Der sechste Auftritt

[229] Sir Robert. Sir Willhelm.


ROBERT. Was für einen reizenden Anblick hast du versäumt, Willhelm! Wärest du wenige Minuten eher hier gewesen, du würdest der fröhlichste Zeuge deiner eigenen Glückseligkeit gewesen sein. Ich habe Lucien in Amaliens und deines Sohnes Gesellschaft gesehen. Alle drei so freundschaftlich! Die Freude in Amaliens und Karls Augen so rein, so unverstellt! Luciens Stirne nur noch durch einige kleine Wolken der Traurigkeit, die sich bald zerstreuen werden, verhüllt! Glaube mir, Willhelm, wir sind die glücklichsten Väter, die gelebet haben.

WILLHELM. Deine Seele überläßt sich der Hoffnung allzu übereilt. Ich habe Luciens Herz gegen Karln erforschet. Ich sehe durch alle Hüllen seiner Verstellung hindurch. Es ist lauter Wut wegen seiner fehlgeschlagenen Neigung. Nein! Robert, schmeichle mir mit nichts; Willhelm ist verdammt, durch diejenigen unglücklich zu sein, die ihn glücklich machen sollten.

ROBERT. Geziemet dieses Mißtrauen, der unzertrennliche Gewährte des gemeinen Alters, einen Mann von deiner Erfahrung? Soll ich vielleicht meinen eigenen Augen nicht glauben? Findest du Haß in den Mienen einer Person, welche sich freundschaftlich an den Armen desjenigen, den sie hassen soll, anhängt und gegen ihn lächelt?[229]

WILLHELM. Laß mich zweifeln; mein Glück ist zu groß, als daß ich es hoffen kann. Sollte Lucie die Herrschaft über ihre Vernunft wieder erhalten haben?

ROBERT. Kennst du das weibliche Herz nicht? Wünschet es nicht mit ebender Hitze, mit ebender Heftigkeit, als es seine geliebteste Wünsche wieder vergißt? Glaube mir, der natürliche Hang ihres Geschlechts zu veränderten Gegenständen würde in dem Herzen der Lucie das allein möglich machen, was die Vernunft ihm noch überdies einschärfen wird.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 229-230.
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