V. Eine Genesende

[80] »Du aber, Mensch, dem Gott die Mittel gab

Das Elend Deines Bruders zu vermindern –

Du legtest ihm zu seiner Noth die Qual

Der Täuschung noch und des Verlassenseins! –«

H. Riedel.


Der Tag, wo Jaromir und Amalie einander wiedersahen, war für den Zustand dieser ein entscheidender gewesen. Eine große Krisis war in ihrer Krankheit eingetreten. Von diesem Tage an besserte es sich mit ihr.

Ihr Arzt erklärte bald, daß jede Gefahr für sie vorüber sei. Schon hatte sie wieder Kraft, das Lager zu verlassen.

Unterdeß waren die Sorgen in Thalheim's Familie auf's Höchste gestiegen. Henriette Krauß hatte ihm zwar Elisabeth's Geld gegeben, aber da sie hartnäckig den Namen der Person verschwieg, von der sie es empfangen, und da sie es an demselben Tag erhalten, an welchem Jaromir bei Thalheim gewesen war, so glaubte dieser nicht anders, als die Gabe komme von dem Grafen. Von ihm aber eine[80] Gabe anzunehmen, vermogte er nicht; weder sein Stolz, noch sein Ehrgefühl duldeten es – er siegelte die Banknote ein, und ohne ein Wort hinzuzufügen, adressirte er sie an den Grafen. Dieser ließ durch öffentliche Blätter bekannt machen, daß er durch einen Irrthum eine Banknote von funfzig Thalern zugeschickt erhalten, und forderte zu einer Erklärung darüber auf. Die Erklärung blieb aus, er gab später eine gleiche Summe an die Armencasse der Stadt.

Thalheim versah wieder pünktlich sein Lehramt am Institut. Aber wie verändert fanden ihn die Pensionärinnen, als er wieder in ihrer Mitte erschien! Die stille, edle Heiterkeit, welche sonst oft über sein ganzes Wesen gehaucht war, und den hohen Ernst seines Antlitzes milderte, war spurlos davon verschwunden. Gram und Sorgen schienen immer tiefere Furchen in seine Stirn zu graben. Er brachte keine Freudigkeit mehr mit zu seinem Geschäft, denn alle Freudigkeit seines Herzens war verschwunden. Amalie hatte ihm gestanden, daß sie ihn hintergangen, daß sie ihn nie geliebt hatte. Der letzte Sonnenblick war mit dem kalten Wettersturm dieses einzigen Wortes für immer aus seinem ehelichen Leben verschwunden; diese ganze Ehe war für ihn selbst zu einer entsetzlichen Lüge geworden; und wie sollte er eine solche Lüge ruhig ertragen, dessen ganzes Reden und Handeln Wahrheit war? – Amalie war stiller, in sich gekehrter, sie behandelte den Gatten mit mehr Zartgefühl und[81] Sanftmuth, als früher – aber das verhängnißvolle Wort war doch gesprochen worden, es konnte nicht wieder zurückgenommen werden. Thalheims Milde gegen sie war unveränderlich, wie früher – aber er näherte sich ihr mit keinem zärtlichen Wort, keinem innigen Blick mehr, er schlang nie mehr, wie sonst, seinen Arm um sie, er drückte keinen Kuß mehr auf ihre Lippen. Von Jaromir, von jener Stunde war zwischen ihnen niemals mehr die Rede, und doch stand die Erinnerung an sie immer lebendig vor Beiden, und also auch immer zwischen Beiden.

Thalheims Entschluß war gefaßt. Er hatte ihn lange geprüft und erwogen, nun stand er unerschütterlich fest. – Freiherr von Waldow und Graf Osten suchten für ihre beiden Söhne einen Lehrer, welcher dieselben zugleich als Mentor auf Reisen begleiten könne. Er hatte sich dazu gemeldet, und war mit Freuden angenommen worden. Der Gehalt, den man ihm zusicherte, war bedeutender, als sein bisheriger.

Er hatte diesen Schritt gethan, weil er fühlte, er könne nicht mehr an der Seite seiner Gattin leben, er mußte fort von ihr, andere Luft, andere Menschen um sich haben.

Er liebte seine Gattin – auch noch jetzt, wo er wußte, daß dieses Gefühl nie eine ähnliche Erwiderung gefunden. Ihre Fehler und Schwächen, die er nicht zu verkennen vermogt hatte, nahm er nicht für individuelle, er entschuldigte[82] sie mit der Schwäche des ganzen weiblichen Geschlechtes. Amalie war sein nach Recht und Gesetz, nach dem Ausspruch und Segen der Kirche, sein durch jahrelange Gewohnheit des innigsten Miteinanderlebens, und er liebte sie als sein trautes Weib – aber von jenem Augenblicke an, als sie ihm die ganze Wahrheit ihrer Gefühle gestanden hatte, ward dieses Verhältniß für ihn zu einer ungeheuern Lüge – er konnte sie nicht mehr vor Gott als die Seine betrachten, und daß er es noch vor den Menschen mußte, war ihm peinlich. Deshalb suchte er eine Stelle, welche ihm Gelegenheit bot, sich von ihr zu trennen, ohne daß deshalb ihre Umgebung ihr ganzes Verhältniß durchschauen konnte.

Auch ihn hatten Sorgen und Arbeit kränklich gemacht, der Arzt rieth zu einer Reise. Thalheim hatte dazu keine Mittel, wenn er nicht diese Reise selbst mit seinem Beruf als Lehrer oder mit irgend einem Amt verbinden konnte – er ergriff also die Gelegenheit, die jungen vornehmen Leute zu begleiten, und kehrte dann neugestärkt zu seiner Gattin zurück. Von diesem Standpunkt aus konnte seine Umgebung die Veränderung seiner Verhältnisse betrachten, obwohl nebenbei auch nicht gehindert werden konnte, daß andere Gerüchte darüber im Publikum umliefen.

Während er nun noch daheim weilte, und Amalie, welche wieder kräftig genug war, in den Zimmern umherzugehen,[83] der neben ihr wohnenden Blumenfabrikantin den ersten Besuch gemacht hatte, und bei dieser unverholen klagte über die tägliche häusliche Noth, kam die Sängerin Bella auch herab, um für sich selbst einen Blumenschmuck auszuwählen.

Henriette Krauß war geschwätzig und gutmüthig zugleich, und erzählte Bella im Nebenzimmer, wie krank Amalie gewesen, und in welche Noth sie dadurch gekommen, und bat zugleich um eine Unterstützung für sie. Bella war leicht gerührt und immer überaus wohlthätig, sobald ihr dies keine große Mühe machte. Ihre Wohlthaten ertheilte sie immer auf eine einfache, vertrauliche und deshalb ungewöhnliche Weise. Sie schrieb einfach an Amalie:

»Die Glücksgüter auf der Erde sind ungleich vertheilt. Indem ich mir einen Abend das Vergnügen mache, öffentlich zu singen, verdiene ich zuweilen Hunderte. – Andere vermögen dies bei angestrengter Arbeit in Jahren nicht. Ich halte es also für meine Pflicht, wenigstens im Kleinen für eine Ausgleichung dieser Ungleichheiten zu sorgen, und da ich gehört habe, daß Sie minder glücklich sind, als ich, bitte ich, die beifolgende Kleinigkeit von meinem Ueberfluß anzunehmen. Lassen Sie aber von dem, was zwei Frauen unter sich ausmachen, keinen Mann etwas wissen, der männliche Stolz hat für mich oft etwas Beleidigendes. Wenn Sie[84] mein Anerbieten nicht annehmen, kommt es in minder gute Hände, und das sollte mir leid thun. Bella

Mit diesen aufrichtigen Worten erhielt Amalie am andern Tag eine kleine Summe in Geld, welche durch die ungezwungene Art, mit der sie geboten ward, ihr doppelt willkommen war. Sie erfüllte den Wunsch der Geberin, sprach mit ihrem Gatten nicht darüber, und befriedigte davon einige Bedürfnisse, deren Nothwendigkeit dem Männerauge entgangen war.

Nach einigen Tagen, als sie auch die Treppen allein zu gehen wagen konnte, ging sie zu Bella, um derselben ihren Dank zu sagen.

Die Kammerfrau öffnete sogleich die Thüre, welche in das Zimmer der Sängerin führte.

Amalie trat ein.

Sie warf einen Blick im Zimmer einher und sank an der Schwelle mit einem Schrei bewußtlos in sich selbst zusammen.

Amalie hatte auf dem Sopha neben Bella Jaromir gesehen.

Nur einen Blick hat die unglückliche Frau hingeworfen: er hatte ihr gezeigt, wie schön und lebendig Bella war – wie geschmackvoll und prächtig Alles, was sie umgab, mit welchem feurigen Blick sie zu Jaromir aufsah, wie vertraulich ihre kleine weiße Hand auf seinem Arm ruhte.[85] Mir diesem einen Blick sah Amalie, wie Jaromir es gewohnt sein müsse, diesen Platz einzunehmen – wie heiter er eben jetzt gescherzt haben mogte – sie liebten einander und waren glücklich und heiter – vielleicht waren sie verlobt – es war nur ein Moment, in dem Amalie dies Alles dachte, und in demselben Moment vergingen ihr die Sinne.

»Mein Gott, die arme Frau ist gewiß noch kränker, als sie denkt!« rief Bella, indem sie, aufstehend, die Klingel zog, und die Hingesunkene aufhob.

»Kennen Sie diese Frau?« sagte Jaromir, der auch aufgesprungen war, und mit unruhigen Blicken zu Amalien hinstarrte.

»Sie wohnt mit in diesem Hause,« sagte Bella unbefangen, »es ist die Frau des Doctor Thalheim, mit dem Sie neulich das geheime Geschäft abzumachen hatten, wodurch Sie so verstimmt, und deshalb so unhöflich geworden waren. Ach, ich weiß es noch recht gut.« Sie drohte dabei lächelnd mit dem Finger, und fuhr dann weiter fort: »Sie kommt das erste Mal zu mir, vielleicht ist es ihr erster Gang die Treppe herauf, und das wird sie zu sehr angegriffen haben.«

Jaromir verstand die Ursache von Amaliens Zustand besser, er schwieg jetzt, und griff nach seinem Hut, während[86] eine eingetretene Kammerfrau sich um die Ohnmächtige beschäftigte.

»Warum wollen Sie nun plötzlich fort?« fragte Bella.

»Es ist besser, ich gehe jetzt, fragen Sie weiter nicht,« antwortete Jaromir in einem sanften Tone, aber mit jenem eigenthümlichen entschiedenen Ausdruck der Stimme, welcher keinen Widerspruch gestattet. Er warf noch einen Blick zurück auf Amalie und ging.

Dieser Blick brachte sie wieder zum Bewußtsein. Sie schlug in demselben Moment die Augen auf, als er die seinen eben wegwandte, und hastig das Zimmer verließ.

»Er geht,« flüsterte sie leise, dann suchte sie sich zu fassen, und stand auf.

»Ist Ihnen schon besser?« fragte Bella, indem sie sich wieder nach ihr umgewandt hatte.

»Ich bitte um Vergebung, daß ich gestört habe – man wieß mich sogleich in dieses Zimmer, es war nicht meine Schuld, daß ich eintrat – ich wußte nicht, daß ich noch so schwach war.«

Amalie sagte dies mit zitternder Stimme, aber nicht ohne leise Bitterkeit, welche der Sängerin nicht entging. Sie konnte aber eher dazu jeden anderen Grund vermuthen, als den wahren, denn wie hätte sie je glauben können, daß Jaromir, um dessen freundliches Lächeln sich so manches schöne Weib umsonst bemühte, er, der in den höchsten Zirkeln[87] lebend, schon von Manchem angewidert ward, was dem anmuthigsten und, wenn man so sagen will, ästhetischsten Luxus nicht genügte, daß er, der Alles besaß, was ein Leben beneidenswerth machen kann, Reichthum und Standesvortheil, Ruf und Ruhm, Jugend und Schönheit – in irgend einem Verhältniß stände zu einer armen, beinah häßlichen Frau, welche jetzt Krankheit und Elend fast zehn Jahre älter erscheinen ließen, als sie wirklich war? – Bella nahm Amaliens Ohnmacht für ein wahres Zeichen einer noch nicht gehobenen Krankheit, und den bittern Ton ihrer Stimme schob sie auf Rechnung eines kleinbürgerlichen, philiströsen Sinnes, welcher es unschicklich finde, eine Dame an der Seite eines schönen Mannes allein zu treffen – und ob zwar sich Bella gestehen mußte, daß durch Jaromirs plötzliches Entfernen es wirklich scheinen konnte, als hätte sie Ursache gehabt, sich nicht gern in seiner Nähe überrascht gesehen zu haben, so verdroß sie es doch, daß Amalie, welche gewiß kam, um ihr zu danken, ganz im Gegentheil davon sie mit einer Art von Vorwurf begrüßte.

Bella gerieth dadurch selbst unwillkührlich in eine bittere Stimmung gegen Amalien, welche sie gegen diese weniger freundlich erscheinen ließ, als sie außerdem gewesen sein würde.

Amalie begann wieder: »Ich kam nur, um Ihnen zu danken –«[88]

»Lassen Sie das,« fiel ihr Bella in's Wort und wollte noch Etwas beifügen, als zum Glück für die ziemlich peinliche Stellung, in welcher sich beide Frauen einander gegenüber befanden, Baron von Füßly gemeldet ward, und auch sogleich eintrat.

Amalie bat um Erlaubniß, sich entfernen zu dürfen, um sich von der gehabten Ohnmacht auf ihrem Lager zu erholen.

Bella's Kammerfrau begleitete sie die Treppe hinab.

»Sagen Sie mir doch,« begann Amalie mit vertraulichem Tone, obwohl dabei ihre Stimme merklich zitterte, »kommt der Graf oft zu Ihrer Dame?«

»Meinen Sie den Grafen Szariny oder den Herrn, welcher eben jetzt kam? Sie wohnen mit uns in einem Haus, und sollten nicht wissen, was die ganze Stadt weiß?« gegenfragte die Kammerfrau.

»Mein Gott, so ist es wohl ihr Verlobter? – Den Graf Szariny mein' ich,« sagte Amalie immer aufgeregter.

Die Antworten der Kammerfrau blieben unbefangen: »Nun, das geht doch wohl nicht so schnell – eh' sich eine so gefeierte Sängerin, wie meine Herrschaft, zu einer Heirath entschließt, kann schon manches Jahr vergehen, und ein eben so gefeierter, als reicher Graf, wie dieser, findet es auch bequemer, den Liebhaber zu spielen, als den Ehemann.[89] Die Sache ist einfach die, daß er schon in Berlin meiner Dame ihr größter Günstling war, und daß er ihr hierher nachgereist ist, um es wieder zu sein. – Natürlich ist meine Dame durch diesen Beweis von Anhänglichkeit sehr gerührt, denn sie weiß recht gut, daß es dem Grafen an Eroberungen weiblicher Schönheiten weder jemals gefehlt hat, noch fehlen kann, da er neben allen seinen bestechenden Eigenschaften zugleich eine sehr glänzende Partie ist – daher kommt es denn, daß sie sich von ihm sogar manche unhöfliche Sonderbarkeit gefallen läßt, die sie niemals einem andern Mann nachsehen wird. – – Aber es scheint, als würde Ihnen wieder unwohl? Sie zittern ja so, halten Sie sich fester an mich, damit Sie nicht etwa auf der Treppe hinsinken.«

Amalie zitterte allerdings heftig – sie dachte aber immer noch, sie habe nicht recht gehört, es sei vielleicht doch noch ein Irrthum möglich, und fragte wieder:

»Sie nannten den Grafen reich – ich habe geglaubt, er sei sehr arm – er habe in Polen Alles verloren.«

»Sie scheinen sehr über den Grafen unterrichtet. – Haben Sie ihn gekannt?«

»Nein, nein! – Aber man hört doch, was die Leute reden.«

»Er hat sein Vermögen wieder; jetzt ist es gewiß, daß er sehr reich ist – aber ich habe ihn manchmal darüber[90] scherzen hören, wie elend er früher gelebt – dadurch ist er den Leuten nur noch interessanter geworden.«

»Leben Sie wohl,« sagte jetzt Amalie schnell, indem sie vor ihrer Thüre stand, und deren Schloß hastig erfaßte, wie um sich daran zu stützen, »ich danke für Ihre Begleitung.«

Sie öffnete schnell, ging hinein, verschloß die Thüre wieder hinter sich, und warf sich mit einem lauten. Schrei und krampfhaften Zucken auf ihr Bett.

Sie war allein.

Erst fühlte sie gar Nichts.

Dann kam sie nach und nach zum Gefühl, zum Gefühl eines einzigen riesenhaften Schmerzes.

Dann dachte sie über diesen Schmerz, über sein Entstehen, seine Ursachen, über Alles, was sie soeben erlebt, über Alles, was sie soeben gehört hatte.

Es schien ihr Alles plötzlich klar geworden: Jaromir hatte sie vergessen – er war reich geworden, er lebte in einer andern, in der großen Welt, er dachte ihrer nicht mehr, er verachtete sie vielleicht jetzt, und prieß das Schicksal und ihre Untreue, die ihn vor einer Mesalliance bewahrt hatten. Er liebte Bella jetzt, wie einst sie, und war um Bella's willen hierher gekommen, um Bella's willen an diesem Hause vorübergegangen – und sie hatte geglaubt, es sei das unerloschene Feuer der Liebe für sie selbst,[91] was ihn dazu treibe, sie hatte ihm die Blumen zugeworfen, und wer weiß, wie er sich darüber lustig gemacht hatte – sie hatte ihn zu sich beschieden, und er war gekommen, aus Mitleid gekommen – nur aus Mitleid, wo sie an Sehnsucht gedacht hatte. Vielleicht war er von ihrem Sterbebette in Bella's Arme geeilt, und hatte ihr die Scene, die sie sich so erhaben gedacht hatte, als eine Lächerlichkeit erzählt – hatte ihre Armuth gesehen, und das Geld, was Amalie durch Bella empfing, war gewiß aus seinen Händen gekommen, er hatte vielleicht diesen Weg gewählt, um sich so nicht verrathen und die Gabe abgewiesen zu sehen – und deshalb hatte sie Bella in ihrem Billet gebeten, es dem Gatten zu verheimlichen – wie sie bei diesen Gedanken ankam, verhüllte sie ihr Gesicht, und schrie auf:

»Es giebt keinen größern Fluch, als die Armuth!«

Sie hätte so gern das Geld zurückgegeben, das sie nun so drückte und so beschämte und so demüthigte – aber sie war es nicht mehr im Stande, sie besaß es nicht mehr, sie hatte es ausgegeben. Und wo war die Möglichkeit, bald im Besitz einer gleichen Summe zu kommen?

»Die Armuth darf ja keinen Stolz und keine Scham haben,« sagte sie stöhnend zu sich, »was bei den Reichen Tugend und Recht ist, ist bei den Armen Verbrechen und Unrecht.«[92]

Von diesem einen Augenblick an war ihre Liebe zu Jaromir in Haß umgewandelt.

Sie war es zufrieden, ja sie war froh darüber, daß sich Thalheim von ihr trennen wollte. Für sie sorgen würde er, das wußte sie – seine Gegenwart aber, seine Nähe vermogte sie, wie nun sich Alles vor ihren Blicken enthüllt hatte, noch weniger ohne Scham zu ertragen, als selbst damals, wo sie ihm das Geständniß gemacht hatte, ihn nicht zu lieben. Denn wie sich jetzt Amalie in ihren eignen Augen gedemüthigt fühlte, so fühlte sie sich es noch um so mehr ihrem Gatten gegenüber. Konnte er es nicht schon vielleicht längst wissen, daß Szariny Bellas Geliebter sei, daß er niemals mehr der einstigen Braut gedacht habe, welche ihm die Treue gebrochen? – Amalie fühlte, daß das, was ihr ihre heiligsten Gefühle geboten hatten – ohne daß sie selbst es geahnt, sie zu einer Lächerlichkeit geführt hatte – und man weiß, wie eher ein Unrecht Vergebung findet, als eine Lächerlichkeit; darum konnte Amalie jetzt um dieser willen am Meisten mit sich zerfallen. Von einer zu bereuenden That sich wieder zu erheben, würde sie Kraft gefunden haben – aber von einer Handlung, welche sie nicht als eine unbesonnen Fehlende, sondern als eine eitle Thörin erscheinen ließ, vermogte sie nicht, ihre niedergeworfenen Gefühle wieder aufzurichten. – Sie fühlte das Alles schon in dieser ersten Minute der bittern Enttäuschung, und[93] wie um ihrem Groll nur in Etwas Luft zu geben, öffnete sie hastig eine Commode, nahm aus derselben ein kleines verschlossenes Kästchen, öffnete auch dieses, welches Briefe und verwelkte Blumen enthielt. Es waren Liebespfänder von Jaromir. Sie nahm sie heraus, öffnete die kleine Thüre des Ofens und warf die Blumen da hinein. Auch die Briefe wollte sie folgen lassen. Plötzlich aber zog sie die Hand wieder zurück, that die Briefe wieder in das Kästchen, und murmelte für sich:

»Liebespfänder können ja auch zu Rachepfändern werden – ich werde sie sorgfältig bewahren, wie sonst.«[94]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 1, Leipzig 1846, S. 80-95.
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