[194] Willhelm Southwell. Lucie Woodvil.
WILLHELM. War es nicht eine Träne, meine Lucie, die ich Sie diesen Augenblick von Ihren Wangen abtrocknen sah? Verbergen Sie das Geheimnis dieser Träne vor Ihrem Southwell nicht.
LUCIE. Sie irren sich, Sir Willhelm, und war es ja eine, so war es eine Träne der Freude, die mich Ihre Sorgfalt und Ihre Zärtlichkeit, womit Sie Ihre arme verlassene Lucie überhäufen, zu vergießen nötigte.
WILLHELM. Täuschen Sie mein Herz nicht. Es weiß die Tränen der Freude und des Grams voneinander zu unterscheiden. Wieviel Qual hat[194] mich nicht schon dieser Gram, den ich seit einiger Zeit in Ihrem Gesichte lese, gekostet! Können Sie empfinden, was das Herz Ihres Southwells, der Sie noch mehr als ein Vater seine Tochter lieben würde, wenn es möglich wäre, bei Ihren Leiden fühlen muß? Können Sie es empfinden, Lucie? Ohnmöglich können Sie es. Sie würden sonst Ihren Schmerz in seinen freundschaftlichen Busen ausschütten. Sie würden ihn in Ihre ganze Seele hineinschauen lassen. Er würde Sie sodann trösten und vielleicht die Freude genüßen, Sie durch die Hilfe Ihrer Tugend und seines Trostes weniger traurig zu sehen. Warum rauben Sie doch Ihrem besten Freunde das elende Vergnügen, mit Ihnen wenigstens klagen zu dürfen?
LUCIE. Sie töten mein Herz durch Ihre Gütigkeit. Verschwenden Sie solche nicht länger. Sie verschwenden sie an einer Unwürdigen.
WILLHELM. An einer Unwürdigen, da meine Lucie tugendhaft ist?
LUCIE beiseite. Elende Tugend! Zu Southwell. Ihre Zärtlichkeit für mich läßt Ihnen vielleicht meinen Gram heftiger mutmaßen, als er wirklich ist. Ich verberge mein Herz nicht länger vor Ihnen, da Sie es befehlen, und da ich es nur ohnedies, sich zu verbergen, gezwungen habe, damit ich Sie nicht beleidigen möchte. Vergeben Sie also meiner Schwachheit, wenn Sie aus meinem Geständnisse lernen, daß ich die wenigsten Proben Ihrer Liebe verdiene. Sie haben mit mir, die ich, von meinen Eltern verlassen, dem Elende und der Dürftigkeit ohne Sie zum Opfer geworden sein würde, Mitleiden gehabt. Sie haben mir Gütigkeiten erwiesen, ehe noch meine Lippen fähig gewesen, Ihnen dafür zu danken. Sie haben mich bei der Frau Norris in allem demjenigen, was das Leben eines Frauenzimmers nützlich und angenehm machen kann, erziehen lassen. Ich empfinde, seitdem ich in Ihrem Hause bin, jeden Augenblick einen neuen Beweis Ihrer Zärtlichkeit, und demungeachtet bin ich eine Undankbare gegen Sie. Eine Undankbare, die, da sie jede Minute ihres Lebens der Freude und dem Danke für Sie aufopfern sollte, sie sehr oft dem Grame und der Traurigkeit widmet. Aber ich weiß, Ihr gütiges Herz verzeihet mir, wenn es den Quell dieser Traurigkeit wissen wird. Was kann er anders sein, wenn Sie mir verzeihen sollen, als das Verlangen, meine Eltern zu kennen. Sie haben mir zwar oft gesaget, daß Sie dieselben nicht wissen; haben Sie wenigstens nicht einige Mutmaßungen, wer sie waren? So grausam sie auch mit mir umgegangen sind, so bin ich doch ihr Kind und bin ihnen meine Liebe schuldig. Ach, vielleicht zwang sie die Not, grausam gegen mich zu sein! Vielleicht zerfloß ihr[195] blutendes Herz in dem Gefühle ihrer Schmerzen, da sie mich dem Elende und dem Mangel überlassen mußten. Urteilen Sie, was ich entbehre, da ich mich nicht zu ihren Füßen werfen und um ihren Segen bitten kann; da ich nicht diesen vielleicht allzu harten Vater durch meine Tränen erweichen kann, einen Blick voll Vaterliebe und Erbarmung auf mich zu werfen; da ich nicht diese zärtliche Mutter, die vielleicht ebensosehr nach mir seufzet als ich nach ihr, an meine Brust drücken und an die ihrige voll kindlicher Entzückung hinsinken kann. Doch vielleicht seufze ich nach ihnen, da sie nicht mehr sind, und ich ihr Angesicht nie sehen werde. Sie weinen, menschenfreundlicher Sir Willhelm. Sie kennen die Natur. Sie sind selbst Sohn gewesen, der aber die Freude hatte, seine Eltern umarmen zu können. Sie sind Vater, und Sie wissen also, was Ihr Sohn empfinden muß, wenn Sie ihn an Ihr väterliches Herz drücken. Was kann ich Unglückliche wohl fühlen, wenn ich seine Liebkosungen sehe, ohne ebendiese Liebkosungen meinem Vater erweisen zu dürfen? Ich weiß, Sie sind mein andrer Vater. Aber vergeben Sie, die Natur hat auch ihre Rechte. Nennen Sie mir meine Eltern, gütiger Southwell, dies ist das einzige Mittel, meinen Gram zu befriedigen. Sie schweigen und vergießen Tränen? Können Sie mir diese einzige Bitte abschlagen? Verdiene ich vielleicht nicht, diese Eltern zu wissen? Oder waren ihre Laster die Ursache, aus der sie mir den Schmerz ersparen wollen, mich ihre Tochter zu nennen?
WILLHELM. Lucie, Lucie, was für einen Sturm haben Sie auf meine Seele getan! Mein Herz hat bei jedem Ihrer Worte blutige Tränen geweinet. Warum quälen Sie mich, Ihnen eine Sache zu entdecken, die ich Ihnen nicht entdecken kann. Ich habe Ihnen oft gesaget, daß sie mir selbst fremd sind, daß ich Sie weggesetzet auf einem meiner Güter gefunden habe, aber daß ich vermute, daß Sie von gutem Stande sind. Umarmen Sie mich, meine Lucie; sehen Sie mich unterdessen als Ihren Vater an. Wollen Sie nicht meine Tochter sein? Sagen Sie mir, wie ich noch zärtlicher gegen Sie sein kann, als ich schon bin, und selbst mein Leben soll Ihre Wünsche befriedigen.
LUCIE. Zu viel, zu viel Gütigkeit! Hätten diese unbarmherzigen Eltern doch nur den geringsten Teil derselben empfunden. Sie waren notwendig aus einem schlechten niedrigen Stande, den der Mangel einer edeln Seele und das Laster fähig gemachet haben, so grausam gegen mich zu sein. Doch vergeben Sie mir, ich erröte über diesen Gedanken, er war unedel.[196]
WILLHELM. Ich lobe Ihre Tugend, mit der Sie Ihre eigne Schwachheiten verdammen. War dieser Gedanke nicht das Werk eines kleinen Stolzes? Lassen Sie mich, so wie in der Zärtlichkeit für Sie, also auch in der Wachsamkeit für Ihre Tugend Vater sein. Erlauben Sie dieser Wachsamkeit eine Vermahnung. Stolz und Liebe, die zween gefährlichsten Feinde Ihres Geschlechts erfodern ein beständig wachsames Herz von Ihnen. Auch dann oft, wenn sich die strengste weibliche Tugend schmeichelt, sie besiegt zu haben, herrschen sie schon über dieselbe. Der Stand Ihrer Eltern sei, wer er sei: Ihr Herz allein kann Sie entweder über diesen Stand emporheben oder unter denselben erniedrigen.
LUCIE. Meine Verwegenheit hat Sie beleidiget!
WILLHELM. Sie können mich nie beleidigen, wenn Sie sich auf eine so edle Art selbst tadeln. Aber war dies Ihr ganzer Gram, den Sie mir zu entdecken hatten?
LUCIE. Er war es. Sie seufzet.
WILLHELM. Sie seufzen, Lucie?
LUCIE. Verzeihen Sie diesen Seufzer der Natur, die ihn nicht unterdrücken kann.
WILLHELM. Es schmerzt mich, daß ich Sie traurig sehe. Ich, der ich so gern die halbe Last Ihrer Schmerzen auf mich nehme, würde Ihnen ebenso gern die Hälfte meiner Freuden mitteilen. Aber ich würde Sie beleidigen, wenn ich in der Gegenwart einer Traurigen fröhlich sein könnte.
LUCIE. Wie? könnte Lucie fähig sein, bei all ihrem Grame ein Glück nicht zu empfinden, das ihren gütigen Southwell fröhlich machen kann?
WILLHELM. So hören Sie denn die größte Freude, die ein Vater zu empfinden fähig ist. Ich hoffe, meinen Sohn bald durch eine tugendhafte Gemahlin glücklich zu sehen. – Was fehlt Ihnen? Sie werden blaß. Gott! wie erschrecken Sie mich.
LUCIE. Fürchten Sie nichts. Es ist eine von den kleinen Folgen meines vielleicht unnötigen Grams – Nun ist sie vorbei – Ihren Sohn glücklich zu sehen, sageten Sie? Welche Freude für Sie! Welche Freude muß es nicht also auch für mich sein! Ja, wie glücklich wird er sein, wenn er in den Armen seiner Gemahlin ihr sagen wird, daß er sie liebet, und wenn er höret, daß er geliebt wird. Aber nur Ihre elende Lucie wird immerfort unglücklich[197] sein, wird jederzeit unter der Last ihrer Schmerzen den Verlust – ihrer Eltern beseufzen müssen. Aber weiß es Ihr Sohn schon, daß er glücklich sein soll? Nennen Sie mir doch –
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