X. Versuchungen

[179] »Auch Dich beschimpfte man als Knecht –

So oft die Stirn Du wolltest heben.

Doch bist Du Mensch und hast ein Recht

Auf Deinen Antheil Lenz und Leben!«

Alfred Meißner.


Einige Tage später, als man eben Feierabend in der Fabrik des Herrn Felchner geläutet hatte, gingen Wilhelm und Franz miteinander von der Arbeit nach Hause.

»Franz, weißt Du es schon?«

»Ich weiß Alles!«

»Und wußtest es wirklich schon voraus, wie Du vorhin sagtest?«

»Wußt' es!«

»Und warum hast Du es verschwiegen?«

»Das ist einfach – damit nicht auch wir mit in's Unheil kämen.«

»Nein, so ist es nicht – Du hast sie in das Unheil gebracht – Du bist an Allem Schuld!«[179]

»Ich? Bist Du rasend?«

»Mögt' es bald fein, Franz, rasend vor Wuth – seit Du nicht mehr der ehrliche Kerl bist wie sonst, der Leib und Leben gelassen hätte für die Kameraden, wenn's zu helfen gegolten – jetzt bist Du feig und ängstlich geworden.«

»Wilhelm! Nimm Dich in Acht! Das dürfte mir außer Dir Keiner sagen! Und rede vernünftig, ich weiß nicht, wo Du hinaus willst mit Deinen Beschuldigungen.

Nun schau – Du sagst, gleich am ersten Abend, wie es geschehen, sei der Adam aus Hohenheim zu Dir gekommen und habe Dir gesagt, daß die Eisenbahnarbeiter jetzt Feiertag machten.«

»Ja, das ist wahr.«

»Warum hast Du das uns nicht gleich gesagt; hätten wir es gewußt, so hätten wir gemeinschaftliche Sache mit ihnen machen können – wir hätten den Tag auch gefeiert.«

»Daß Ihr rasend genug gewesen wäret – und die Soldaten hätten uns dann mit dem Bajonnette zur Arbeit gehetzt, wie sie es an der Eisenbahn gemacht haben. Dort arbeiten sie nun wieder gerade wie vorher, für dasselbe Geld, nur daß sie ein paar Tage Lohn eingebüßt haben, wo sie Nichts machten. Traurig freilich, daß es so ist, daß nicht einmal der sogenannte freie Arbeiter seine Arbeit verwerthen kann wie er will, und daß man aus dem,[180] was sonst jeder Handwerker, jeder Kaufmann darf: seine Arbeit, seine Mühe bezahlt zu nehmen wie er will, den um Tagelohn arbeitenden Armen ein Verbrechen macht. Aber es ist ein Mal so! – Das haben auch die Eisenbahnarbeiter vorher wissen können – und unter ihren Verhältnissen ist, was sie thaten auch wirklich Unrecht, denn es ist ein Wortbruch, da sie sich vorher anheischig gemacht hatten, um den ihnen einmal bewilligten Lohn zu arbeiten – sahen sie, daß sie es so nicht länger aushalten konnten, so hätten sie wenigstens einen gesetzlichen Termin abwarten sollen, wo sie die Arbeit in Ruh und Friede kündigen konnten.«

»Aber das würde ihnen auch Nichts geholfen haben – im besten Falle hätten sie dann doch nur die Wahl gehabt: entweder für den kargen Lohn fortzuarbeiten, oder plötzlich arbeitslos – zu verhungern.«

»Nun freilich schlimm genug, daß es so ist – aber wie kommst Du dazu, mir Vorwürfe zu machen?«

»Wenn wir gewußt hätten, daß unsere entfernten Kameraden sich erhoben, so würden wir ihnen gefolgt sein und gemeinschaftliche Sache mit ihnen gemacht haben. Dann wären wir ihrer gleich mehrere Hunderte gewesen und die paar Soldaten hätten Nichts vermogt.«

»Nun, und was wäre denn dabei noch herausgekommen, da Du erst selbst sagst, daß wir auf diesem Wege nicht zu unsrem Rechte kämen?«[181]

»Auf diesem Wege freilich! – Aber was haben wir denn zu verlieren, warum sollten wir nicht einmal Alles wagen? warum nicht wider die Reichen zu Felde ziehen – sie mögten dann sehen, ob denn wirklich in ihrem Gold ein allmächtiger Gott wohne, daß wir gar Nichts gegen sie ausrichten könnten!«

»Bruder, Bruder – lass' diese frevelhaften Reden!«

»Ei ja doch – frevelhaft! Und was sind denn die Handlungen der Reichen? Nenne mir doch einen Frevel, den nicht sie an uns verübt haben? Wir sind schon im Mutterleibe verflucht und von der Berechtigung als Menschen zu leben ausgeschlossen – und so geht es fort, Fluch an Fluch und Frevel an Frevel über uns, an uns, durch unser ganzes elendes Leben, und so geht es wieder fort auf unsere Kinder und Kindeskinder. – Aber nein! So soll es nicht länger fort gehen seit dem Tage, wo mir jener Brief an Dich die Augen mit Eins geöffnet!«

»Ach, jener Brief, wär' er nimmer gekommen!«

»Nein, das war ein Glückstag, wo er kam, den hab' ich als meinen Feiertag roth angestrichen im Kalender.«

»Wilhelm – meinst Du, ich habe nicht Alles das, was Du vorhin aussprachst, in meinen bösen Stunden auch gedacht, Tausend Mal mir gesagt, mir wiederholt, immer wieder und wieder? Denkst Du nicht, ich habe oft Stunden lang in das unselige Papier gestarrt, es weggeworfen,[182] wieder hergeholt, immer noch ein Mal durchgelesen – und dann mit mir gerungen und gekämpft Tag und Nacht? Auf meine Kniee bin ich gestürzt und das Vaterunser, wie mich's allabendlich die Mutter beten lehrte, da ich ein Knabe war, ist mir wieder durch die Seele gezogen, und auf die Lippen trat immer das einzige Gebet: führ' uns nicht in Versuchung!«

»Ja wenn Du immer noch denken willst: beten hilft!«

»Mir half's – ich habe überwunden, ich brauchte nachher nicht mehr zu beten, ich hatte endlich die Kraft, daß ich sagen konnte: Hebe Dich von mir, Versucher! Und da ward ich sein los.«

»Daß Du ein Feigling bist, mag ich nicht glauben – so bist Du ein Schwärmer, und mit solchen Leuten fängt man Nichts an.«

»Sieh einmal, Wilhelm!« sagte Franz mit milder treuherziger Stimme und Thränen traten dabei in seine Augen und mit seiner einen Hand ergriff er die Wilhelms, mit der andern klopft' er ihm freundlich auf die Schultern: »Sieh einmal, Wilhelm, wir waren einander die besten Freunde, waren uns Herzensbrüder! Wir hatten immer einerlei Meinung und haben zusammen manche gute Einrichtung zu Stande gebracht unter unsern Kameraden, wir haben das Beste gewollt und gestrebt, der allgemeinen Noth entgegen zu arbeiten, und haben nie Etwas für uns[183] gewollt, oft unsere letzten Groschen hingegeben. Für einander haben wir noch manches Härtere ertragen, aber mehr noch, als daß wir selbst Eines für das Andere zu Aufopferungen fähig waren, freute und stärkte es uns, daß wir in Allem gleich dachten, daß wir miteinander all' diese Tausend Dinge besprechen konnten, welche für unsere Kameraden ein fremdes Gebiet sind – und daß dann Keiner von uns einen Gedanken oder ein Gefühl aussprechen, das nicht der Andere schon gehabt hatte, oder dann wenigstens sogleich erfassen und theilen konnte – und wie anders ist das jetzt geworden! Es ist, als ob wir einander gar nicht mehr verständen – und obwohl wir noch allabendlich uns zusammenfinden, mit einander plaudern, so will's niemals mehr werden wie sonst – und obwohl Du mich gerade immer aufsuchst, begegnet mir doch Keiner der Kameraden so hart wie Du.«

»Weil eben Keiner wie ich so auf Dich gebaut und vertraut hat – und sich nun so von Dir hintergangen sieht!«

»Hintergangen? Doch ich begreife, wie Du das meinst – weil ich nicht Deinem unsinnigen Verlangen nachgegeben habe und unsere Genossen aufgehetzt, wie es einzelne Ausländer unter den Eisenbahnarbeitern gemacht haben.«

»Nicht allein deshalb habe ich mich in Dir getäuscht,[184] sondern weil Du auf einmal nicht einsehen willst, was allein vernünftig ist – Du, von dem ich immer besser dachte, als von mir selbst, den ich für verständiger hielt als mich und all' die Andern –«

»Ach, so thu' dies nur auch das eine Mal, mißtraue Dir und Deiner unzufriedenen Heftigkeit, die Alles verderben wird – traue nur dies Mal meiner ruhigen Ueberlegung – ich habe das sonst nie von Dir gefordert, jetzt fordre ich's – Dich verblendet Leidenschaft – Du hast Dich irre führen lassen.«

»Nein! Ich habe nur zum ersten Mal begriffen, wie lange ich irre geleitet gewesen bin, wie wir Alle es sind, wie die ganze Gesellschaft es ist – jener Brief hat mir die Augen geöffnet. Du hast es nicht hindern können, ich habe mir daraus wenigstens eine Stelle abgeschrieben, und sie Einigen mitgetheilt.«

»Wilhelm – um Gottes Willen, welche?«

»Diese –« sagte Wilhelm und zog ein beschmutztes Blatt Papier hervor, auf welchem stand:

»Wir wollen nicht mehr länger geduldig unser elendes Leben fristen – wir haben Alle gleiche Rechte, gleiche Ansprüche auf gleiche Genüsse. Unsere Bitten rühren nicht die versteinerten Herzen der Reichen, freiwillig geben sie kein Theilchen ihres Besitzes ab. Es wird Zeit, daß wir ihnen nehmen, was sie uns nicht geben wollen. Wir[185] haben ja Nichts zu verlieren, wir können schon einmal Etwas wagen. Ja wir können Alles wagen – es ist unsre Pflicht. Die Reichen mögen sich in Acht nehmen, wir werden sie aus ihrer behaglichen Ruhe aufschrecken. Wir haben Nichts mehr zu verlieren, denn wir haben schon Alles verloren durch ihre Erpressungen, ihre Betrügereien, ihren Privaterwerb, ihr Erbrecht. Sie haben zu verlieren, was sie uns entzogen – und das müssen sie verlieren. Man will uns sagen: das Bestehende dürfe nicht umgestürzt werden! – Aber wodurch ist das Bestehende gut und unverletzlich gemacht? Es ist schlecht, soll man das Schlechte beibehalten? Aenderen hieße die Ordnung stören, sagt man. Aber der jetzige Zustand ist kein geordneter, er ist eine Unordnung, da dem Einen mehr Recht gegeben ist, als dem Andern. Wäre es Ordnung, wenn Millionen hungern und mit der Armuth kämpfen, während einige Tausend Reichthümer aufhäufen und mehr haben als zu einem glücklichen Leben nothwendig? – Die Noth wird größer und größer – es handelt sich um Sein und Nichtsein des größten Theils der Menschheit – wir müssen siegen oder sterben! – Nicht ewig wollen wir die Diener der Reichen sein, wir haben gerechte Ansprüche an das Leben und das Leben soll uns unsern Antheil nicht länger verweigern!«

Wilhelm hatte das laut gelesen und sagte jetzt: »Und bist Du noch nicht überzeugt? Mein Wahlspruch ist:[186] Wir müssen siegen oder sterben! Aber bisher hat unsere Loosung wie ein häßlicher Reim darauf gelautet: Wir müssen kriechen und verderben! Denkst Du noch immer so?«

»Es sind schlimme Zeiten jetzt und grausame Gesetze herrschen! Ich habe das offen vor aller Welt gesagt, eh' Ihr Andern noch daran dachtet – aber es werden einst bessere Zeiten kommen und auch die Armen werden ihre Menschenrechte finden – aber nicht dadurch, daß sie dieselben verletzen und sich auch noch des letzten Scheines davon, welchen man ihnen gelassen hat, sich freiwillig entledigen. Ich weiß, daß meine Bücher allein mit ihren Bitten und ihren Anklagen Nichts ändern können – aber sie helfen dazu beitragen, daß man unsere Sache prüfen lernt, daß hochherzigen Menschen, welche bis jetzt mit edler Begeistrung ihre Pflichten ein Volk zu vertreten, oder für die Freiheit und den Fortschritt in geistreichen Schriften zu kämpfen – zu genügen glaubten, wenn sie die Sache der Bürger führten – daß diesen die Augen aufgehen werden, daß es noch unter der Classe der Bürger eine noch tiefer gestellte giebt, welche auch einen großen Theil des Volkes ausmacht, und die sie bisher übersehen konnten, – dann werden sie auch unsre Sache führen und so wird es auf dem Wege friedlicher Fortentwicklung auch für uns besser werden.«[187]

»Wenn vorher noch Millionen zu Grunde gerichtet worden sind.«

»Und wenn es so sein müßte – sie werden zu Grunde gehen auch auf anderem Wege. – Siegen oder sterben, soll Deine Loosung sein? Aber siegen werden die nicht, die Du in einen ungerechten und ungleichen Kampf führen mögtest, die dann von keiner Ordnung Etwas wissen und nur einem unklaren, wilden Drange mit Rachegefühlen und entfesselten Leidenschaften überlassen bleiben, um mit diesem Unheil zu stiften – nicht nur Unheil für die Reichen, sondern auch Unheil für die Armen. Siegen werden diese in Unwissenheit und Druck aufgewachsenen Massen nicht gegen eingeübte Heere, gegen die geistige Ueberlegenheit! Und sterben? Sterben werden vielleicht ihrer Viele, und das mögte sein, denn sie sind dann erlöst – aber Viele, viel Tausende werden nicht sterben und als Lohn für ihren kühnen Versuch in immer härtere Sclaverei, in immer größeres Elend zurückgestoßen werden. Willst Du dies Loos auf Deine unglücklichen Brüder wälzen?«

Wilhelm hatte mit immer finstrer werdenden Mienen zugehört – jetzt schüttelte er Franz's Hand heftig, ließ sie los und sagte dann mit dumpfer Stimme: »Du überzeugst mich nicht anders, gieb Dir weiter keine Mühe mehr, von nun an trennen sich unsre Wege, bis Du vielleicht[188] doch noch zur Erkenntniß kommst und den meinen betrittst.«

Hastig ging er zur Thüre hinaus, Franz sprang ihm nach – Wilhelm drängte ihn zurück: »Lass' es gut sein,« sagte dieser, »es wird mir schwer, Dich nicht mehr als Bruder zu betrachten – aber ich trage nicht die Schuld! Vielleicht besinnst Du Dich noch anders – doch nein! Du wirst freilich Nichts gegen unsere Fabrikherrn unternehmen – er ist ja der Vater Deines Liebchens! Sich! Vor der Versuchung hättest Du Dich bewahren sollen. Das vornehme Fräulein hat Dir's angethan – daß Du nun zu keiner That mehr kommen kannst, die ihr vielleicht ein schönes Thränchen kosten könnte – aber schau doch! Wenn sie arm wäre und Du reich, so könnte sie doch Dein werden – so wird sie's nimmer. – Wie, hättest Du nun nicht Lust, die Ordnung der Dinge einmal umzukehren?«

Franz stand erschüttert still – vorher hatte es ihm nie an Worten gefehlt, den Freund, der nun sein schlimmster Gegner geworden, zurück und zurecht zu weisen – jetzt war er plötzlich verstummt.

»Hab' ich's getroffen?« rief Wilhelm triumphierend. »Gut! Ich lasse Dir noch ein Mal Bedenkzeit. Verächtlich ist es und dumm zugleich, wenn Du unsere Thrannen und all' seine Helfershelfer, Deinen Thrannen und den Tyrann Deiner Brüder schonen willst um eines hübschen[189] Kindes willen, das sich zum Zeitvertreib und aus Langerweile zu Dir herabgelassen – aber edel wär's, wenn Du auch Etwas wagtest, sie Dir zu erkämpfen, und was außerdem vielleicht mißlänge, würde durch die Liebe gelingen! Ich lasse Dich mit Deinem Herzen und Deinem Verstand allein – die werden Dir's noch deutlich vortragen, wie ich's meine.«

Er ging.

Franz war wieder allein in seinem Kämmerchen, allein mit dem aufgeregten Innern, in dem jetzt Wilhelm geschickt einen neuen Kampf aufgeregt hatte.

Daran hatte Franz noch nicht gedacht, was Jener jetzt mit rohen Worten und plötzlich angeregt hatte.

Als der Mann des Volkes mit sich gerungen und all' jene Versuchungen bekämpft hatte, welche in ihm selber rege geworden, oder von außen zu ihm herangetreten waren, so hatte er immer nur das große Ganze vor Augen gehabt, er hatte niemals an den besonderen Fall, niemals gerade an sich selbst, seine eignen Verhältnisse und seine nächste Umgebung gedacht. Er hatte sich nur als Einen betrachtet, der, aus der Masse des verdumpften Volkes aufgewacht, gewahrte, wie er und Alle, welche in Armuth und Niedrigkeit bei drückender Arbeit beschwerliche Tage abhaspelten, um die einfachsten Menschenrechte gebracht seien. Er bemühte sich, dies verlorene heilige[190] Eigenthum vieler Tausende wieder erringen zu helfen, indem er die Noth der Arbeiter vor aller Welt erzählte, indem er durch den Verein der jungen Arbeiter unter diesen selbst sittliche und bessere Elemente zu ihrer Geltung zu bringen suchte. Als nun jenes anonyme Schreiben mit seinen verführerischen Theorieen, seiner glänzenden Beredtsamkeit und seinen goldnen Verheißungen ihn so erschütterte – ganz neue Gesichtskreise ihm aufschloß und ihm die Weit durch ein seltsam verkehrt geschliffenes Glas ansehen ließ, daß er Mühe hatte sich mit seiner geistigen Anschauung noch in dieser wirr gewordenen und verrückten Weltordnung zurecht zu finden – als er darin weiter den offenbaren Aufruf zur Empörung und Gewalt gelesen – so hatte er dies Allgemeine noch immer nicht auf seine besondern Verhältnisse bezogen.

Er war einige Augenblicke schwenkend geworden – er hatte so viel neue Lebensansichten vernommen, wie sie ihm bisher noch niemals durch die Seele gezogen waren, und er mußte ihnen erst genau in die Augen sehen, ehe er sie verwerfen, eh' er die unreinen Geister, welche sich an ihn herandrängten, von sich stoßen und verdammen konnte. Er hatte nur geprüft, ob diese neue Weltanschauung die rechte sei, oder seine alte – und da er erstere falsch gefunden, hatte er sich mit Abscheu von ihr abgewendet. Es war ihm nicht gelungen, Wilhelm zu einer gleichen Ueberzeugung[191] zu bringen, das hatte Franz für Wilhelm mitleidig gestimmt, aber diesen gegen ihn erbittert. Sie waren nun einander Gegner geworden, denn wenn Wilhelm unter den Kameraden die Ansicht zu verbreiten suchte, daß sie auch recht gut wie die reichen Leute leben könnten, sobald sie nur den Muth dazu hätten und nicht von alten unseligen Vorurtheilen sich zurückhalten ließen, arbeitete nun Franz wieder entgegen und sagte, daß auf gesetzlichem Wege mit Ruhe viel Mehr erreicht werden könne, als wenn man es versuchen wollte, sich mit Gewalt gegen die hergebrachte Ordnung der Dinge aufzulehnen.

Am Tage vor dem Aufstand der Eisenbahnarbeiter hatte nun Franz ein zweites anonymes Schreiben, durch einen unbekannten Knaben überbracht, erhalten, in welchem ihm der fremde Schreiber anzeigte, daß die Eisenbahnarbeiter einen ersten entscheidenden Schritt thun würden – ihre Arbeit einstellen, höhern Lohn fordern und wenn man dies nicht bewillige, wieder zerstören würden, was man bisher gebaut. Wenn die Fabrikarbeiter zu gleicher Zeit muthig genug wären, ihr verhaßtes Joch abzuschütteln, so sei vielleicht der Augenblick gekommen, wo die neue Welterlösung sichtbar beginnen könne. Man würde sich dann vereinigen und alle Arme auffordern, mit Theil zu nehmen an dem großen Kriegs- und Siegeszug der Armen wider die Reichen.[192]

Dies Schreiben hatte Franz sogleich verbrannt, damit es nicht in unrechte Hände falle, am Wenigsten in die Wilhelms, von dem er jetzt Alles fürchtete. Er selbst hatte sich entschieden, aber traurig abgewendet von diesem Bilde kommenden Elendes, welches das jetzige nicht lindern, sondern nur vermehren könne.

Als nun jetzt Wilhelm ihm vorwarf, daß er vielleicht nur um Paulinens willen eine verwegene That scheue, so riß ihn diese Beschuldigung in ein tobendes Meer innerer Zweifel und harter Seelenkämpfe wieder hinein. So roh und abscheulich ihm auch Wilhelms Worte klangen, er war mißtrauisch und streng gegen sich selbst und prüfte sich genau, ob dennoch nicht in irgend einem kleinen Winkel seines Herzens er einen Altar für Pauline wie für eine Heilige aufgerichtet habe, auf dem er all' seine andern Gelübde und Schwüre opfere.

Aber er fand sich ohne Schuld.

Und wie er so ihrer dachte, da trat ihr Bild in aller mädchenhafter Lieblichkeit vor ihn hin, da meinte er den innigen, liebenden Blick ihres Auges zu sehen und den zärtlichen Händedruck der kleinen weichen Hand zu fühlen – und da gellten ihm plötzlich wieder Wilhelms Worte in die Ohren: »wenn sie nun arm wäre und Du reich, so könnte sie doch Dein werden! – Wie? Hättest Du nun nicht Lust die Ordnung der Dinge umzukehren?«[193]

Sein ganzer Körper zitterte in unaussprechlichem Verlangen, sein Herz schlug höher in brünstigem Sehnen.

Was litten denn die Andern, daß sie wider die gesellschaftliche Ordnung murrten? Hunger, Frost, niederbeugende Noth und lästige Arbeit – aber er litt Tausend Mal mehr!

Ihm war jetzt, als habe an ihm allein sich die Gesellschaft versündigt, denn sie nahm ihm die Geliebte!

Dieses Gefühl, das er so rein und heilig in seinem Innern trug, ward es nicht zum Verbrechen, zur Tollheit gestempelt von der Gesellschaft? Und was gab es denn noch Großes und Schönes auf der Welt, wenn nicht dies Gefühl seines Herzens dazu gehörte?

Aber was half es, daß dieses Herz so in inniger Liebe, daß es so groß und begeistert schlug – dies Herz schlug ja unter Lumpen, und die, für welche es schlug, hätte ihren zarten Leib mit blinkendem Gold bedecken können, wenn sie es nicht verschmäht hätte.

Welch' eine unvernünftige Gesellschaft, welch' eine frevelhafte Unordnung in den bestehenden Verhältnissen mußte das sein, die um solcher Erbärmlichkeit willen zwei gleichschlagende Herzen für immer auseinander riß?[194]

War es nicht gerecht und natürlich, sich wider eine solche Ordnung der Dinge zu empören?

Er konnt' es nicht mehr aushalten in der engen Kammer, er lief hinaus, fort in die Nacht, in's Freie.[195]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 2, Leipzig 1846, S. 179-196.
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