Der siebente Auftritt

[206] Amalie allein.


AMALIE. Kannst du endlich einmal deine Tränen unbemerkt fließen lassen, o Herz? Die unglückliche Lucie! Meine ganze Seele zerfließt in Mitleiden gegen sie! Ihr Herz war edel. Stolz, Hitze der Leidenschaften, Nachsicht gegen diese Hitze beförderten ihren Fall – Tadelsüchtiges Herz! würdest du nicht gefallen sein, wenn du Lucie gewesen wärest? Karl ist wirklich undankbar gegen sie. Aber wer hat ihn undankbar gemachet? Warst du es nicht, obgleich wider deinen Willen, Amalie? Er liebet mich. Seine Seufzer, sein und mein Vater bitten, und darf ich es sagen? mein eigen Herz dringt mich, ihn wiederzulieben. Boshaftes Herz! welcher niedriger Gedanke für dich. Sieh auf die Tränen der armen Lucie und lerne deine Pflicht, lerne Karln vergessen. Gedenke, wie kostbar sie ihn sich erkauft hat, würdest du ihr ihn rauben können? Nein! wahrhaftig, er selbst ist deiner unwürdig. Verzeihe mir diesen Stolz, meine Freundin. Weiß mein Vater und Karls Vater, wie hoch er der armen Lucie zu stehen kömmt? Wäre es möglich, daß sie es wissen dürften, sie würden mich nicht länger nötigen, Karls Hand anzunehmen. Doch dies Geheimnis muß vor ihnen, so lange es sein kann, verborgen bleiben. Ich glaube, daß ich Gewalt über Karls Herz habe. Ich will sie nutzen, ihn zu Lucien zurückzuführen. Die unglückselige Seele! bat sie nicht selbst ihre Nebenbuhlerin darum? Ich weiß, Karl liebt sie, nur die Hoffnung zu mir machet ihn wankend. Ich muß sie gänzlich aus seinem Herzen ausrotten. Der elende Mensch! was für eine Genugtuung ist alle seine Zärtlichkeit gegen die Schande, welche er Lucien aufgelegt hat? Gott! schütze die Tugend deiner Amalie (deiner kann ich vielleicht noch sagen), daß sie niemals nach einer so elenden Genugtuung seufzen darf!

Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 206-207.
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