Zweiter Dialog

Ueber das Unsichtbare

zwischen einem Materjalisten und Spiritualisten.

[57] SPIRITUALIST: Glauben Sie an das Unsichtbare?

MATERJALIST: Was heißt das Unsichtbare? Ich glaube an das meinen Sinnen Zugängliche.

SPIRITUALIST: Nein, ich meine Etwas, was außerhalb unserer sinlichen Sfäre liegt.

MATERJALIST: Wie soll ich daran glauben, da ich es nicht kontrolliren kann?

SPIRITUALIST: Die Kontrolle ist Ihnen nicht entzogen. Sie ergibt sich in einem Endeffekt. Und der ist Ihren Sinnen zugänglich. Nur die Zwischenglieder fehlen.

MATERJALIST: Was nicht wißenschaftlich beweisbar ist, entzieht sich meiner Erforschung. Und der Glaube kann mir hier nichts ersetzen.

SPIRITUALIST: Glauben Sie nicht, daß das, was Tausende,[58] was Hunderttausende von Menschenseelen als brennenden Durst in ihrer Seele tragen, ohne fähig zu sein, ihren Wunsch zu offenbaren, weil Gedanken mitzuteilen verboten ist, daß das endlich nach Monaten, nach Jahren, als ein ungestilter Schmerz, als Anhäufung von Auflehnungen, als Ballen von Mordgedanken sich unsichtbar in die Luft hebt, sich vereinigt, und endlich den Ueberlegenen, den im materjellen Reich Ueberlegenen, den Uebermächtigen und seine Schergen erdroßelt, erstikt, ihm das Blut aussaugt? –

MATERJALIST: Reden Sie von Etwas Konkretem?

SPIRITUALIST: Ich rede von Deutschland.

MATERJALIST: Ich finde, daß in Deutschland Alles wie früher seinen Weg geht. Die Leute machen dieselben Gesichter auf der Straße, die Hunde pißen an die gleichen Eksteine, die Kinder laßen sich wie früher von ihren Müttern am Rok hintendreinziehen. Nur die Hutform hat gewechselt. Und bei den Damen die Müffe.

SPIRITUALIST: Weil Sie nur das Sichtbare sehen. Weil Ihnen das Unsichtbare verborgen ist. Weil Sie aus den vergrämten Mienen der heutigen Menschen nicht in der Seele zu lesen verstehen.

MATERJALIST: Schmerzen hat es immer gegeben.[59] Wenn ich nicht an das Unsichtbare glaubte, an die unsichtbare Wirkung der von Hunderten von braven Menschen hinuntergeschlukten Bitterkeiten, wenn ich nicht an den Kampf der Geister glaubte, die, wie nach der Schlacht auf den katalaunischen Feldern, auch aus den Körpern der Entkräfteten und Verhungerten sich erheben, um in der Luft, auf Entfernungen, weiterzukämpfen, wenn ich nicht an die rächende Wirkung der entleerten Adern, an das Funken-Zünden der nicht zu Wort gekommenen Gedanken glaubte, dann müßte ich verzweifeln an Deutschland und an seiner Zukunft.

MATERJALIST: Es ist doch nicht so schlimm. Wir haben eben etwas viel Menschen in Deutschland. Es wird zu viel geheiratet. Uebrigens läßt man doch heute den Rednern und den Zeitungsschreibern die Köpfe. Bedenken Sie, gegen früher!

SPIRITUALIST: Kennen Sie die Geschichte von Kleo dem Gerber?

MATERJALIST: Des Atheners? Das Aufkommen der Demokratie?

SPIRITUALIST: Das war doch ein Mann, der die Tausende von Flüche verwirklichte, der den Unzähligen von lechzenden Kehlen die Sättigung brachte, der die Bluthunde bändigte! Er war nur ein Gerber. Ein einfacher[60] Handwerker. Ein vierschrötiger Kerl, der vielleicht sich selbst nicht in Allem klar war, und der nicht an das Unsichtbare glaubte. Aber das Unsichtbare trieb ihn. Er spürte diese hungernden Mäuler, diese wahnsinnig aufgerißenen Augen, diese unterirdischen Blähungen alle in seinem großen Kopfe. Und das trieb ihn. Das machte ihn fest. Er wurde ein Werkzeug des Unsichtbaren.

MATERJALIST: Es wurde aber dann doch wieder anders.

SPIRITUALIST: Es wurde wieder anders. Das liegt im Veränderlichen alles Menschlichen. Aber für einen Augenblick hatte das Volk doch Luft. Für einen Moment konten diese entsetzlichen Tränen- Rinnsale sich verlaufen, und man konte sich über die nächste Zukunft besprechen.

MATERJALIST: Der Deutsche ist im Allgemeinen sehr konservativ. Nimt Veränderungen nur im höchsten Notfall vor.

SPIRITUALIST: ... Nur im höchsten Notfall. – Davon rede ich! – Was meinen Sie zu Frankreich? –

MATERJALIST: Was soll ich zu Frankreich meinen?

SPIRITUALIST: Was meinen Sie, wenn wir Französisch würden?[61]

MATERJALIST: Französisch? – Sind Sie bei Sinnen? –

SPIRITUALIST: Ich meine nur in der Vorstellung es sich zunächst zu überlegen. – Was würden wir denn verlieren? – Sagen Sie selbst, wenn wir französisch würden, was würden wir verlieren?

MATERJALIST: Zunächst doch Alles!

SPIRITUALIST: Wir verlören – mit der Zeit – die deutsche Sprache und unsere Fahnenabzeichen. Ist es denn so schrecklich?

MATERJALIST: Sie singen doch immer auf Ihren Banketten: »Deutschland, Deutschland über Alles!« –

SPIRITUALIST: Ach, lieber Herr, dieser Gesang ist in den lezten Jahren sehr matt geworden.

MATERJALIST: Und dann: Ihre Lieder, Ihre Poesie, Ihre Musik, – ja so! die bliebe sich gleich! – Voyons, Sie haben ja alle Vaterlandsliebe aus Ihrem Herzen gerißen.

SPIRITUALIST: Ach Gott, Vaterland, – ich kann es nicht so hoch einschäzen – bedenken Sie, wenn wir französisch würden, gewännen wir die Freiheit – die Freiheit, zu denken, zu dichten, zu schreiben – bedenken Sie, für einen Deutschen die Freiheit seinen Geist zu offenbaren, selbst auf die Gefahr hin,[62] daß es etwas derb, etwas zotig, etwas barbarisch ausfält – aber die Freiheit, seine Gedanken zu offenbaren – denken Sie, für ihn, der eben dieses, seine Gedanken, für sein Höchstes einschäzt, und der gerade dieses Gutes – während es die meisten der umliegenden Völker besizen – entbehren muß.

MATERJALIST: Nun, das ist aber erst das Eine.

SPIRITUALIST: Ach, und das Uebrige! – Was ist es denn? – Die deutsche Sprache – ist das Herz nicht mehr wert wie die Sprache? – Goethe – ging er nicht trunkenen Blicks Napoleon entgegen? – Dichtete er nicht unter französischer Herrschaft seinen »Faust«? – Heute würde er wegen »Unsitlich keit« und »Gotteslästerung« eingespert. – Und Schiller – dichtete er nicht köstlich unter der französischen Mätreßenwirtschaft? – Was ist es denn? – Das Uebrige – die paar Volksliedchen! – Das Deutsche würde sich – mit der Zeit – zur Dialekt-Sprache verkürzen. Aber würden die deutschen Veilchen nicht nach wie vor duften? Unsere Eichen kräftig emporschießen? Unsre Herzen nicht freier und stolzer schlagen? Unsre Mädchen nicht herzhaft küßen? – Gehen Sie! – glauben Sie an das Unsichtbare? –

MATERJALIST: Wie soll aus dem Unsichtbaren ein solcher Umschwung der Dinge sich vollziehen?[63]

SPIRITUALIST: Wir wißen es nicht. – Wir haben keine Ahnung. – Vielleicht ist es nur die aus der Verzweiflung heraus geborne Meßias-Idee. – Aber irgend etwas muß paßiren. – Irgend ein Held muß kommen, der uns aus der Fronarbeit deutscher Piramiden-Erbauer befreit, uns aus dem Backstein-Verhältnis der Lohn-Sklaverei erlöst, uns das Gesez der Willkür vom Naken nimt, und uns durch ein Meer von Vergeßenheit in das gelobte Land führt.

MATERJALIST: Aber bedenken Sie, ein Volk, das sich selbst aufgibt.

SPIRITUALIST: Ein Volk gibt sich auf, wenn es keine Rettung mehr sieht.

MATERJALIST: Soll Deutschland als ein etnologisches Ganze aus den Völkerfamilien verschwinden?

SPIRITUALIST: Was läge daran? Deutschland hat als etnologisches Ganze wenig Bedeutung. Sein Sammelsurium ist aus Kelten, Germanen und Slaven gemischt. Seine Wesenheit ist nicht etnologisch, sondern psichisch. Es ist ein Ferment, ein Sauerteig, ein Salz der Erde, das sich am besten mit Anderen vermischt. Deutsche Gedanken wirken wie Hefe im Maischbottich der Völker. Es soll sich darin vermischen.

MATERJALIST: Aber wird mit der geografischen Einheit nicht die geistige Einheit verloren gehen?[64] Wie solte es? – Aus Nichts wird Nichts. Aber Etwas, das ist, kann auch nicht verloren gehen. Wir sind wie die Juden. Sie frondeten erst bei den Aegiptern. Später kamen sie in die babilonische Gefangenschaft. Dann wurden sie Vasallen der Römer. Und heute gehört ihre Heimstätte den Türken. Aber ihr Geist, ihr esprit, ihr Instinkt hat die ganze Welt erobert. Und ihr Monoteismus ist eine der gewaltigsten geistigen Kräfte, die je der Menschheit dienstbar gemacht wurden. Ist es nicht Etwas Köstlicheres, etwas Vornehmeres, ein hochfliegender, vaterlandsloser Geist, als im eigenen Vaterland ein geistiger Sklave zu sein? – Nehmen Sie die Griechen. Von den Römern unterjocht erobert ihre Filosofie, ihre Kunst, ihr Menschentum die ganze abendländische Menschheit. – Die Iren. Von den Engländern unterjocht, sprüht ihr Geist in der Advokatur, im Parlament in der ganzen Gesellschaft. – Warum sollen wir nicht unterjocht werden? – Fisisch eignen wir uns vortrefflich zum Unterjocht-Werden. Wir haben Hunde-Natur. Sind feig und servil. Nur unser Geist ist 'was nüz'. Fort mit ihm in die Menschheit!

MATERJALIST: Sie gehn da doch zu weit. Es hat doch manche politisch freiheitliche Bewegung sich im Volke Bahn gebrochen. Denken Sie an AchtundVierzig.

SPIRITUALIST: Ja, nachdem andere Völker ihnen das vorgemacht hatten. Aber dann kam die Reakzion und legte die eisernen Reife um[65] die Stirnen der Verwegenen, und raubte ihnen das Denken und macht Alles zehn fach wett. Die Deutschen haben jezt Tausend Jahre Zeit gehabt, sich freiheitliche Bestimmungen zu erobern, und haben es nicht vermocht. Jezt ist es zu spät. Mit 50 Jahren ist der Mann Philister, da sprengt er keine Feßeln mehr. Sehen Sie um sich die Völker. Vergleichen Sie die Gesezbücher, die polizeilichen Masnahmen, die politischen Sitten, da müßen Sie sagen: Wir waren feige Hunde!

MATERJALIST: Denken Sie an die Reformazion!

SPIRITUALIST: Ja, das war eine rein geistige Bewegung; davon rede ich; ein spekulativer Trieb im Bereich des Religiösen, Idealen. Und da mußte ein Halb-Wahnsinniger kommen. Ein Normaler hätte es nicht gewagt. Aber nachdem wir es zu Stande gebracht, machten die andern Völker es uns nach. Mit unseren Ideen eroberten sie sich die Freiheit. Es war ein deutscher Keim, der in die Völker fuhr. Das ist ja mein Problem! – Wo glauben Sie, daß Luther heute stehen würde? –

MATERJALIST: Wo soll ich glauben, daß Luther heute stehen würde?

SPIRITUALIST: Ich meine: wo würde er politisch stehen? welcher Partei würde er sich anschließen?[66] Ich meine, er würde sich so zur Mitte halten; er würde bei den mittleren Parteien stehen. Er würde Nazionalliberaler sein.

SPIRITUALIST: Um Gotteswillen, wo denken Sie hin! Links würde er stehen; weit links; bei den äußersten Sektirern würde er stehen, bei den Wiedertäufern – ich wolte sagen: bei den Sozialdemokraten!

MATERJALIST: Das möchte doch gewagt sein.

SPIRITUALIST: Nehmen Sie doch sein Bild vor. Sehen Sie doch diese Augen an! Diese kleinen, listigen Augen funkeln vor Rachsucht. Hier, sehen Sie diese lange Rinne zwischen Nase und Mund gefült mit Gemeinheit. Die prognaten, gewaltigen Kiefer fertig zum brutalen Vorstoß. Die slavische Nase wenig bedeutend. Der ganze obere Teil des Gesichtes ist ja der Tipus der Wildkaze. Die Stirne durchaus nicht ideal – nicht entfernt so ideal wie bei Melanchthon – aber immerhin kapabel zur Verdauung des Bischen dogmatischen Materjals. Hier die Schlappohren. Und dieser Rundkopf. Und auf diesen Schultern, die sich nur zu senken brauchen, um Angst und Beben in den Reihen der Gegner zu erzeugen. Das ist ja das Bild des deutschen, exaltirten Doktrinärs, der mit Speichel und Augenzähnen ficht. Hier hängt ja Alles voll von Majestätsbeleidigungen ...[67] Na, na, der gute, poetische, deutsche Luther, der zu Hause bei seiner Käte sizt und seine Choräle mit der Harfe begleitet ...

SPIRITUALIST: Sie haben das spätere, dike Bild im Auge, wo ihn die halbe Nazion dik gefüttert hatte, und er sich ein Doppelkinn angegeßen hatte. Da war er schon, sozusagen, der sächsische Generalsuperintendent. Nein, Sie müßen an das jugendlich- hagere Bild des Augustiner-Paters denken, wo er, wie Spalatin sagte, nur aus Haut und Knochen bestand, seinen Gegner anfunkelte und sozusagen im Geiste schon zerfleischte; auf dem Augsburger Reichstag, wo der geschikte Legat Cajetan erklärte: nie mehr wolle er mit dieser Bestie mit den tiefliegenden Augen disputiren ... Was glauben Sie, daß heute Luther für Bücher schriebe? Wir möchten seine Büchertitel lauten? Etwa: »Von der unverschampten Macht der Monarchieen«; – »Das Gottesgnadentum der Potentaten vom Teuffel gestifft«; oder ähnlich ...

MATERJALIST lacht: Ha, ha, da würde er wol bald mit dem Staatsanwalt Bekantschaft machen.

SPIRITUALIST: Sicher würde er mit dem Staatsanwalt Bekantschaft machen. Aber was wollen Sie?: Einer muß es wagen. Einer muß die Erlösung bringen. Einer muß den Schrei ausstoßen. Und wenn es ein Halb-Wahnsinniger wäre. – Glauben Sie an das Unsichtbare? –[68]

MATERJALIST: Was soll das Unsichtbare? Hier? Die Reformazion bereitete sich vor aller Augen unter hellsten Oeffentlichkeit.

SPIRITUALIST: Die Resultate. Aber nicht der Beginn. Der Beginn waren Seelenkämpfe, Erschütterungen, innere Krämpfe von fast 100-jähriger Dauer. Bis der Held kam. Der Brutale. Der Stiernakige. Kleo der Gerber. Luther der Bergmann. Sie sind undenkbar ohne das Unsichtbare, ohne den koloßalen Hintergrund, ohne die Milljonen Flüche, ohne das geheime Zittern der Seele, das endlich sie wie ein Bliz traf und ihr Hirn entzündete.

MATERJALIST: Und doch hing Alles an einem Haar, und Luther wäre unterlegen.

SPIRITUALIST: Alles hing an einem Haar, und Luther wäre unterlegen. Der Kaiser, der mächtigste Potentat, die einflußreichen süddeutschen Fürsten, Bayern und Oestreich, sie konten ihn mit einem Fußtritt zertreten; ein Musketier konte auf ihn anlegen – er war vogelfrei – und die Wildkaze lag am Boden – – Glauben Sie an das Unsichtbare? –

MATERJALIST: Es ging glücklich durch. Es waren eben damals aufgeregte Zeiten.

SPIRITUALIST: Es handelte sich damals um die Befreiung aus dem Bann einer fixen Idee, einer teokratischen Dogmatik; um die Abwälzung[69] der granitnen Last eines römischen Wahrhaftig-Gottseibeiuns. Und heute handelt es sich wieder um die Abwälzung eines Granitberges, der Alle fast zu erdrüken droht. Wir können nicht mehr atmen. Wir sind ermattet und geknikt. Auf unserem Naken liegt ein unerfüllbares Gesez. Wir wollen wieder aufrecht gehen. Nicht Gefrondete sein. Nicht an der einen Cheops-Piramide arbeiten. Milljonen von Arbeitern an einem einzigen Denkmal. Wir wollen ausziehen aus Egypten und unsere Seele erretten. Wir wollen unsere deutsche Sprache frei gebrauchen dürfen. Ohne Hinterhalt. Wie die umliegenden Völker wollen wir unsere Gedanken frei reden, schreiben und druken dürfen. Schon flüchtet sich bei uns der Gedanke in falsche Sazkonstrukzionen, die Sintax wird geknikt und man unterhält sich in Zeichen und Simbolen. Der Deutsche, der gewohnt ist, aufrecht zu gehn, hochgemutet zu sein, und seine Seele den Winden preis zu geben, muß frei reden dürfen; muß reden dürfen wie Hans Sachs, wie Fischart, wie Luther; sonst geht sein bestes Erbteil verloren.

MATERJALIST: Gott, geben Sie sich nicht so aus! Wenden Sie sich an Ihre Landsleute, an Ihre Vertretungen, an Ihre Parteien ...

SPIRITUALIST: Unsere Parteien? Daß es Gott erbarm'! Was treiben sie? Womit handeln sie? Schließen sie nicht undenkbarsten Bündniße? – Nehmen Sie gleich die Stärksten und Gewappnetsten: Die Sozialdemokraten und Ultramontanen, von denen die einen nur bedingt, die andern sicher[70] das deutsche Vaterland zu Grunde richten wollen. Reden sie nicht in der dunklen Sprache von Päderasten miteinander, von denen Keiner genau weiß, was der andere will, und verbinden sie sich nicht zu einem momentanen Zwek, und unter dem tiefsten Geheimnis und in der äußersten Dunkelheit? ...

MATERJALIST: Nun, da sind aber noch Andere.

SPIRITUALIST: Gut, nehmen Sie die Libera len, die in allen Glüh-Oefen Ausgedörrten, durch alle Waßer Gewaschenen, die Feigsten unter den Feigen, – die sich sogar bereit erklärt haben, an Gott zu glauben, wenn man ihnen den Terminhandel in Getreide läßt ...

MATERJALIST: Dann sind wir aber noch nicht fertig.

SPIRITUALIST: Oder die Konservativen, die Oberaufseher in Aegiptenland, die die Gottheiten von Oberägipten annehmen wollen, wenn man ihnen ihr Silber prägen läßt, oder die Götter von Unterägipten, wenn man ihnen ihre Feldfrüchte abkauft? – Dann, was ist noch da? – ein paar Pollaken, ein paar Franzosen, ein paar Dänen, ein paar Welfen: jeder hat einen Fetisch am Bendel: der eine eine Monstranz, der andere ein Herzöglein, der dritte ein Krönlein, der vierte ein Kodexlein, das man ihm vergolden soll, und wofür er seine Seele verkaufen will ... Nein, uns kann nur ein Gott helfen, oder wie Sie's nennen wollen, eine Macht aus dem Jenseits, Etwas aus der übersinnlichen Sfäre,[71] aus dem Unsichtbaren, wo Seufzer und Flüche in etische Werte umgeschmolzen werden – denn im Bereiche des Sichtbaren sind wir verloren ...

MATERJALIST: Sie tun wahrhaftig, als begänne morgen das tausendjährige Reich.

SPIRITUALIST: Ja, irgend Etwas muß beginnen. Wenn hier Alles verloren ist, Aller Hoffnungen geknikt, die besten Köpfe und Herzen niedergetreten und zurükgestoßen, dann begint der Glaube, die Gemüter auf ein Kommendes hinzuwenden, sie auf ein Jenseitiges zu richten, dann begint die Meßias- Idee in den Herzen Wurzel zu schlagen.

MATERJALIST: Da wäre ja auf einmal der allgemeinen Klage über die Glaubenslosigkeit unserer Zeit abgeholfen.

SPIRITUALIST: Ja, die Leute glauben aus Verzweiflung, und an einen Gott der Rache, über deßen furchtbare Gestalt unsere Frommen erschreken werden.

MATERJALIST: Und was soll der bringen?

SPIRITUALIST: Was er auch bringen wird, in irgend einem Punkte muß es beßer werden. Denn schlimmer, als wie heute, kann es ja nicht werden. Ob uns die Franzosen oder Engländer einsteken, oder ob uns die Rußen freßen, oder die Völker Asiens unterjochen[72] werden: je sicherer ein Volk mit fremdem Idiom über uns herrschen wird, um so sicherer winkt uns die Freiheit in unserer deutschen Sprache, die unsere Unterdrüker nicht verstehen werden. Lieber an den Waßern Babylons sizen und, wie Jeremias, in der eigenen Sprache schreiben und dichten dürfen, als im eigenen Lande bei fisischer Freiheit geistig geknechtet sein.

MATERJALIST: Rufen Sie keine falschen Götter an und spielen Sie nicht mit Gedanken, deren Verwirklichung Ihnen selbst furchtbar erscheinen wird.

SPIRITUALIST: Glauben Sie an das Unsichtbare?

MATERJALIST: Nein, Sie können mich nicht bekehren. Ordnung und Erscheinungen dieser Welt verlaufen im Bereiche des Sichtbaren. Die Weltgeschichte ist nicht das Weltgericht, sondern ein Produkt des Zufalls und das Resultat der Gewalt.

SPIRITUALIST: Wenn ich nicht an das Unsichtbare glaubte – an einen ursächlichen Zusammenhang des rein Psichischen, des Nicht-Verlautbar-Werdenden, des Hinuntergeschlukten mit der fisischen Welt des Schlagens und Geschlagen-Werdens, des Ringens und Kämpfens, wenn ich nicht wüßte, daß das, was wir in den lezten zehn Jahren heimlich gelitten haben, irgend wo aufgeschrieben ist, und in irgend einer Form umgemodelt in dieser sichtbaren Welt wieder als Kampf und Rache zum Vorschein komt, dann hielte[73] ich das Leben nicht mehr für lebenswert und müßte verzweifeln an Deutschland.

MATERJALIST: Glücklich der, der sich nicht trügt und auf Ungewißes verläßt. Sie sind jedenfalls ein entsezlicher Schwärmer! –[74]

Quelle:
Oskar Panizza: Dialoge im Geiste Huttens. München 1979, S. 57-75.
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