63. Gedult überwindet alles.

[130] Es giebet Leute / die ihre Affecten zwingen können /daß sie über die Beschimpfungen unempfindlich zu seyn scheinen. Wann diese Leute nicht rechte Junger unsers Heilandes sind / so weiß ich nicht wer es seyn wird.

Eine Person gutes Wandels / und seltsamer Gedult / befande sich einsten in[130] einer Gesellschafft / vielleicht ihre Gedult zu probieren / wurde von einem ungeschickten angegriffen / der sagte ihm vielerley vor /und bemühete sich das Lob schwartz zu machen. Dieser bewegte aber sich so viel darob / als ein Felse /wann bey grossen Sturmwind die Wellen daran schlagen. Jederman verwunderte sich über der Gedult dieses Socratis / welcher in einem rechtmässigen Zorn einen grossen Hader erwecken hätte können / daraus groß Unglück entstanden wäre. Nicht weniger verwunderten sich die Zuhörer über die Antwort / die er gabe: Könnet ihr mir / sprach er / nichts anders verweisen / als dieses? Ich dachte / ihr wollet mich Dieberey / Ehebruch und anderer Ubelthaten halber beklagen. Lasset uns alle beede lügen / nach eurem sagen bin ich ein lasterhaffter Mensch / nach meinem seyd ihr ein ehrlicher / frommer und tugendhaffter Mann / der niemand beleidiget / und nie affterredet hat. Diese Antwort gereichte dem einen zu Ehren /dem andern machte es verirret / der davon[131] gienge schamhaffter als ein Wolf / der in einem tieffen Graben ist gefallen.

Quelle:
Parivall, J[ean] N[icolas] d[e]: Sinnreiche / kurtzweilige und Traurige Geschichte [...]. Nürnberg 1671, S. 130-132.
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