Der zweite Auftritt

[210] Amalie. Karl Southwell.


AMALIE. Sei elend, Lucie! Seufze über mich, verfluche mich! Karl sieht deine Zähren, höret deine Flüche, als ein Sieger die Zähren und Flüche seines überwundnen Sklaven. Habe ich noch weiter etwas von dir zu wünschen? – Ich danke Ihnen für diese Reden, Karl, ob ich sie gleich Ihrentwegen verabscheuen muß. Sie ersparen mir vielleicht die Qual, Sie dereinst sagen zu hören: Sei elend, Amalie! Seufze über mich, verfluche mich. Karl sieht deine Zähren, höret deine Flüche, als ein Sieger die Zähren und Flüche seines überwundnen Sklaven. Habe ich weiter etwas von dir zu hoffen?

KARL. Allzustrenge Amalie, verzeihen Sie diese übereilten Ausdrücke einer von Lucien beleidigten Liebe. Sie wissen es nicht, sie hat mich mit den härtesten Schmähungen verworfen. Betterton hat –

AMALIE. Ja, ich weiß es: Sie hat Ihnen den Schmerz gezeigt, mit[210] welchem eine unglückliche Tugend die Verachtung des Urhebers ihres Unglücks empfinden muß. Der Herr Betterton, ein würdigerer Liebhaber als Sie, hat ihr unter gewissen Bedingungen Reichtümer angeboten, welche ihr Herz beruhigen würden, wenn Reichtümer eine beleidigte Tugend unbeleidiget machen könnten. Aber ich weiß auch, daß sie diesen würdigen Herrn Betterton mit allen seinen Reichtümern ausgeschlagen hat. Fragen Sie nicht nach der Ursache. Ich weiß, daß Sie in Ihrem Zimmer, von einem gerechten Hasse und einer gekränkten Liebe bestürmt, auf das Bildnis eines Barbaren ihre Tränen fließen läßt; daß ihre Vernunft und ihr Herz durch einen Undankbaren erschüttert sind; daß sie bald um Rache wider ihn, bald um seine Zärtlichkeit seufzt; daß sie ihn bald einen Bösewicht, bald ihren lieben Karl Southwell nennt.

KARL. Quälen Sie mein Herz nicht mit diesen kläglichen Bildern. Was können sie alle von mir erzwingen als das Äußerste, Hochachtung und Mitleiden für Lucien. Klagen Sie nicht mein Herz an. Klagen Sie sich selbst an. Ich liebete Lucien. Ich sah Amalien. Konnte ich die Liebenswürdigste ihres Geschlechtes sehen, ohne Lucien zu vergessen?

AMALIE. Ihre Frechheit und die Nachsicht, die Sie bei einigen meines Geschlechts gegen diese Frechheit gefunden haben, hat schon oft Ihre Stirn eisern genug gemachet, ohne Schamröte mir, einer Freundin von Lucien, die ich Ihre eignen und Luciens Verfassungen weiß, von Liebe vorzureden. Aber glauben Sie, ich habe Ihnen nur eine doppelte Wahl vorzuschlagen. Wählen Sie meinen Abscheu, wählen Sie meine Freundschaft. Sie wissen die einzige Bedingung, unter welcher ich Ihnen die letztere überlassen kann.

KARL. Wollen Sie die Freude zwener hoffenden Väter vergeblich sein lassen? Wollen Sie den zärtlichsten, aber auch den elendesten Liebhaber zu Ihren Füßen verzweifeln sehen? Göttliches Geschöpf! Sie, lauter Güte, lauter Sanftmut, lauter Verlangen, alle Menschen glücklich zu machen, warum wollen Sie, daß ich allein unglücklich sein soll? Ahmen Sie die Gottheit, deren Bild Sie in allen übrigen Stücken sind, auch gegen mich nach. Schenken Sie mir ein Herz voll Verzeihung, Gütigkeit, und lassen Sie mich noch hinzusetzen, voll Liebe. Lehren Sie mich Ihre Tugend, Ihre vollkommene Tugend nachahmen, und ich werde Sie sodann als die Schöpferin meiner Glückseligkeit anbeten müssen.

AMALIE. Niedriger Schmeichler! meine Seele ist über Ihr kriechendes Lob erhaben. Es ist Schande für mich. Was für ein Gemisch von Verstellung,[211] Heuchelei und Unsinn waschen Sie mir da vor! Können Sie die Gottheit, diese Ihre schreckliche Feindin, in Ihren entweihenden Mund nehmen, ohne vor ihr zu zittern?

KARL. Grausame –

AMALIE. Nur ein einziges Wort noch, dann verlassen Sie mich; ich erwarte meinen Vater hier. Fahren Sie in Ihrer Untreue fort, Meineidiger, und zittern Sie vor der Rache, die Luciens und meine eigenen Seufzer, die ersten, die ich wider die Glückseligkeit eines Menschen ausstoße, von der Gerechtigkeit des Himmels über Ihr Haupt rufen werden. Lassen Sie Lucien Gerechtigkeit widerfahren, und ich bin Ihre Freundin und werde als diese den Himmel anflehen, Ihre Vergehungen zu vergessen und Sie zu segnen.

KARL. Erbarmen –

AMALIE. Nichts mehr. Mein Vater kömmt. Ich verlange Gehorsam.


Karl geht ab.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 210-212.
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