Siebentes Capitel
Im Clara-Kloster

[147] Mitten im lebenslustigen, geschäftig bewegten Nürnberg hatte doch der fromme weibliche Sinn, der allem eitlen Welttreiben für immer entsagen und in ein beschauliches, nur dem Dienst der Heiligen gewidmetes Stillleben sich zurückziehen wollte, eine sichere Zufluchtsstätte gefunden. Das Kloster der heiligen Clara, das auf der Lorenzer Seite recht im Herzen der Stadt sich erhob, war ein stilles Asyl, das gerade von den Jungfrauen der edelsten Geschlechter Nürnbergs gewählt ward, und darum auch nicht nur zu den reichdotirtesten, sondern auch zu denjenigen Klöstern gehörte, die noch den alten Ruf edler Sittenstrenge und wahrer Frömmigkeit bewahrten, wie auch den: Pflanzstätten der Künste und Wissenschaften zu sein.

Die Schwestern des Clara-Klosters waren wohl erfahren in allen weiblichen Handarbeiten, die Geschicklichkeit[147] und Ausdauer erforderten. Sie stickten und webten herrliche Gobelins zum Schmuck ihrer Kirche, und sandten auch manche dieser Arbeiten aus den Klostermauern hinaus. Viele Nonnen übten die Kunst der Miniaturmalerei, deren Gegenstände kleine Heiligenbilder waren, mit einer Kunstfertigkeit, die mit der der besten Nürnberger Meister wetteiferte. Andere befleißigten sich des Schreibens und Lesens, und waren im Lateinischen und Griechischen so zu Hause, als sei es ihre Muttersprache gewesen. Gehörte doch auch die Bibliothek des Klosters ihre Studien zu begünstigen, sowohl durch die Zahl alter Handschriften als neuer gedruckter Bücher, mit zu den ausgezeichnetsten, welche die Stadt besaß.

Charitas Pirkheimer hatte geeilt ihr Gelübde auszuführen und weilte bereits als Novize in diesem Kloster.

In dem von hohen Mauern umgebenen Garten desselben, über welche nur wirr und fern das Geräusch des Städtelebens herein schallte, ging Charitas einsam auf und nieder in stilles Sinnen verloren. Der entsagende Ausdruck, welchen ihr Gesicht immer gehabt, war nicht nur allein durch die graue Novizentracht erhöht,[148] in welcher sie erschien, sondern durch Thränen der Wehmuth, die in ihren Augen glänzten.

Der Abend auch erschien wie zum Sinnen und Weinen. Es war so still im Klostergarten, daß auch nicht das kleinste Lüftchen wagen konnte in den Zweigen der Bäume und Gesträuche zu spielen, kein Blatt getraute sich mit dem andern zu flüstern und zu säuseln und kaum ein Schmetterling zu einer Blume zu fliegen. Im Süden hatten sich drohende Gewitterwolken aufgethürmt und hingen über die hohen grauen Mauern herein, aber im Westen glühte ein sanftes Abendroth gleich einem Vorhange, den die sinkende Sonne zwischen sich und dem dräuenden Wetter gezogen. Ein einsames Vögelchen saß auf einer hohen blaugrauen Ulme, deren Wipfel die Klostermauern überragte. Es schaute und flatterte nach hüben und drüben und schien mit leise zwitschernden Stimmchen zu fragen: ob es sich besser wohne im Frieden dieses Gartens oder draußen im freien Wald, wo es viele Genossen gab, aber auch das tückische Feuerrohr beutelustiger Jäger, Netze und Stellhölzlein böser Buben, gierige Raubvögel und allerlei Fährlichkeiten.

Eine ältere Nonne hatte Charitas von fern mit[149] theilnehmenden Blicken beobachtet. Jetzt trat sie zu ihr, reichte ihr die weiße magere Hand und sagte:

»Mein Kind, nützet die Tage wohl, die Euch zur Bedenkzeit gegeben sind! Ich höre, daß weder Eltern-noch Verwandten-Wille, noch irgend eine äußere Noth des Lebens Euch hierher gebracht, sondern daß Ihr aus freier Wahl begehrt hab't in unsere Gemeinschaft zu treten. Ehe Ihr es aber thut, prüfet Euch wohl, daß Ihr Euch selbst nicht betrüget!«

»Schwester Ulrike,« antwortete Charitas mit einem dankenden Händedruck, »Ihr waret die erste, die mir außer der Priorin in diesen Mauern mit milder Theilnahme entgegenkam. In Euren Zügen las ich auch den Himmelsfrieden, den ich hier zu finden hoffe, in Euch erblickte ich das Vorbild, dem ich nachzustreben mich bemühen will.«

»Ich danke Euch für Eure gute Meinung,« antwortete Ulrike mit sanfter Innigkeit und einem etwas fremd- aber wohlklingenden Idiom, das Charitas schon von einer andern Person gehört, und das weit entfernt gut nürnbergisch zu lauten, ihr das wohlklingendste zu sein schien, das es geben konnte. »Ich wünschte wohl,« fuhr Ulrike fort, »diese gute Meinung zu verdienen und ebenso, daß Ihr mir sie für die Dauer[150] bewahren möchtet. Aber ich kann keinen Anspruch darauf machen; hinter mir liegt ein langes und reiches Leben voll Versuchung und Sünde, voll Kampf und Buße – nicht nur als eine Entsagende, als eine Büßende kam ich hierher. In zwölf Jahren voll Buße und Entsagung, die ich hier verbracht, hat sich zwar mein Sinn geläutert und ist mein Vertrauen auf die Gnade unsers Erlösers zu der festen Ueberzeugung geworden, daß er allen Fehlenden vergiebt, wenn sie unablässig streben ihre Fehler abzulegen und zu sühnen, und die Tage, die mir hier unter Arbeit und Gebet verfließen, ziehen nicht ungenützt für mein Seelentheil an mir vorüber; aber so lange es für uns in der Welt noch ein theures Wesen giebt – so lange, sage ich Euch, ist es nicht leicht sich in diesen Mauern lebendig zu vergraben und für das ganze Erdendasein aus seinem Lebenskreis gebannt zu bleiben.«

Charitas erröthete da sie diese Worte vernahm, und sah die Sprecherin derselben schmerzlich befremdet an.

Ulrike hatte vorhin die schwärmerischen blauen Augen niedergeschlagen, jetzt begegnete sie mit einem Lächeln den fragenden Blicken und sagte; »Vergesset nicht, daß eine alte Matrone zu Euch spricht. Mit[151] fünfzig Jahren hat man andere Gefühle als Ihr mit zwanzig oder dreißig, aber ich kann noch beurtheilen, wie man in jüngeren Jahren empfindet – und wenn es Bande auf der Welt giebt, die man auch im Alter nicht schmerzlos zerreißt, so sehet zu, daß Ihr nicht vielleicht nur weil ein kurzer Lebenstraum Euch zerstört ward, hier nur einen Zustand von Schlaf und Ruhe sucht – Ihr werdet ihn nicht finden!«

»Hört mich an! sagte Charitas, »ich will Euch Alles getreulich beichten – Ihr werdet dann auch sagen, daß ich nicht anders kann!« Ruhiger fuhr sie fort: »Mein Vater Pirkheimer war, wie Ihr vielleicht gehört habt, einer der angesehensten und reichsten Rechtsgelehrten dieser Stadt. Nichts mangelte den Seinen zum edelsten Genuß des Lebens, aber eben zu diesem befähigte er uns, seine Kinder durch den Unterricht, den er uns angedeihen ließ. Wir Schwestern lernten mit unserem Bruder Willibald um die Wette, und kannten bald kein größeres Glück, als mit ihm den Wissenschaften obzuliegen, und da er von uns schied, erst um zu dem Bischof von Eichstätt zu gehen, jetzt später um in Italien zu studiren, da dacht' ich schon immer, um wie viel glücklicher er daran war als wir Schwestern, da es genug Leute gab, welche uns aus[152] unserer Gelehrsamkeit noch einen Vorwurf machten und sie unverträglich nannten mit der weiblichen Bestimmung. Dagegen lehnte ich mich frühe auf; ich fühlte weder Neigung noch Verpflichtung mich zu verheirathen, und der höchste Wunsch für mein Leben war eben nur der, in beschaulicher Stille mit meinen Büchern allein und ungehindert in meinen Studien zu sein. Meine Schwester Clara theilte diesen Hang, und da wir unsere Eltern verloren, Willibald aber in die Fremde zog, so haben wir still für uns nur den Wissenschaften gelebt. Schon zuweilen tauchte der Gedanke in uns auf: um das in der würdigsten Weise zu können, in dieses Kloster einzutreten, aber wir zögerten noch vor dem entscheidenden Schritt für das Leben, der dann nie wieder zurück zu nehmen ist. Vielleicht trug auch eine unserer trefflichsten Freundinnen Frau Elisabeth Scheurl mit Schuld, daß wir zu keinem Entschluß kamen: denn sie meinte, daß nur ganz alte und gebrechliche Leute, die der Welt weiter nichts nützen könnten, ein Recht hätten, sich vor der Welt zu flüchten und in Klostermauern zu vergraben. Sie war immer bemüht neben der Wissenschaft auch der Kunst zu huldigen, und so hatte sie auch uns mit andern Nürnberger Jungfrauen um sich vereinigt, für die St. Lorenzkirche zu sticken.[153] Diese Arbeit führte uns öfter in die Kirche und mit den daran bauenden Baubrüdern zu gemeinschaftlichen Berathungen zusammen. Von einem derselben hatte mein Bruder schon mit warmer Anerkennung, als von einem echten Künstler gesprochen, und als ich ihn selbst und seine Werke sah, fand ich Alles bestätigt. Da geschah es vor nicht langer Zeit, daß ein Gerüst am Thurme zusammenbrach, und indeß ein Baubruder in Todesgefahr auf dem Thurme schwebte, eben jener sich selbst, um ihn zu retten, in noch viel größere Todesgefahr begab. Da betete ich für sein Leben, und gelobte mich dem Kloster, wenn seine That gelingen und er das schwere Wagestück bestehen werde – und in der Verzweiflung, die ich bei der Gefahr dieses Einen mehr als bei der des Andern empfand, erkannte ich, daß ich – die noch nie einen Mann geliebt, die das nie für möglich gehalten – daß ich diesen Baubruder liebe! – Hoffentlich hat weder ein Blick noch ein Wort mich ihm verrathen, aber da seine That gelang, so bin ich nun doppelt verpflichtet, mein Gelübde zu halten.« Sie neigte ihr Haupt an Ulrikens Schulter und fühlte sich erschöpft von diesem Geständniß.

»Unglückliches Mädchen!« rief Ulrike sanft; »ein Baubruder darf Eure Empfindungen nicht erwiedern,[154] und wehe ihm, wenn er es trotzdem thut oder gethan hat!«

»Nein, nein!« rief Charitas; »er ahnt nichts davon, er soll es niemals ahnen, nie erfahren! Aber was mich am meisten schmerzt, ist, daß Elisabeth Scheurl ihn auch liebt und daß auch ihr gegenüber Ulrich von Straßburg vielleicht –«

Ein Schrei der Nonne unterbrach die Geständnisse der Novize. »Ulrich von Straßburg!« rief sie; »höre ich recht, Ulrich von Straßburg, sagtet Ihr wirklich so?«

»So nennt man ihn,« antwortete Charitas und sah mit Bestürzung die plötzliche Aufregung der Matrone.

Mit gepreßter Stimme, der man die innere Bewegung anhörte, fragte diese wieder: »Schildert mir, wie er aussieht.«

Erröthend willfahrte Charitas: »Er ist lang und schlank gewachsen und von edler Haltung; seine blauen Augen strahlen von dem Feuer echter Begeisterung; seine Stirn ist sanft gewölbt und hohe Gedanken scheinen auf ihr zu thronen; sein Haar ist braun und üppig, er trägt es halblang und gescheitelt; seine Nase ist schön geformt, weder groß noch klein, mit der Stirn eine gerade Linie bildend – gerade so wie bei Euch –«[155]

Ulrike hatte mit Spannung zugehört. Die letzten Worte, die Charitas arglos sagte, nur um sich die Beschreibung zu erleichtern, erinnerten Ulrike daran, daß sie sich fassen müsse, wenn sie sich nicht selbst verrathen wollte. Sie sagte darum: »Ich habe einen Knaben Ulrich gekannt, von dem ich hörte, daß er sich später als Baubruder nach seiner Heimath von Straßburg genannt – ich wußte nicht, daß er hier sei.«

»Er baut seit zwei Jahren mit an der Lorenzkirche – und jetzt wohnt er hier ganz nahe im Claragäßlein,« berichtete Charitas.

»Ganz nahe?« wiederholte Ulrike, und es war ihr, als müsse ihr das Herz zerspringen. »Wie hoch schätzt Ihr sein Alter?« fragte sie, um doch noch einen neuen Beweis für ihre plötzliche Entdeckung zu haben.

»Ich weiß es nicht genau,« antwortete die Novize, »zwischen Fünfundzwanzig und Dreißig.«

»Erzählt mir mehr von ihm,« sagte Ulrike vor sich niederblickend, und sich besinnend fügte sie angstvoll die Frage hinzu: »Und Ihr sagtet, er sei seinem Gelübde untreu geworden und liebe eine Frau von Scheurl? – Mir dünkt, ich habe diesen Namen schon gehört.«

»Da sei Gott vor, daß ich eine so schwere Anklage ausspreche,« entgegnete Charitas – »ja vielleicht ist[156] es Elisabeth selbst gegangen wie mir, und sie hat ihr eigenes Gefühl auch erst da erkannt, als Ulrich in Todesgefahr schwebte, vielleicht noch nicht einmal – aber ich habe es in ihr früher erkannt als in mir selbst.«

»Ulrich in Todesgefahr – vor Kurzem – in meiner Nähe – und ich wußt' es nicht!« wiederholte Ulrike. »Erzählt mir mehr davon, wie Alles kam und was er that!« bat sie mit eindringlich flehender Stimme und Geberde.

Und Charitas gehorchte gern dieser Bitte. Sie gab eine beredte Schilderung jenes Ereignisses von dem Einsturz des Thurmgerüstes, von Hieronymus' hülfloser Lage und Ulrich's Rettungswerk; sie schilderte ihn und seinen Heroismus im glänzenden Licht und das feierliche Te Deum, das man nach ihrer Rettung gehalten. Sie hatte auch des Propstes Kreß mit dabei erwähnt als Ulrich's Gönner.

Ulrike verlor kein Wort von dem Allen. Mit athemloser Angst folgte sie der Schilderung von Ulrich's Gefahr – an diesem Zug erkannte sie den Sohn, der schon als Knabe bereit gewesen mit Gefahr seines Lebens Andern beizustehen. Welche Empfindungen für eine Mutter, zu wissen, daß ihr einziger Sohn[157] schon seit Jahren so in ihrer unmittelbaren Nähe lebte, ohne daß sie eine Ahnung davon gehabt – daß er in derselben Stunde, in der sie vielleicht ruhig betete hätte sterben können! Und jetzt – wie war ihr denn bei dem Gedanken, daß vielleicht nur diese Klostermauer Mutter und Sohn von einander trennte. Nur! – ach, das war ja genug, das war ja eine Trennung für das ganze Leben! – Sie hatte ihren Sohn verlassen, um dem wiedergefundenen Mann ihrer Liebe zu folgen – und da sie erkannte, daß sie damit ein Verbrechen begangen, das sie der Verzweiflung nahe brachte, da suchte sie für immer vor dem theuren Verführer, vor sich selbst und vor einem ganzen Leben voll Schmach und Hohn im ersten Augenblick nur bei dem Bruder, aber dann in diesem Kloster Schutz. Sie hatte den Tod gewünscht und darum gefleht in tausend heißen Gebeten; aber da er nicht von selbst kam und sie noch leben mußte, so wollte sie doch todt sein für alles Leben außer diesen geweihten Mauern, und in ihnen nur still büßen in Entsagung und Gebet, und warten, bis der Tod endlich komme sie zu erlösen. Daß auch ihr einziger Sohn in einem Kloster eine Freistatt gefunden, daß er dort eine bessere Erziehung fand, als wenn er bei ihr und dem rohen Manne geblieben wäre,[158] den er für seinen Vater hielt, das gereichte ihr zum Trost für sein und ihr Geschick. Wohl betete sie für ihn, als sie erfuhr, daß er ein Baubruder geworden; denn sie wußte wohl, wie viel schwerer es war, mitten im Leben allen Lockungen und Versuchungen desselben zu widerstehen, wie es so gleicher Weise seine Pflicht war, als wie außerhvlb desselben in den bergenden Klostermauern; aber sie freute sich auch, daß ihn ein höheres Streben beseelte und er thätig mithalf an den unsterblichen Bauwerken, welche zur Ehre des Höchsten von geweihten Händen aufgeführt wurden. Ulrike hatte ihren Bruder des Jahres ein- oder zwei Mal gesehen und er ihr wohl erzählt, daß er Nachrichten von ihrem Sohn habe, wie er zum freien Steinmetzgesellen sei gesprochen worden und wie er sich auszeichne durch Geschicklichkeit seiner Hände und Erhabenheit seiner Darstellungen; aber nie war davon ein Wort über seine Lippen gekommen, daß er ihn wiedergesehen, daß er hier sei in Nürnberg und nun ihr so nahe. Um jeden Preis mußte sie nun mehr von ihm erfahren. Zwar, sie konnte es begreifen, aus welcher Absicht ihr Bruder das Alles verheimlicht. Er hatte es wohl denken können, daß eine Mutter mehr bei dem Gedanken leiden mußte, ihren Sohn nicht wiedersehen zu dürfen, wenn[159] sie wußte, daß er nur wenige Schritte von ihr entfernt weilte, als wenn sie sich durch eine Entfernung vieler Tagreisen von ihm getrennt sah, und daß aus guter Absicht geschehen, was sie doch wie einen Betrug an ihrem Mutterherzen empfand. Eben erst hatte sie es gegen die Novize ausgesprochen, wie schwer es sei, sich in ein Kloster einzuschließen, wenn das Leben draußen auch nur noch ein geliebtes Wesen habe – und nun traf sie dieser Ausspruch wieder selbst mit seiner schmerzlichsten Gewalt, und das rein menschliche Gefühl, das jetzt in ihr zum Ausbruch kam, erfüllte sie doch mit dem Bewußtsein einer Sünde gegen ihr Gelübde: alle Bande zu zerreißen, die an die Welt sie knüpften, und allein dem Himmel und dem Dienst der Heiligen sich zuzuwenden.

Indeß sie jetzt neben Charitas in die schmerzlichsten Gedanken versank und jetzt nicht mehr durch ihre Worte, sondern durch das krampfhafte Zucken ihrer Gesichtszüge, das Zittern ihrer ganzen Gastalt und die Thränen, die in ihren Augen glänzten, bestätigte, wie schwer auch im Kloster Seelenfrieden zu erringen, und noch schwerer zu bewahren sei, schreckte sie das Läuten des Glöckchens auf, das alle Klosterbewohnerinnen zum Abendgebet in die Kirche rief. Mit klopfendem Herzen und nassen[160] Augen gehorchten Beide diesem Ruf, und damit war eine Unterredung ganz abgebrochen, die für die Eine wie die Andere eine so unerwartete Wendung genommen.

Am folgenden Tage sah sich Charitas vergeblich in der Kirche, im Garten und im Speisesaal nach der Schwester Ulrike um – sie fehlte überall, und am Abend erfuhr Charitas auf ihr Befragen, daß sich die Nonne gestern im Garten erkältet habe und krank geworden, mithin in ihrer Zelle bleiben müsse. Als sie auch am nächsten Tage nicht erschien, erbat sich die Novize bei der Priorin die Erlaubniß, der kranken Nonne als Pflegerin dienen zu können; die Bitte ward ihr bereitwillig gewährt.

Ulrike lag im Fieber, als Charitas zu ihr kam. Sie neigte sich über das Lager der Kranken, die ihre schmalen Hände ihr froh überrascht entgegen streckte, noch freudiger gerührt, als die Novize erklärte, daß sie nicht nur für eine kurze Stunde komme, sondern um während ihrer Krankheit als Pflegerin ihre Zelle zu theilen.

So vergingen Beiden die Tage in innigster Gemeinschaft. Nur wenn die Glocke zur Kirche rief, folgte Charitas diesem Ruf aus der Krankenzelle, und zuweilen ward sie auf eine Nacht oder andere Tagesstunden von[161] einer Nonne abgelös't, um selbst auch einige Ruhe zu haben, aber die meiste Zeit war sie doch an Ulrikens Krankenlager. Charitas vermied von Ulrich zu sprechen, denn sie hatte gleich erkannt, daß Ulrike durch ihre neulichen Mittheilungen in diesen Fieberzustand versetzt worden war, und sie mußte fürchten, ihn durch ein Gespräch, welches das erste Mal eine so aufregende Wirkung gehabt, zu erhöhen. Aber er steigerte sich auch ohnedies, und da sie bewußtlos in Fieberphantasien sprach, kam mehr als einmal der Name Ulrich über ihre Lippen, und zwischen Seufzern und Gebeten, wenn ihr helle Augenblicke kamen, erklärte sie, daß sie weder leben noch sterben könne, wenn sie Ulrich nicht wiedergesehen! –

Einst, als sie auch diese heiße Sehnsucht in stöhnenden Jammerrufen hatte laut werden lassen, ward Charitas von ihr abgerufen, da ihre Schwester Clara gekommen sei, um sie zu sprechen. Solche Besuche ihrer weiblichen Angehörigen waren den Novizen gestattet.

Die Schwestern hatten nie ein Geheimniß vor einander. So erzählte auch Charitas von Ulriken Alles, was sie selbst wußte, und eben auf das schmerzlichste bewegt von deren Sehnsucht nach Ulrich, die gewiß keine sündhafte war, denn sie hatte ihn ihren Sohn[162] genannt – mochte er nun ihr eigener oder wie sie erst gesagt, der Sohn ihrer Freundin sein – berieth Charitas mit Clara, ob es nicht ein gottwohlgefälliges Werk sei, den inbrünstigen Wunsch einer Sterbenden zu erfüllen und auf irgend eine Weise ihr ein Wiedersehen mit Ulrich zu verschaffen. War dieser wirklich ihr Sohn, so war es gewiß, daß die Priorin bei einer der frömmsten und gehorsamsten Nonnen keinen Anstand nehmen werde, auf sein Gesuch ihm den Zutritt zu ihr gestatten, um den letzten Segen einer sterbenden Mutter zu empfangen. Da aber Charitas doch nicht gewiß wußte, ob man Ulrike diese Gunst erweisen wolle, so mochte sie in derselben nicht Hoffnungen erregen, die sich vielleicht nicht erfüllen konnten, und auch nicht mit ihr davon sprechen, da die pflichtgetreue Nonne in diesem natürlichen Wunsch selbst so ein irdisches Verlangen sah, daß sie es sich selbst als Verbrechen anrechnete – so konnte es ihr nicht als Bitte, sondern als eine gnädige Ueberraschung gewährt werden.

Die Schwestern kamen also dahin überein, daß Clara an Ulrich in wenig Zeilen schrieb: wie eine Nonne des St. Clara-Klosters mit Namen Ulrike nach ihm, Ulrich von Straßburg, wie nach ihrem Sohn auf ihrem Sterbebett sich sehne, und daß er, wenn er der[163] sei, dem an ihrem Segen gelegen sein müsse, von der milden Priorin gewiß die Erlaubniß erhalten werde, sich jenen selbst in den Klostermauern zu holen. –

Am folgenden Tage ward es mit Ulrike schlimmer. Der von ihr Ersehnte und von Charitas auch Erhoffte erschien nicht. Es war der Kranken, als ob ihr letztes Stündlein nahen müsse; jetzt verlangte sie nach dem Propst Kreß und nach dem Beichtvater, der ihr die letzte Oelung reichen sollte. Ehe er kam, legte sie selbst ihre Hände segnend auf Charitas' Haupt und sagte:

»Vielleicht ist es Euch ein Lohn für alle Eure mir erwiesene Liebe, wenn Ihr erfahret, daß Ihr sie der Mutter dessen erwiesen, den Ihr liebt und um den Ihr leidet! Um seinetwillen liebe und segne ich Euch, thut auch mir um seinetwillen also!«

»O, ich habe es geahnet!« flüsterte Charitas und neigte sich demüthigend wie vor einer Heiligen vor der Mutter des still und entsagend geliebten Mannes.

Nicht lange darauf, als die Abendglocke ausgetönt, läutete das Klosterglöckchen wieder, das die Sterbestunde und die letzte Oelung einer Nonne verkündete.

Aber obwohl es Ulriken galt, so zögerte doch der Tod noch zu ihr zu kommen. Ihr Beichtvater mit den knieenden Chorknaben, der Propst Kreß, die Priorin,[164] Charitas und ein paar andere Nonnen umgaben ihr Lager. Mit gefalteten Händen saß die Kranke aufrecht an das Kissen gelehnt, daß die hinter ihr knieende Charitas stützte, und athmete langsam und tief. Ihre Augen suchten im Kreise umher, ihre Lippen bewegten sich betend, aber Niemand verstand die leise geflüsterten Worte.

Eine Nonne öffnete mit langsamen Drucke die Thür und winkte durch die Spalte die Priorin hinaus. Es konnte nur etwas Wichtiges sein, das diese von dem Sterbebett einer hochgeehrten und wie eine Freundin geliebten Nonne rief.

Charitas athmete in banger Erwartung – Ahnung und Hoffnung rötheten ihr immer blasses Gesicht.

Stille Minuten vergingen. Der Geistliche wiederholte seine Gebete, der Propst neigte sich theilnehmend über das Lager der Schwester und gönnte ihr aus einem so leidens- und entsagungsreichen Leben die Erlösung, auf die sie wartete; aber er senkte seine Augenlider, um die anklagenden Blicke nicht zu sehen, die aus ihren weitgeöffneten Augen kamen.

Jetzt trat die Priorin wieder ein – aber nicht allein.[165]

In der Zelle war es schon ziemlich dunkel, doch draußen im Corridor glühte eben die Abendsonne noch mit ihrem letzten strahlenden Schein am dort gegenüberliegenden Bogenfenster. Der Strahl daraus fiel durch die geöffnete Thür, und im Feuer dieser Sonnenflamme stand ein Baubruder, und seine edle Gestalt hob sich davon wie von dem Goldgrund ab, welchen die damaligen Maler meist noch ihren Heiligenbildern zu geben pflegten.

Sehr verschieden war die Wirkung seines Erscheinens auf die Anwesenden. Charitas erröthete und faltete die Hände zum innigen Dankgebet; der Propst stand versteinert vor Schrecken und machte eine abwehrende Bewegung, als könne er jetzt noch dadurch verhindern, was er für sich selbst, peinvoll genug, allein um Ulrich's Willen so lange verhindert hatte; die Nonnen neigten sich tiefer auf die gefalteten Hände und schielten doch neugierig nach dem schönen Manne; Ulrike aber breitete die Arme aus wie nach einer überirdischen Erscheinung und rief lauter, als sie jetzt seit langer Zeit zu sprechen vermocht: »Mein Sohn! Ulrich! mein Sohn!«

Mit zwei Schritten war er an ihrem Lager, knieete davor, nahm ihre Hände in die seinen und rief: »Meine[166] Mutter! endlich seh' ich Dich wieder! darf ich Deinen Segen empfangen!«

Sie legte ihre Hände segnend auf seine Stirn und flüsterte: »Ulrich, welche Heilige führt Dich mir zu?«

»Sie steht hinter Dir!« sagte er noch leiser, da er Charitas erkannte; aber sie hörte es doch, erglühte und zitterte, wie sich freilich für die künftige Nonne nicht geziemen mochte.

Mutter und Sohn sahen einander unverwandt an, forschten und erkannten die geliebten Züge, und der Todesengel wich vor einer großen Erschütterung und Freude. –

Ulrich hatte auf den Brief, den ihm die Schwester Pirkheimer sandte, noch gezögert zu kommen. Wohl zog sein Herz ihn mächtig in das Kloster, aber er gedachte des Gelübdes, das er dem Propst geleistet, und wollte erst mit ihm sprechen, statt wider seinen Willen zu handeln. Kreß würde es ja doch wohl auch erfahren haben, wenn seine Schwester von einer tödtlichen Krankheit bedroht war. An diesem Abend nun war er voll Unruhe zu ihm gegangen. Da hatte man ihm gesagt, daß der Propst vor einer halben Stunde in das Clara-Kloster sei gerufen worden. Er eilte[167] dahin und stand zögernd an der Pforte. Da tönte das Sterbeglöcklein – seinem Rufe konnte er nicht widerstehen; er schellte und fragte die Pförtnerin: wem das Läuten gelte? und da sie geantwortet: »der frommen Schwester Ulrike, die seit zwölf Jahren hier ist,« – da kannte er weder Zögerung noch Wahl, da wußte er, daß er ein heilig Recht habe auf den letzten Augenblick seiner Mutter, da bat er, ihn zur Priorin zu führen, und nannte sich Ulrikens Sohn, der von Straßburg hierhergekommen. Da die Priorin wußte, daß Ulrike verheirathet gewesen und einen Sohn gehabt, und da Ulrich sogar die Züge der Mutter trug, so zögerte sie nicht lange, sondern gab seinem angstvollen Flehen nach und führte ihn mit sich an das Sterbebett. –

»Vergieb Deiner Mutter,« bat Ulrike, »vergieb ihr, daß sie Dich verlassen konnte; dann erst können mir die Heiligen vergeben, dann erst kann ich in Frieden sterben!«

»Wie möget Ihr also sprechen! rief Ulrich; »als eine Heilige, die viel geduldet, hab' ich Euch schon verehrt, und doppelt, seit ich Alles weiß, was Ihr gelitten und geduldet –«[168]

Auf einmal stieß Ulrike einen entsetzlichen Schrei aus. Ward jetzt ihr Geist vollends ganz klar und entsetzte sie gerade dieses Alles-wissen, von dem Ulrich sprach? dachte sie daran, daß, wenn die Welt erfuhr, wie und wessen Sohn er sei, die Sünde der Eltern über ihn kam? Der Propst faßte so die angstvoll flehenden Blicke auf, die sie zu ihm herüber warf, der tief bekümmert auf die Gruppe schaute, die er immer gefürchtet einmal so sehen zu müssen.

Aber jetzt raffte sich Ulrike noch einmal kräftig auf und sagte mit lauter Stimme: »Mein Sohn, ich weiß, daß die Leiden dieser Zeit nicht werth sind der Herrlichkeit, die an uns soll offenbaret werden! Daß ich Dich auf meinem Sterbebette segnen darf, ist ein Zeichen von der Vergebung des Himmels für uns Beide. Vor Gottes Thron werde ich für Dich beten und Dich erwarten – vielleicht kommst Du bald – –« Sie sank in die Kissen zurück, zog Ulrich's Hand mit einem letzten krampfhaften Zucken der ihren an ihr Herz und flüsterte verhallend: »Vielleicht kommst Du bald – bald!«

»Bald!« flüsterte Ulrich; »ich ahne es, Du ziehst mich Dir nach!«[169]

Das Sterbeglöckchen läutete wieder – die Priorin öffnete leise das Fenster, um eine entfliehende Seele frei in den Himmel zu lassen.

Ulrich knieete betend an der theuren Leiche, bis er ihr die still und kalt gewordenen Augen zudrücken konnte, dann ging er mit dem Propst.[170]

Quelle:
Louise Otto: Nürnberg. Band 1–3, Band 3, Bremen 21875, S. 147-171.
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