II

[251] Es sind nun zwei Jahre her, daß Friedrich Pecht den ersten Band seines biographischen und kunstkritischen Werkes »Deutsche Künstler des neunzehnten Jahrhunderts« veröffentlichte. Das Buch, in dem ein überlegener, in der steten Beschäftigung mit den edelsten Interessen gereifter Geist seine Anschauungen und Erfahrungen[251] niedergelegt hatte, begegnete lebhafter Teilnahme und fand seinerzeit auch in diesen Blättern die gebührende Würdigung. Das biographische Material war darin in durchaus historischem Sinne verarbeitet, d.h. der Verfasser begnügte sich nicht damit, uns ein möglichst getreues Bild der einzelnen künstlerischen Erscheinungen und Taten zu geben, sondern war auch zugleich bemüht, ihr Verhältnis zueinander festzustellen, ihren Zusammenhang mit den allgemeinen kulturellen Zuständen nachzuweisen. Jede gute Biographie muß ja auch ein Zeitbild sein, da es unmöglich ist, den Menschen von seiner Umgebung zu trennen.

Der Hauptvorzug dieses Buches ist Großes im großen Sinn aufzufassen. Außer dieser angeborenen und wichtigsten Fähigkeit kam dem Verfasser bei seiner Arbeit noch manches andere zu statten: erstens, daß er selbst Künstler ist, folglich auch für das Technische den sicheren Blick besitzt, den nur die Vertrautheit mit dem Handwerk geben kann; ferner, daß er auf seinen häufigen Wanderungen die Kunstwerke der verschiedenen Länder und Perioden kennen lernte und an dem edelsten, was sie hervorgebracht, Geschmack und Urteil gebildet hat; endlich, daß er in persönlichen Beziehungen zu den ausgezeichneten Männern stand, mit deren Lebens- und Bildungsgang, deren künstlerischem Wirken er uns bekannt macht. Diesem Umstande verdankt seine Darstellung eine Wahrheit, Wärme und überzeugende[252] Kraft, die das Erzählte als ein vor uns sich Begebendes, das Geschilderte als ein Selbstgeschautes erscheinen zu lassen. Mit Recht durfte der Verfasser in der Vorrede sagen: daß sein Buch erlebt ward, bevor es geschrieben wurde; man merkt es ihm auf jeder Seite an. Zu alledem ist Pecht auch ein vortrefflicher Schriftsteller, obgleich man seinen Stil keinen klassischen nennen kann; ein strenger Grammatiker dürfte diesen oder jenen Satzbau zu gewagt finden; aber diese kleinen, unbedeutenden Inkorrektheiten verschwinden vor der geistigen Macht, mit welcher hier die Rede behandelt wird, und tun der Originalität, Plastik und Prägnanz des Ausdruckes nicht den geringsten Eintrag.

Diesem ersten Band ist nunmehr der zweite gefolgt, der in bezug auf Trefflichkeit der Darstellung seinem Vorgänger gleichkommt und ihn an Reichhaltigkeit übertrifft. Ich möchte eine darin vorkommende Stelle dem Werk als Motto voransetzen; sie lautet: »Man wird Kunstwerke nie ganz verstehen, wenn man weder den kennt, der sie geschaffen hat, noch die persönlichen Verhältnisse, unter denen dies geschah, noch die Zeit, die Nation, unter deren Einflüssen sie entstanden sind. Der sonst ganz erlaubte Rückschluß von den Werken auf den Mann ist schwierig, wenn man nicht weiß, was auf ihn eingewirkt, was er von anderen überkommen, wie viel neues er hinzugefügt hat.« Mit diesen Worten ist der Sinn und Zweck des[253] ganzen Unternehmens ausgesprochen. Das Biographische, wenn auch von hohem selbständigen Interesse, soll uns vor allem die große künstlerische Bewegung verdeutlichen, die in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts begonnen hat und bis in unsere Tage fortdauert. Es handelt sich hier vornehmlich darum: jedem der an ihr Beteiligten sein Recht zuzuerkennen – niemandem zu liebe, niemandem zu leid.

Der vorliegende Band enthält elf solcher Künstlerporträte. Das erste derselben führt uns Karl Rottmann vor, den herrlichen Meister der Landschaftsmalerei, dessen stets auf das Höchste gerichteter Sinn ihn, wie der Verfasser sehr richtig bemerkt, zum Geistesverwandten Cornelius' macht, dem er jedoch an Schönheitsgefühl und spezifisch malerischer Anlage überlegen war. Die Behauptung, daß die Schöpfungen die ser beiden Begründer einer neuen Kunstära keinen sichtbaren Einfluß auf die Leistungen der Gegenwart ausüben, dürfte, wenigstens was Cornelius betrifft, doch zu beschränken sein. Allerdings ist es dem großen Manne nicht gelungen, eine Schule der Historienmalerei, wie er sie auffaßte, zu stiften, aber in vielem ist sein indirekter Einfluß sehr wohl bemerklich. Das Stilgefühl, der Rhythmus der Linien, die harmonische Gruppierung, die wir an den bedeutenden Werken (und nur diese kommen in Betracht) der heutigen realistischen Kunst wahrnehmen, stammen aus seinem Erbe. Bei Rottmann[254] läßt sich ein solcher Nachweis allerdings augenblicklich nicht führen; allein so gewiß das ideale Bedürfnis der Menschheit wohl eine Weile unterdrückt, aber nun und nimmermehr ausgerottet werden kann, wird er einst, wenn eine höhere Auffassung der Natur wieder an die Stelle ihrer photographischen Wiedergabe treten wird, nicht weniger Schüler und begeisterte Anhänger finden als Poussin und Claude Lorrain. Bei Geistern solchen Ranges ist es nicht so sehr wichtig, ob die Saat, die sie ausgestreut, früher oder später aufgeht; sie ist unvergänglich und wird schließlich doch ihrer würdige Früchte tragen. In Rottmann selbst tritt uns eine überaus edle und liebenswerte Persönlichkeit entgegen, eine echte Künstlernatur voll begeisterter Schaffenslust, voll freudiger Empfänglichkeit für alles, was das Leben zu erhöhen und zu verschönern vermag, wohlwollend, gütig, stets bereit andere zu fördern – ein großes Talent und ein großes Herz. Keiner, der den seltenen Mann gekannt hat, wird seiner ohne Verehrung, Liebe und Wehmut gedenken.

Wenn in dem vorliegenden Bande die Landschaftsmalerei nur durch Rottmann allein repräsentiert wird, so ist die Historienmalerei um so zahlreicher vertreten. Die profane, wohlgemerkt; der religiösen wird weder in diesem noch in dem ersten Bande erwähnt. Mir scheint dies eine Lücke, auf deren nachträglicher Ausfüllung man bestehen muß. Mag der Verfasser auch[255] vielleicht die Ansicht hegen, daß diese Kunstrichtung sich ausgelebt hat, so dürfen doch, selbst von seinem Standpunkt aus, ihre letzten bedeutenden Ausläufer, Overbeck, Führich, Veit, Steinle, nicht mit Schweigen übergangen werden. Sollten ihre Namen auch in den noch zu erwartenden Bänden fehlen, so würde das Werk dadurch den Anspruch auf Vollständigkeit verlieren.

Halten wir uns inzwischen an das Gegebene, das in der Tat rühmens- und dankenswert genug ist. Überaus geistvoll und mit großer psychologischer Vertiefung ist namentlich das Bild W. v. Kaulbachs ausgeführt, und der Einfluß hervorgehoben, den sein Charakter, seine »Natur ohne Liebe und Glauben« auf seine Produktion hatte. Auf die nachwirkende Macht früher Jugendschicksale dürfte hier aber zu viel Gewicht gelegt sein, denn am Ende kommt es weit weniger auf unsere Erlebnisse an, als auf die Keime, die sie in uns vorfanden und zur Reife brachten. Wenn Pecht die Erklärung für Kaulbachs Skepsis und ätzende Ironie, seine egoistische Härte in dem Drucke zu finden glaubt, unter dem er als Kind gelitten hatte, so möchte man auf Charles Dickens hinweisen, um zu zeigen, daß gleiche Ursachen nicht immer gleiche Wirkungen haben. Auch der englische Humorist hat eine Kindheit verlebt, deren Gefährten Not, Schmach und Elend in solchem Maße waren, daß, wie sein Biograph[256] Forster berichtet, noch der gereifte, mit Ruhm und allen Glücksgütern überhäufte Mann nur mit Schaudern an sie zurückdenken konnte. Aber alles Bittere, das er kennen gelernt, diente nur dazu, die Fülle von Liebe und Erbarmen, die in seiner Seele lag, zur vollsten Entfaltung zu bringen, inmitten der Wirrnis dieser Welt den Glauben an eine höhere Ordnung der Dinge in ihm zu befestigen. In Kaulbach brachten die erlittenen Drangsale die entgegengesetzte Wirkung hervor, weil eben seine Gemütsanlage von vornherein eine gänzlich verschiedene war. Der harte Kampf ums Dasein, den er zu bestehen hatte, dauerte übrigens nicht allzu lang; sein außerordentliches Talent, von großer geistiger Überlegenheit und einer glanzvollen Persönlichkeit unterstützt, verhalf ihm rasch zum Siege. Noch kaum an der Schwelle des Mannesalters angelangt, erfuhr er die Genugtuung, die Welt fortan ebenso geringschätzig behandeln zu dürfen, wie sie es vordem mit ihm getan.

So viel vom Menschen; Pechts Urteil über den Künstler läßt sich folgendermaßen resumieren: »Schwächlich im Kolorit, mager und häufig konventionell in der Formengebung, besitzt Kaulbach dennoch eine künstlerische Eigenschaft, in der er es mit vielen sonst weit größeren Meistern aufnimmt: es ist die bezaubernde Fruchtbarkeit der Phantasie, die sich in Erfindung von Motiven, in Bau und Verschlingung der Gruppen[257] wahrhaft schöpferisch zeigt. Fehlt ihm hingegen die Hingebung, die zu genauer Beobachtung und liebevoller Durchdringung der Natur erforderlich ist, so hängt dies mit seinem verstandesscharfen, kalkulierenden Wesen zusammen, das ihn nie naiv oder auch nur harmlos produzieren läßt. Unschuld, außer bei Kindern, Naivetät, Keuschheit im höchsten Sinne des Wortes darzustellen, wird ihm schwer, ja geradezu unmöglich. Dennoch ist die Skala der Affekte und Empfindungen, die er auszudrücken weiß, sehr groß, trotz jener Einschränkungen; vorzüglich gelingen ihm die bösen Leidenschaften, speziell das, was mit der dämonischen Seite des Menschen zusammenhängt.«

Ich möchte dieses Urteil unbedingt unterschreiben und nur statt »der dämonischen Seite« lieber »das Verruchte, Schlimme und Törichte in der Menschennatur« sagen. Eigentlich dämonische Kraft besaß Kaulbach nicht, wie seine Hexen in der Shakespeare-Galerie nur zu deutlich zeigen. In die tiefsten Abgründe der Seele ist sein Blick nie gedrungen, aber mit unvergleichlicher Schärfe weiß er das Frevel- und Lasterhafte, wie das Gemeine, in jeder Maske, die es vornehmen mag, zu erkennen. Seine Zeichnungen zu Reineke Fuchs sind das sein Wesen und die Natur seines Talents bezeichnendste Werk, das er hervorgebracht hat, und wohl auch sein vollendetstes. Daß es aber diesem Satiriker auch an einem starken ethischen[258] Pathos nicht fehlte, hat er in seinem »Arbues« bewiesen, auf dem die Figuren des Ketzerrichters und der zwei ihn begleitenden Mönche wahre Meisterwerke der Charakteristik sind.

Die Studie über die im Zenit seines Lebens von einem gräßlichen Schicksal ereilten Alfred Rethel beginnt mit folgender Betrachtung: »Die anscheinend erbarmungslose Kälte, mit der die Natur ihre schönsten und glänzendsten Bildungen ebenso gleichgiltig verbraucht wie die gemeinsten, hat etwas Empörendes für unseren Geist. Scheint doch eine unerhörte Grausamkeit, ein dämonischer Hohn über die edelsten menschlichen Bestrebungen darin zu liegen!« In der Tat kann man sich bei der Erinnerung an Rethel ähnlicher Gedanken kaum entschlagen. Mit den herrlichsten Gaben verschwenderisch ausgestattet, zog er schon im frühen Jünglingsalter durch seine »Schlacht bei Sempach« die Aufmerksamkeit der deutschen Kunstwelt auf sich, bekundete bei stets fortschreitender Entwicklung immer deutlicher sein Anrecht, den größten Talenten seines Faches beigezählt zu werden, errang alles, was das Leben wert und köstlich macht, um dann erst dem geistigen, wenige Jahre später dem physischen Tode zu verfallen. Sein ganzes Wirken war auf einen Zeitraum von kaum zwanzig Jahren beschränkt, aber innerhalb desselben hat er Unvergängliches geleistet. In seinen großartigen, von wahrhaft geschichtlichem[259] Geist oder wildem Humor durchwehten Kompositionen wird sein Andenken fortleben, und die bekannteste, verbreitetste derselben, »Der Totentanz«, stets zu den Kleinodien der deutschen Kunst gerechnet werden.

An Buonaventura Genelli, diesen Hellenen, der – ein toller Zufall – nach Berlin und in unser Jahrhundert verschlagen wurde, hebt der Verfasser das ganz Antike des Wesens hervor, das seine klassische Dichtung bestimmte. Die Ausschließlichkeit, mit der er sie verfolgte, verhinderte seine Schöpfungen bei der Nation, um deren Anschauungs- und Empfindungsweise er sich nie kümmerte, populär zu machen. Sehr treffend bemerkt Pecht hierüber: »Cornelius ging in seiner Behandlung ähnlicher Stoffe gerade den umgekehrten Weg. Er übersetzte das Griechische in das gute Deutsch des Dr. Luther, markig, nervig, großartig und ein wenig grobknochig, jedenfalls aber viel verständlicher für uns, die wir unseren Sitten zufolge die Art eines Menschen mehr aus seinem Gesichtsausdruck als aus seinen Körperformen und Bewegungen herauszulesen gewohnt sind.« Wenn Pecht aber behauptet, daß man, um Genelli verständlich und genießbar zu finden, erst Griechisch gelernt haben müsse, so ist dies eben nur ein Scherz. Auf das große Publikum konnte und kann Genelli, schon wegen der Stoffe, die er behandelt, und des antiken Geistes, mit dem er sie beseelt, nicht wirken; wer aber Sinn für die Schönheit der Linien[260] und außerdem die Fähigkeit besitzt, sich im Geist in eine ideale Sphäre zu versetzen, wird ihn verstehen und seine poetische Kraft würdigen können. Der Gelehrsamkeit bedarf es dazu nicht.

Genellis entschiedenster Widerpart, Adolf Menzel, der resoluteste Vorkämpfer des Realismus, ist mit einer Vorliebe behandelt, die, wenn auch durch das ungewöhnliche Talent dieses Künstlers gerechtfertigt, immerhin in einem Zusammenhang mit der politischen Gesinnung des Verfassers steht. »Deutschland über alles!« ist sein Wahlspruch, dessen Widerhall das ganze Buch durchrauscht. Da nun die Einigung Deutschlands durch Preußen vollzogen ward, so bringt er diesem Staat, und allem, was zu seiner Verherrlichung beiträgt, eine lebhafte Sympathie entgegen. Zudem liegt es in Pechts künstlerischer Sinnesart, das Charakteristische höher anzuschlagen, als das bloß formell Schöne; somit erklärt sich's aus verschiedenen Ursachen, daß er an Menzel, dem Schilderer der Natur, wie sie leibt und lebt, dem Illustrator des preußischen Kriegsruhmes, seine Freude haben muß. Um so schwerer mochte ihm das Geständnis fallen: daß der Staat, dem Menzel angehört, dem sein künstlerisches Schaffen unentwegt geweiht war, ihn lange Zeit fast unberücksichtigt ließ, um ihm endlich einen Auftrag zu geben, der mit dem Talent und der Richtung des Künstlers im vollkommenen Widerspruch stand. Ich spreche von[261] dem bekannten Krönungsbilde. Pecht schreibt das Mißlingen desselben zumeist äußeren Umständen zu, und meint: dergleichen dürfe überhaupt immer erst nach hundert Jahren gemalt werden. Der Hauptgrund des Nichterfolges liegt wohl in dem Naturell des Künstlers. Käme Menzel in hundert Jahren wieder zur Welt und sollte wieder dieselbe Aufgabe lösen, so käme er damit ebensowenig zustande. Solche Staatsaktionsbilder bedingen einen Sinn für das Pomphafte, feierlich Abgemessene, der sich mit dem besten, was Menzel sein Eigen nennt, absolut nicht verträgt.

In der Studie über Hans Makart beweist Pecht jedoch, daß er, trotz seiner Vorliebe für die in nationalem Boden wurzelnde Kunst und trotz seiner Geneigtheit, auf das Charakteristische des Ausdruckes mehr Gewicht zu legen, als auf die Schönheit der Darstellung, auch ein Talent, dessen Stärke vorzüglich, ja ausschließlich, in dieser liegt, freudig zu würdigen weiß. Noch mehr: der sinnliche Reiz, die blühende Pracht, die Fülle von Gestaltungskraft, die Makarts Bilder bekunden, veranlassen Pecht mitunter angesichts derselben den geistigen Wertmesser beiseite zu legen. Von dem Glanz einer in manchem Sinn unleugbar genialen Erscheinung geblendet, geht er zu leicht darüber hinweg, daß ihr doch gerade dasjenige fehlt, was die Signatur jeder höchsten Kunstbegabung ist: die Macht unser Gemüt zu erheben, unseren Geist zu[262] beschwingen. Gegen eine Parallele, die Pecht zieht, muß ich entschieden Protest erheben; seine Behauptung: Makart halte E. Delacroix die Wage, ist geradezu eine Ketzerei. Damit soll nicht geleugnet werden, daß Makart ein reineres Schönheitsgefühl, eine größere Leichtigkeit der Erfindung besitzt als der französische Meister; aber in welcher anderen Beziehung reicht er an diesen hinan? Nicht einmal im Kolorit, insofern man dieses Wort nicht auf die Farbenpracht und Farbenharmonie des Ganzen, sondern auf die Karnation anwendet. Diese ist bei Delacroix vom wärmsten Lebenshauch durchglüht, während sie bei Makart oft etwas krankhaftes, elfenbeinartiges hat. Ferner: Delacroix hat Gestalten geschaffen, die sich der Erinnerung unauslöschlich einprägen, die in Lust und Leid unsere Teilnahme stürmisch an sich reißen, deren tiefsten Herzschlag wir zu vernehmen glauben. Wo findet sich ähnliches bei Makart? Die Muse Delacroix' trägt einen Denkerzug auf der Stirn und ein leidenschaftlich bewegtes Herz in der Brust; Makarts Muse gleicht der Undine – sie ist ein Elementarwesen voll Reiz und Zauber, aber ohne Seele.

In höchst anziehender Weise erzählt Pecht den Lebens- und Bildungsgang Defreggers und bespricht seine Werke, die, Dank den vervielfältigenden Künsten, zum werten Eigentum des Volkes geworden sind, ein Born der Erquickung, Freude und Erhebung für alle.[263] Als charakteristisch für Defregger hebt Pecht hervor, daß dieser Künstler, obwohl er seine Vorwürfe durchgängig dem bäuerlichen Leben in seinem heimatlichen Tirol entlehnt, und in der Darstellung desselben durchaus wahr und naiv bleibt, dennoch das Niedrige und Gemeine gar nicht zu kennen scheint. Ein edler Sinn im Verein mit einer seltenen Feinheit des Geschmackes lassen ihn allem moralisch Anwidernden, wie einer Verunreinigung, aus dem Wege gehen. Die ländlichen Sitten- und die historischen Genrebilder Defreggers werden mit wohltuender Wärme gewürdigt, ebenso sein neuester Versuch in der eigentlichen Geschichtsmalerei, der in seiner Schlichtheit so ergreifende »Andreas Hofer auf dem Gang zur Hinrichtung«. Die Leser dieser Blätter wissen, welchen ungeheueren Erfolg das Bild auf den Ausstellungen in Berlin, München, Wien hatte. Diejenigen aber, die es nicht selbst gesehen haben, sind durch Pechts Bericht in den Stand gesetzt, sich von dem herrlichen Werke mindestens eine richtige Vorstellung zu machen.

Mit gleicher Treue ist Ludwig Passini geschildert, der liebenswürdige Künstler, der dem Wesen des italienischen Volkes dasselbe feine und tiefgreifende Verständnis entgegenbringt, das Defregger seinen Landsleuten gegenüber bewährt. Auch ihm gilt als leitender Grundsatz: daß die Kunst alles, das Furchtbarste, Grausamste, Entsetzlichste darstellen dürfe, aber nie das[264] Widerwärtige, Ekelhafte. Um ganz zu begreifen, wie sehr er darin Recht hat, muß man Silvio Rottas auf der vorjährigen Pariser Ausstellung prämiierte »Costumi veneziani« gesehen haben, deren Naturwahrheit und Lebensgefühl einem durch die abstoßende Gemeinheit der Charaktere bis zum Unerträglichen verleidet wird. – Mit gutem Fug fragt Pecht: welch anderes Land drei Genremaler wie Knaus, Defregger und Passini aufzuweisen habe? Er hätte auch noch Vautier nennen dürfen, denn wenn auch aus der französischen Schweiz gebürtig, ist dieser Künstler seiner Empfindungsweise und seiner Bildung nach doch so ganz deutsch, als hätte er am Rheingelände oder in einem der idyllischen Täler des Schwarzwaldes zuerst das Licht der Welt erblickt.

Dem geistvollen Romantiker Arnold Böcklin sind eingehende Betrachtungen gewidmet. Ein Romantiker ist er nicht in dem landläufigen, sondern in dem Sinne, daß seine gewaltige Phantasie sich's an der realen Welt nicht genügen läßt, und ihrem kühnen, oft abenteuerlichen Drang sich eine eigene schafft.

Der Aufsatz über Franz Lenbach, den größten deutschen Porträtmaler der Gegenwart, ist schon deshalb höchst interessant, weil er gewissermaßen eine Geschichte der modernen Porträtmalerei gibt. Am längsten von allen Kunstzweigen verblieb sie in einem kläglichen Zustande, die schmählich ausgebeutete Domäne gewisser[265] Modemaler, die sich den Forderungen eines in künstlerischen Dingen unzurechnungsfähigen Publikums anbequemten. Um sie aus solcher Verkommenheit wieder zu Ruhm und Ehren zu bringen, war das Talent allein nicht genug – auch unter jenen Modemalern gab es mitunter bedeutende Talente – es mußte die künstlerische Begabung von einem Charakter unterstützt werden, dessen Stärke und Festigkeit kein Transigieren mit dem verdorbenen Zeitgeschmack zuließ. Bei Lenbach traf beides zusammen; keine Rücksicht auf Beifall und raschen Erfolg vermochte ihn in seiner besseren Überzeugung untreu zu machen, die ihn im Studium der Natur und der alten Meister das alleinige Heil erkennen ließ. Die Kämpfe, die der Künstler zu bestehen hatte, bevor er siegreich durchdrang, werden von Pecht mit reizendem Humor erzählt.

Die eigentliche Krone des Buches, sein künstlerisch vollendetster Teil, ist jedoch ein mit ungemeiner Liebe und Sorgfalt ausgeführter Essay über Cristian Rauch. Eben weil diese Arbeit so vorzüglich ist, halte ich es für das beste, den Leser auf sie selbst zu verweisen, da flüchtige Andeutungen, kurze Auszüge nicht den richtigen Begriff von ihrem Wert und ihrer Bedeutung zu geben vermöchten. Hier fallen die Lebensgeschichte eines der größten Künstler, die Geschichte einer vielbewegten Zeit und einer neuen Kunstentwicklung in eins zusammen.[266]

Überblickt man die Künstlerschar, die an dem Verfasser einen deutschen Vasari gefunden, so wird man der mächtigen Wandlung inne, die sich in Deutschland im Laufe dieses Jahrhunderts vollzogen hat, nicht nur, daß die bildende Kunst nach langem Stillstand wieder eine Fülle von edlen und glänzenden Leistungen hervorbrachte, sie ist auch dem allgemeinen Bewußtsein um so vieles näher gerückt, nimmt in unserem Leben eine wichtige Stelle ein, und wirkt erhebend, veredelnd, geistig befruchtend auf die weitesten Kreise. Von Jahr zu Jahr schlägt sie festere Wurzeln, entfaltet sie reichere Blüten, während die Dichtkunst in demselben Maße versiegt und verkümmert. Mir dünkt, es würde sich der Mühe lohnen, den inneren Gründen dieser befremdenden Tatsache nachzuforschen.[267]

Quelle:
Betty Paoli: Gesammelte Aufsätze. Wien 1908, S. 251-268.
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