anerkennung der früheren über Sie erhaltenen günstigen Berichte indessen habe ich in dem Vorgefallenen keinen Grund finden wollen, Ihnen die Aussicht auf eine Wiederanstellung bei der binnenländischen Verwaltung zu benehmen. Ich habe Sie deshalb vorläufig beauftragt mit der Wahrnehmung des Amtes eines Adsident-Residenten von Ngawi.

Von Ihrem ferneren Verhalten in dieser Stellung wird es abhängen, ob Sie bei der binnenländischen Verwaltung angestellt bleiben können.«


Und darunter stand der Name des Mannes, auf dessen Eifer, Geschick und gute Treue der König sagte sich verlassen zu können, als er seine Ernennung zum General-Gouverneur von Niederländisch-Indien unterzeichnete.

»Wir gehen von hier fort, beste Tine!« sagte Havelaar, und reichte diesen Kabinettsbrief Verbrügge hinüber, der ihn mit Düclari zusammen las.

Verbrügge hatte Thränen in den Augen, aber sagte nichts.[284] Düclari, ein sehr geblideter Mensch, brach in einen wilden Fluch aus:

»Gott verdamm mich! Ich habe hier Gauner und Diebe in der Verwaltung gesehen ... sie sind in Ehren abgegangen, und Ihnen schreibt man solch einen Brief!«

»Es ist nichts,« sagte Havelaar, »der General-Gouverneur ist ein ehrlicher Mann ... er muß betrogen sein ... wenn er sich auch hätte vor dem Betrug hüten ... mich erst hätte hören sollen. Aber ich werde zu ihm gehen und ihm erklären, wie hier die Dinge stehen ... er wird Gerechtigkeit üben, des bin ich gewiß.«

»Aber wenn Sie nach Ngawi gehen?«

»Jawohl, ich weiß. Zu Ngawi ist der Regent mit dem Djokjokartschen Hof verwandt. Ich kenne Ngawi. Ich war zwei Jahre lang zu Bagelen. Ich würde zu Ngawi dasselbe thun müssen, was ich hier gethan habe. Es hat keinen Zweck, hin und her zu reisen. Überhaupt ist es für mich unmöglich, Dienst auf Probe zu thun, als ob ich mich schlecht geführt hätte: – und endlich, ich sehe ein, daß ich, um all diesem Betrug ein Ende zu machen, kein Beamter zu sein brauche. Als Beamter stehen zwischen mir und der Regierung zu viele Personen, die ein Interesse daran haben, das Elend des Volkes zu leugnen. Es sind noch mehr Gründe, die mich abhalten, nach Ngawi zu gehen. Die Stelle war gar nicht vakant, sie ist erst für mich frei gemacht worden, sehen Sie!«

Und er zeigte im »Javaschen Courant,« der eben mit der Post angekommen war, daß in der That durch denselben Beschluß der Regierung, der ihm die Verwaltung von Ngawi übertragen hatte, der Adsistent-Resident dieses Platzes in einen anderen Bezirk versetzt worden war, der gerade vakant war.

»Wissen Sie, warum ich gerade nach Ngawi soll und nicht nach dem vakanten Bezirk? Der Resident von Madiun, wozu Ngawi gehört, ist der Schwager des früheren Residenten von Bantam. Ich habe gesagt, daß hier immer eine so schändliche Wirtschaft geherrscht hat, daß der Regent früher so schlechte Beispiele gesehen hat ...«

»Ah!« riefen Verbrügge und Düclari zu gleicher Zeit. Sie verstanden, warum Havelaar gerade nach Ngawi versetzt[285] wurde, um auf Probe zu dienen, ob er sich etwa bessern werde.

»Und aus noch einem anderen Grunde kann ich nicht dahin gehen,« sagte er. »Der jetzige General-Gouverneur wird bald abgehen – seinen Nachfolger kenne ich nicht und weiß nicht, was von ihm zu erwarten steht. Wenn ich also noch rechtzeitig etwas für das arme Volk thun will, muß ich den jetzigen Gouverneur sprechen, bevor er abgeht, und das wäre unmöglich, wenn ich jetzt nach Ngawi ginge ... Tine!«

»Lieber Max?«

»Du hast Mut, nicht wahr?«

»Max, du weißt, daß ich Mut habe, wenn ich bei dir bin.«

»Also!«

Er erhob sich und schrieb folgenden Brief, nach meiner Ansicht ein Muster von Beredsamkeit.


Rangkas-Betung, den 29. März 1856.


An den General-Gouverneur

von Niederländisch-Indien.


Ich hatte die Ehre, Euer Excellenz Kabinettsmissive vom 23. dieses Nr. 54 zu erhalten.

Ich sehe mich genötigt, antwortlich dessen, Eure Excellenz zu ersuchen, mir einen ehrenvollen Abschied aus des Landes Dienst zu gewähren.

(gez.) Max Havelaar.


Zur Genehmigung des verlangten Abschieds war in Buitenzorg nicht so lange Zeit nötig, wie man gebraucht hatte, um schlüssig zu werden, wie man Havelaars Anklage abwenden könnte. Das hatte doch einen ganzen Monat gedauert, und die erbetene Entlassung kam binnen wenigen Tagen in Lebak an.

»Gott sei Dank!« rief Tine. »Jetzt kannst du endlich du selbst sein!«

Havelaar empfing keinen Auftrag, die Verwaltung des Bezirks einstweilen an Verbrügge zu übertragen. Er wartete deshalb auf seinen Nachfolger. Dieser blieb lange aus, weil er aus einem ganz anderen Winkel von Java kommen mußte. Nach beinahe drei Wochen Wartens schrieb der gewesene Adsistent-Resident von Lebak, der indes immer noch als solcher amtiert hatte, den folgenden Brief an den Kontroleur Verbrügge:
[286]

Nr. 153.

Rangkas-Betung, den 15. April 1856.


An den Kontroleur von Lebak.


Es ist Ihnen bewußt, daß ich durch Gouvernementsbeschluß vom 4. dieses, Nr. 4, auf mein Ersuchen ehrenvoll meines Amtes enthoben bin.

Es wäre vielleicht mein Recht gewesen, nach Empfang dieses Bescheides mein Amt als Adsistent-Resident niederzulegen, da es als eine Anomalie erscheint, eine Funktion zu erfüllen, ohne Beamter zu sein.

Ich empfing indessen keine Anweisung, mein Amt zu übergeben, und teils in Rücksicht auf die Verpflichtung, meinen Posten nicht zu verlassen, ohne richtig abgelöst zu sein, teils aus Gründen von untergeordneter Bedeutung erwartete ich die Ankunft meines Nachfolgers, da ich der Meinung war, daß dieser Beamte baldigst, wenigstens noch diesen Monat eintreffen werde.

Jetzt erfahre ich von Ihnen, daß mein Nachfolger noch nicht so bald erwartet werden kann. Sie haben, meine ich, die Nachricht zu Serang gehört, und ferner, daß es den Residenten wundert, daß ich in der sehr eigenartigen Lage, in der ich bin, noch nicht darum ersucht habe, die Verwaltung an Sie übertragen zu dürfen.

Nichts konnte mir angenehmer sein als dieser Bericht. Denn ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß ich, der erklärt hat, nicht anders dienen zu können, als ich hier diente, ich, der ich für diese Art und Weise gestraft worden bin mit einem Verweis, mit einer ruinierenden und entehrenden Strafversetzung, und mit der Zumutung, die armen Leute zu verraten, die auf meine Ehrlichkeit vertrauten, also mit der Wahl zwischen Ehrlosigkeit und Hunger – daß ich nach allem diesem mit Mühe und Sorge jeden vorkommenden Fall an meinem Pflichtgefühl zu prüfen hatte; und daß die einfachste Sache mir schwer fiel, da ich zwischen meinem Gewissen und den Prinzipien des Gouvernements stehe, dem ich immer noch Treue schulde, so lange ich nicht meines Amtes enthoben bin.

Diese Schwierigkeit zeigte sich vor allem, wenn ich Klägern Antwort zu geben hatte.

Einmal hatte ich doch versprochen, keinem der Rache seiner Häupter auszuliefern, – auf der anderen Seite hatte ich, unvorsichtig genug, mein Wort als Bürge gegeben für die Rechtschaffenheit des Gouverneurs.[287]

Das arme Volk konnte nicht wissen, daß dieses Versprechen und diese Bürgschaft desavouiert war, und daß ich arm und ohnmächtig allein stand mit meinem Streben nach Recht und Menschlichkeit.

Und sie fuhren mit ihren Klagen fort.

Es war schrecklich, nach dem Empfang der Kabinettsmissive vom 23. März, dazusitzen als vermeintliche Zuflucht, als machtloser Beschützer.

Es war herzzerreißend, die Klagen über Mißhandlung, Aussaugung, Armut, Hunger anzuhören, während ich selbst mit Weib und Kind dem Hunger und der Armut entgegengehe.

Und auch das Gouvernement mochte ich nicht verraten. Ich konnte zu den armen Leuten nicht sagen: geht und leidet, denn die Regierung will, daß ihr ausgepreßt werdet!

Ich mußte meine Ohnmacht bekennen, da sie zusammenkam mit der Schande und der Gewissenlosigkeit der Räte des General-Gouverneurs.

Sehen Sie hier, was ich antwortete:

»Jetzt kann ich euch nicht helfen, aber ich werde nach Batavia gehen, ich werde mit dem großen Herrn sprechen über euer Elend. Er ist rechtschaffen und wird euch beistehen. Geht einstweilen ruhig heim, empört euch nicht, flieht noch nicht, wartet geduldig ab: ich denke ... ich hoffe, es soll noch Recht geschehen!«

So meinte ich, beschämt über die Verletzung meiner Hilfsversprechungen, meine Gedanken in Einklang zu bringen mit meiner Pflicht gegen die Regierung, die mir noch diesen Monat bezahlt, und ich wäre dann nach dem Eintreffen meines Nachfolgers fortgegangen, wenn nicht ein besonderer Vorfall mich heute nötigte, mit diesem doppelsinnigen Verhalten ein Ende zu machen.

Sieben Leute hatten geklagt. Ich gab ihnen obenstehende Antwort. Sie kehrten in ihr Dorf zurück. Unterwegs trifft sie das Dorfhaupt. Er soll ihnen verboten haben, ihren Kampong wieder zu verlassen, und nahm ihnen, wie man mir berichtet, die Kleider ab, um sie zu zwingen, zu Hause zu bleiben. Einer von ihnen ist entwischt, kommt wieder zu mir und erklärt, sich nicht nach dem Dorfe zurück zu wagen!

Was ich nun diesem Manne antworten soll, weiß ich nicht!

Ich kann ihn nicht beschützen; ich darf ihm meine Ohnmacht nicht gestehen; ich will das angeklagte Dorfhaupt nicht[288] verfolgen, da solches den Schein auf mich werfen würde, als wäre das alles zu Gunsten meiner Sache von mir angestiftet – ich weiß nicht mehr, was zu thun ist ...

Ich beauftrage Sie, unter späterer Bestätigung des Residenten von Bantam, mit der Verwaltung des Bezirks Lebak.

Der Adsistent-Resident von Lebak.

(gez.) Max Havelaar.


Darauf verzog Havelaar mit Weib und Kind von Rangkas-Betung. Er lehnte alles Geleit ab. Düclari und Verbrügge waren tief gerührt bei dem Abschied. Auch Max war ergriffen, besonders als er am ersten Wechselplatz eine zalreiche Menge fand, die aus Rangkas-Betung fortgeschlichen war, um ihn da zum letztenmal zu begrüßen.

Zu Serang stieg die Familie bei Herrn Slijmering ab, der sie mit der gewohnten indischen Gastfreiheit empfing.

Am Abend kam viel Besuch zum Residenten. Man sagte, gekommen zu sein, um Havelaar zu begrüßen, und Max empfing manchen vielsagenden Händedruck ...

Aber er mußte nach Batavia, um den Gouverneur zu sprechen.

Dort angekommen, ließ er um Gehör bitten. Das wurde ihm abgeschlagen, weil Seine Excellenz ein Geschwür am Fuße hatten.

Havelaar wartete, bis das Geschwür geheilt war. Dann ließ er zum zweitenmal bitten, gehört zu werden.

Seine Excellenz »hatten so viel zu thun, daß sie selbst dem Generaldirektor der Finanzen eine Audienz hatten abschlagen müssen, und konnten daher Havelaar nicht empfangen«.

Havelaar wartete, bis Seine Excellenz sich durch die viele Arbeit hindurchgewühlt haben würden. Inzwischen fühlte er etwas wie Neid auf die Leute, die Seiner Excellenz für die Arbeit unterstellt waren; denn er arbeitete gern und schnell, und schmolz solche »viele Arbeit« unter seiner Hand bald dahin. Davon konnte natürlich keine Rede sein. Havelaars Arbeit war schwerer als Arbeit ... er wartete!

Er wartete. Endlich ließ er wieder im Gehör bitten. Man gab ihm die Antwort, daß Seine Excellenz ihn nicht empfangen könne, weil er daran verhindert war durch die »vielen Geschäfte,« die seine Abreise mit sich brachte.

Max empfahl sich der Gnade Seiner Excellenz um eine halbe Stunde Gehör, sobald eine kleine freie Zeit zwischen zwei »Arbeitsüberhäufungen« sein würde.[289]

Endlich hörte er, daß Seine Excellenz am folgenden Tage abreisen würde! Das war ein Donnerschlag für ihn. Noch immer hielt er krampfhaft an dem Glauben fest, daß der abtretende Landvogt ein ehrlicher Mann war, den man betrogen hatte. Eine Viertelstunde wäre genug gewesen, um die Rechtfertigkeit seiner Sache zu beweisen, und diese Viertelstunde schien man ihm nicht geben zu wollen.

Ich finde unter Havelaars Papieren das Konzept eines Briefes, den er an den abziehenden General-Gouverneur geschrieben zu haben scheint, am letzten Abend vor dessen Rückkehr ins Mutterland. Am Rande steht mit Bleistift vermerkt »nicht genau,« woraus ich vermute, daß er beim Abschreiben noch einige Sätze verändert hat. Ich merke das an, um nicht, aus dem Mangel buchstäblicher Übereinstimmung in diesem Stück, Verdacht entstehen zu lassen an der Echtheit der übrigen offiziellen Stücke, die ich mitteilte, und die alle durch eine fremde Hand »als gleichlautend mit dem Original« bezeichnet sind. Vielleicht hat der, der diesen Brief empfing, Lust, den richtigen Text zu veröffentlichen; dann wird man durch Vergleichung ersehen können, inwieweit Havelaar von seinem Konzept abgewichen ist.


Batavia, 23. Mai 1856.


Excellenz! Mein von Amts wegen geschehenes Ersuchen vom 28. Februar, in betreff der Lebakschen Angelegenheiten gehört zu werden, ist ohne Folge geblieben.

Ebenso haben Eure Excellenz nicht beliebt, meine Bitte zu erfüllen, als ich wiederholt um eine Audienz ersuchte.

Eure Excellenz haben also einen Beamten, der bei dem Gouvernement in günstiger Weise bekannt war – Eurer Excellenz eigene Worte – jemand, der dem Lande siebzehn Jahre lang in diesen Gegenden diente, einen Mann, der nicht allein keines Verbrechens schuldig ist, der vielmehr mit sonst nicht bekannter Selbstverleugnung das Gute im Auge hatte – der für Ehre und Pflicht alles opferte – einen solchen Mann haben Eure Excellenz unter den Missethäter gestellt, denn den hört man wenigstens.

Daß man Eurer Excellenz über mich falsch berichtet hat, begreife ich – aber daß Eure Excellenz nicht die Gelegenheit ergriffen haben, um dem zu entgehen, begreife ich nicht.

Morgen reisen Eure Excellenz von hier ab und ich kann Sie nicht abziehen lassen, ohne noch einmal gesagt zu haben,[290] daß ich meine Pflicht gethan habe – ganz und gar meine Pflicht, mit Einsicht, mit maßvoller Überlegung, mit Menschenliebe, mit Milde und mit Mut.

Die Gründe, auf denen die Mißbilligung in Eurer Excellenz Kabinettsmissive vom 23. März beruht, sind von Anfang bis zu Ende erdichtet und erlogen.

Ich kann das beweisen, und das wäre längst geschehen, wenn Eure Excellenz mir eine halbe Stunde hätten Gehör schenken wollen, wenn Eure Excellenz eine halbe Stunde Zeit hätten finden können, um Recht zu thun.

Das haben Sie nicht gethan. Eine anständige Familie ist dadurch an den Bettelstab gebracht.

Indessen darüber klage ich nicht.

Aber Eure Excellenz haben das System des Raubes und Mordes, des Amts- und Machtmißbrauchs sanktioniert, unter dem der arme Javane gebückt geht. Und darüber klage ich.

Das schreit zum Himmel!

Es klebt Blut an den übrig behaltenen Pfennigen von dem dafür erhaltenen indischen Gehalt, Excellenz.

Noch einmal bitte ich um einen Augenblick Gehör, sei es diese Nacht, sei es morgen früh! Und wiederum bitte ich nicht für mich, sondern für die Sache, die ich vertrete, die Sache der Rechtlichkeit und Menschlichkeit, die gleichzeitig auch die Sache wohlverstandener Politik ist.

Wenn Eure Excellenz es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, von hier abzureisen, ohne mich zu hören, – mein Gewissen wird ruhig sein in der Überzeugung, alles, was möglich war, gethan zu haben, um den trauervollen, blutigen Ereignissen zuvorzukommen, die bald die Folge sein werden der eigenwilligen Unkenntnis, in der die Regierung gelassen wird, im Hinblick auf das, was im Volke vorgeht.

(gez.) Max Havelaar.


Havelaar wartete diesen Abend. Er wartete die ganze Nacht. Er hatte gehofft, daß vielleicht der Ärger über den Ton seines Briefes bewirken würde, was er vergebens mit Milde und Geduld zu erreichen gesucht hatte.

Seine Hoffnung war eitel. Der General-Gouverneur zog ab, ohne Havelaar gehört zu haben – es war wieder eine Excellenz zur Ruhe gegangen in das Mutterland!

Havelaar irrte arm und verlassen umher. Er suchte ...


* * *


[291] Genug, mein guter Stern! Ich, Multatuli, nehm die Feder auf. Du bist nicht berufen, Havelaars Lebensgeschichte zu schreiben. Ich habe dich ins Leben gerufen, ich ließ dich von Hamburg kommen, ich brachte dir leidliches Holländisch bei, in sehr kurzer Zeit; ich ließ dich Luise Rosemeyer küssen, die in Zucker macht – es ist genug, Stern, du kannst gehen!


* * *


Dieser Shawlmann und seine Frau ...

Halt, du elendes Produkt von schmutziger Geldsucht und gotteslästerlicher Heuchelei! Ich habe dich geschaffen – du bist zu einem Ungeheuer ausgewachsen unter meiner Feder – mich ekelt vor meinem eigenen Geschöpfe – ersticke in Kaffee und verschwinde!


* * *


Ja, ich, Multatuli, »der ich viel getragen habe,« ich nehme jetzt die Feder in die Hand! Ich verlange keine Nachsicht für die Form meines Buches ... diese Form schien mir geeignet, mein Ziel zu erreichen.

Dies Ziel ist doppelt.

Zum ersten wollte ich etwas schaffen, was als heilige Pusaka wird bewahrt werden können von dem »kleinen Max« und seinem Schwesterchen, wenn ihre Eltern werden umgekommen sein vor Elend.

Ich wollte diesen Kindern einen Adelsbrief geben von meiner Hand.

Und zum zweiten: ich will gelesen werden!

Ja, ich will gelesen werden! Ich will gelesen werden von Politikern, deren Pflicht ist, auf die Zeichen der Zeit zu achten, – von Litteraten, die doch wohl auch einmal das Buch zur Hand nehmen müssen, von dem man so viel Schlechtes spricht; – von Händlern, die Interesse haben an den Kaffeeversteigerungen; – von Kammerjungfern, die mich für wenige Cent aus der Leihbibliothek entnehmen, – von General-Gouverneuren im Ruhestande und von Ministern im Amte, – von den Lakaien dieser Excellenzen, – von Bittpredigern, die »nach altem Brauche« sagen werden, daß ich den allmächtigen Gott angreife, wo ich doch nur gegen den Gott ausstehe, den sie sich machten nach ihrem Vorbild, – durch die Mitglieder der Volksvertretung, die wissen[292] müssen, was da vorgeht in dem großen Reiche über See, das gehört zu dem Reiche Niederland ...

Ja, ich werde gelesen werden!

Wenn das Ziel erreicht ist, werde ich zufrieden sein. Denn es war mir nicht darum zu thun, gut zu schreiben – ich wollte schreiben, sodaß es gehört wird; – wie einer, der »Halt den Dieb!« ruft, sich wenig um den Stil seiner improvisierten Anrede an das Publikum kümmert, so ist es auch mir ganz gleichgültig, wie man die Art und Weise beurteilen wird, auf die ich mein »Halt den Dieb!« hinausgeschrien habe.

»Das Buch ist bunt zusammengewürfelt – es fehlt an Disposition – Effekthascherei – der Stil ist schlecht – der Schreiber ist ein Anfänger – kein Talent – keine Methode –«

Schön! schön! alles sehr schön – aber der Javane wird mißhandelt!

Denn eine Widerlegung der Tendenz meines Werkes ist unmöglich!

Je lauter übrigens der Tadel, die Mißbilligung meines Buches, je lieber soll es mir sein, desto größer wird ja die Aussicht, gehört zu werden – und das will ich.

Doch ihr, die ich störe in eurer »Überlastung« und in eurer »Ruhe,« Minister und General-Gouverneure! rechnet nicht so stark auf die Ungeübtheit meiner Feder. Sie kann sich vielleicht noch üben, und mit einiger Anstrengung kann sie es vielleicht zu einer Fertigkeit bringen, die dem Volk selbst die Wahrheit glaubhaft machen könnte. Dann werde ich vielleicht das Volk um einen Sitz in der Volksvertretung bitten, und wäre es auch nur, um die Zeugnisse der Rechtschaffenheit zu beleuchten, die die indischen Spezialitäten und Autoritäten sich gegenseitig austeilen, vielleicht um sich schließlich den sonderbaren Gedanken einzuimpfen, daß sie selber auf diese Qualität Wert legen; – um zu protestieren gegen die endlosen Feldzüge und Heldenthaten gegen arme elende Geschöpfe, die man vorher durch Mißhandlung zum Aufstand zwang; – um zu protestieren gegen die schandbare Feigheit der Cirkulare, die die Ehre der Nation beflecken, indem sie die öffentliche Liebesthätigkeit aufrufen für die Opfer des chronischen Seeraubs!

Freilich, die Aufständischen waren arme verhungerte Gerippe und die Seeräuber sind wehrhafte Männer ...[293]

Und wenn man mir den Sitz verweigerte – wenn man mir fortgesetzt nicht glaubte? ...

Dann werde ich mein Buch übersetzen in die wenigen Sprachen, die ich kenne – und in die vielen, die ich noch lernen kann, und ich werde von Europa verlangen, was ich in Niederland vergeblich gesucht habe.

Und in allen Hauptstädten werden Lieder gesungen werden mit Refrains wie der:

»Es liegt ein Raubstaat an der See, zwischen Ostfriesland und der Schelde!«

Und wenn das auch nicht hülfe? ...

Dann werde ich mein Buch übersetzen in das Malayische, Javanische, Sundasche, Alfursche, Bugineesche, Battahsche ...

Und ich werde Klewang-wetzende Kriegslieder in die Gemüter der Märtyrer werfen, denen ich Hilfe zugesagt habe, ich, Multatuli.

Rettung und Hilfe, auf rechtmäßigem Wege, wenn es sein kann, – auf dem gesetzlichen Wege der Gewalt, wenn es sein muß.

Und das würde dann sehr nachteilig wirken auf die Kaffeeversteigerungen der Niederländischen Handelsgesellschaft!

Denn ich bin kein fliegenrettender Dichter, kein sanfter Träumer, wie der getretene Havelaar, der seine Pflicht that mit Löwenmut, und Hunger litt mit der Geduld eines Murmeltiers im Winter.

Dies Buch ist eine Einleitung ...

Ich werde zunehmen an Kraft und Waffen, je nachdem es nötig sein wird.

Gebe Gott, daß es nicht nötig sei! ...


* * *


Nein! es wird nicht nötig sein! Denn vor Dir lege ich mein Buch nieder, Willem der Dritte, König, Großherzog, Prinz – mehr als Prinz, Großherzog und[294] König: Kaiser des prächtigen Reiches Insulinde, das sich, wie ein Gürtel von Smaragd, um den Äquator schlingt! ...

Dich frage ich mit Vertrauen, ob es Dein kaiserlicher Wille ist:


Daß die Havelaar beschmutzt werden durch den Schlamm der Slijmeringe und Droogstoppel; –


und daß da drüben Deine mehr als dreißig Millionen Unterthanen mißhandelt und ausgesogen werden in Deinem Namen? ...[295]

Quelle:
Multatuli (Eduard Douwes Dekker): Max Havelaar. Halle a. d. S[aale] [o. J.], S. 279-296.
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