Der neunte Auftritt

[219] Karl Southwell. Betty. Lucie kömmt.


KARL zur Betty, indem er Lucien erblicket. Nichtswürdige Kreatur! Er will weggehen. Lucie hält ihn zurück.[219]

LUCIE. Verziehen Sie, Southwell. Verziehen Sie aus Ehrgeiz. Ich weiß, Sie besitzen ihn. Sie sollen Ihren Triumph über Lucien sehen.

KARL. Herz! elendes Herz! verdammt sei deine Unruhe!

LUCIE. Verzeihen Sie mir noch, als die letzte Probe Ihrer – wie soll ich es nennen? – Ihrer Herablassung, verzeihen Sie mir diese List, noch ein einziges Mal mit Ihnen zu sprechen. Ich wußte, daß ich es unter keinem andern als Amaliens Namen erlangen würde. Ich komme nicht, Ihnen Vorwürfe, nein! ich komme, Ihre Freude vollkommen zu machen. Sie sollen mich demütig, Lucien zum ersten Male demütig sehen. Sie sollen Sie klagen, sie seufzen hören, damit Sie die Wollust empfinden können, über ihre Seufzer zu frohlocken.

KARL. Meine verdammte Leichtgläubigkeit!

LUCIE. Ich war glücklich, ehe ich Sie liebete. Ich liebete Sie, und ich fürchtete nie, daß ich durch Ihre Liebe unglücklich werden könnte. Durch diese Liebe unglücklich zu werden, die meine ganze Glückseligkeit war? Ich beleidigte die Tugend, ich sah die Schande, ihre Rächerin, herannahen. Ich drückte Sie an meine Brust, und ich vergaß Tugend, ich vergaß Schande, ich vergaß alles, wovor ich zu zittern Ursache hatte. Glückselige Minuten! Da unsere Seelen in dem gemeinschaftlichen Gefühle ihrer Zärtlichkeit zerflossen, da Sie noch meine Lucie sageten, da ich noch mein Karl Southwell sagen konnte. Warum ließen Sie mir doch diese Minuten empfinden? oder da Sie mir solche empfinden ließen, warum rauben Sie mir dieselben? Barbar! wenn habe ich Ihnen eine einzige Zärtlichkeit nicht durch eine noch größere vergolten? Wenn war mein Auge nicht auf das Ihrige geheftet, um alle Ihre Wünsche in demselben zu lesen? Und wenn las ich einen einzigen Wunsch in diesem Auge, ohne ihn zu erfüllen? Oh! daß ich sie nie erfüllt hätte, so würde ich Sie jetzund verachten können. Und doch, Undankbarer, welchen Lohn meiner Liebe geben Sie mir? Daß Sie mich zu Tränen, zu ewigen Tränen verdammen! mich? die ich Sie bei allen Ihren Grausamkeiten nicht vergessen kann. Barbarische Natur! warum gabest du mir ein zärtlicheres Herz als dasjenige, das du mich zu lieben verdammtest? –

KARL. Ach, Lucie!

LUCIE. Sie seufzen? Seufzen Sie nicht! Rauben Sie mir nicht noch den elenden Trost, Sie den Grausamsten zu nennen. Ihre Seufzer würden Mitleiden verraten, und ich würde sodann weniger Recht haben, mich über Sie zu beklagen. Spotten Sie meiner, damit mein Herz noch vielleicht die elende[220] Linderung seiner Qual fühlen möge, daß Karl Southwell dieses Herzens völlig unwürdig war. Fürchten Sie keine Gerechtigkeit des Himmels, die Ihre gebrochne Eidschwüre strafen werde. Nein! Sie sei nicht! Sie sei nicht! Lucie wünschet es mit Ihnen, damit sie weder die schrecklichste Rache an demjenigen, den ihre ganze Seele liebet, erblicken, noch für ihre eigenen Verbrechen die Strafe dieses beleidigten Himmels fürchten darf.

KARL. Es ist zuviel! Lucie! Meine Seele kann dies nicht ertragen. Lassen Sie mich weggehen.

LUCIE die ihn zurückhält. Eine Zähre von den Wangen Karl Southwells! Verlor er sie vielleicht um diese Lucie, die ehemals aus Zärtlichkeit mehr als eine von ihren Wangen herabschleichen fühlte? Eitle Einbildung! Nein! vielleicht weinte sie die Natur über den unschuldigen Zeugen, soll ich sagen, unserer Liebe oder unserer Verbrechen? Ja, vergessen Sie seine unglückliche Mutter, aber zeigen Sie ihr, ich beschwöre Sie bei diesem noch ungebornen Pfande, zeigen Sie ihr, wie sie es seinen Vater soll kennen lehren, ohne ihm zugleich erkennen zu lassen, daß dieser Vater ein Bösewicht war. Sagen Sie, wie ich es lehren soll, diesen Vater zu lieben, den wir beide verfluchen sollten. Sie fällt vor ihm nieder. Hören Sie meine letzte Bitte. Befreien Sie sich von einer Last noch zukünftiger Verbrechen. Ersticken Sie es in dem Blute seiner ermordeten Mutter. Es würde doch nie den Namen Vater aussprechen können, ohne Ihr Haupt mit einem neuen Verbrechen zu beschweren.

KARL indem er sie aufhebt. Barbarische Liebe! sind dies deine Glückseligkeiten? Geht ab.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 219-221.
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