Der zehnte Auftritt

[248] Die Vorigen und Willhelm.


WILLHELM der ihnen begegnet. Halt! Bösewicht!

KARL. Himmel! war kein Donner mehr übrig, ihn oder mich vor dem unglücklichen Augenblicke zu zerschmettern?

WILLHELM. Ich weiß alle deine verdammten Anschläge. Die Gnade des Himmels hat mich deinen gottlosen Heinrich finden lassen. Er hat alles gestehen müssen, und er erwartet seine Strafe. Verlaß sie, wenn mein Herz noch einen Augenblick Liebe für dich fühlen soll.

KARL. Behalten Sie diese Liebe. Der Haß eines grausamen Vaters ist[248] Ruhm für mich. Besitze ich nicht die heiligsten Rechte? Und ich will diese Rechte wider Sie und alle Welt und Gott selbst behaupten.

WILLHELM. Diese elenden Rechte sollen bald aufgehaben sein. Und Sie selbst, Lucie, umarmen ihn noch? Wo ist Ihre Tugend?

LUCIE. Ich mag diese Tugend nicht, Sir. Ich wünsche lieber mit Ihrem Sohne lasterhaft als mit seinem Vater tugendhaft zu sein. Wer weiß, ungerechter Vater, ob Sie selbst mehr als das äußerliche Blendwerk dieser Tugend kennen? Würden Sie mir sonst meinen Gemahl rauben wollen? Zu Sir Karln. Nein! mein lieber Karl, unsere Seelen sollen einander lieben, und wenn uns die ganze Welt deswegen hassen sollte. Sie umarmen und küssen einander.

WILLHELM. Gott! du siehst es, ohne sie und mich selbst zu vertilgen? Verwegene! Euer Vater wird euch Gehorsam zu lehren wissen. Jakob, Friedrich, vollzieht meine Befehle. Indem Sir Willhelm Lucien aus seines Sohnes Armen reißt und die Bedienten auf das Theater treten, werden noch folgende Worte gesprochen.

LUCIE. Gewalt, Sir Karl! Retten Sie Ihre Gemahlin.

KARL der auf Willhelm zuläuft. Zittern Sie vor einer beleidigten und rasenden Liebe – Die Bedienten bemächtigen sich seiner. Elende, dürft ihr – Sie führen ihn mit Gewalt ab.

WILLHELM. Eine geschwinde Reise auf einige Jahre zu meinem Bruder nach Amerika soll dieses Feuer schon auslöschen. Ich gehe sogleich, Anstalten hierzu zu treffen, und Sie, Lucie, sollen mir alsdann danken, daß ich Sie wider Ihren Willen glücklich gemachet habe; und du, Betty, wisse, daß ich der Heuchelei weit weniger verzeihe als jedem andern Laster. Geht ab.

LUCIE. Hören Sie, barbarischer Southwell, vollenden Sie Ihre Grausamkeiten – Doch geh nur, meine Rache soll dich ereilen. Betty, was für Stürme von Abwechselungen hat mein Herz in wenigen Minuten ausgestanden. Schmerz, Hoffnung, Freude, Erniedrigung und Verzweiflung haben es alle seine Martern fühlen lassen. Wie ist es doch noch zu empfinden fähig! Sieh es jetzt unglücklicher als jemals.

BETTY. Fürchten Sie nichts, es soll, es muß glücklich werden! Das Glück der Betty selbst verlanget es; Sir Willhelm hat meine Verstellung entdecket, und ich weiß, ich werde wider seinen Zorn keinen Schutz als in Ihrer vollzogenen Verbindung mit seinem Sohne finden.

LUCIE. Keine Hoffnung! Sie ist völlig tot in meiner Seele. Ich habe[249] bereits das Herz des Barbaren von seiner empfindlichsten Seite, durch die Tränen und Bitten einer reuigen Tugend, zu rühren gesuchet. Und doch blieb es ein Fels für mich. Meiner Seele schauert vor gewissen Ahndungen. Seine Hartnäckigkeit ist unüberwindlich, wenn sie richtig sind. Die Unterredung, die ich vor deiner Ankunft mit ihm gehabt habe, hat sie in mein Herz eingepflanzet. Urteile selbst. Dieser Southwell, dem sonst seine Tugend bei allen Umständen die Miene eines gesetzten Mannes zu geben wußte, war lauter Verwirrung. Sein Gesichte glühete vor einer errötenden Scham, die ein ihm unanständiges Geheimnis zu verraten schien. Seine Reden lauter Dunkelheit, unzusammenhängend, stockend und von Seufzern unterbrochen. Er umarmte mich, seine Küsse waren voll von einem gewissen Feuer, sein Herz klopfete, und jedes seiner Glieder zitterte. Er sprach mit einer Art von Enthusiasterei von seiner Liebe gegen mich. Er versprach mir einen würdigern Liebhaber als Karln. Deine Ankunft unterbrach ihn. Wie soll meine Seele alle diese Rätsel auflösen? Sollte Torheit und Laster über sein Alter triumphieret haben. Sollte seine Liebe gegen mich mit seines Sohnes Liebe aus einerlei Quelle fließen? Sollte mich seine Hartnäckigkeit seinem Sohne bloß deswegen versagen, weil sie mich zu einem Opfer für sich selbst bestimmet hat? Aber würde er nicht sodann ein Bösewicht sein? Und seine Tugend – Doch was Tugend? Ist sie mehr als ein leerer Name, auch dann, wenn sie in ihrem größten Glanze schimmert? Bewies es nicht Lucie bei allem ihrem Stolze selbst, und sollte der elende Southwell weniger fähig sein, es zu beweisen?

BETTY. Der alte Southwell? in Sie verliebet? Wirklich, Fräulein, ich würde lachen müssen, wenn unsere Umstände weniger gefährlich wären. Aber sie sind die gefährlichsten. Wenige Stunden können Ihnen Sir Karln auf ewig rauben.

LUCIE. Haben sie mir ihn nicht schon geraubet? Ja, mein Unglück ist vollkommen. Nur der Tod kann mich von ihm befreien, und ich verwünsche meine Zagheit, die ihn verzögert. Bald wird mich die Schande der Verachtung der Welt preisgeben, mich, die ich sonst alle Welt außer mir zu verachten pflegte. Ach wie grausam rächet diese Schande die flüchtigen Minuten einer durch Laster erkauften Glückseligkeit an mir! Ungerechter Himmel! warum quälst du mich allein? War Betty weniger strafbar als ich?

BETTY. Vergessen Sie Ihre alte Gewohnheit, zu seufzen, nicht. Wissen Sie wohl, daß diese Betty, die Sie anklagen, einen neuen Anschlag zu Ihrer[250] Glückseligkeit erfunden hat? Sir Karl ist noch einmal der Ihrige, wenn Sie Mut genug haben, ihn zu erwarten.

LUCIE. Ich, Mut genug? ohnfehlbar zu einem neuen und größern Laster? Denn Betty kann zu nichts weiter Mut von mir verlangen.

BETTY. Nennen Sie es lieber den einzigen Weg zu Ihrer Glückseligkeit. Vergessen Sie diese Blicke voll Erbitterung gegen Sir Willhelm. Suchen Sie sich durch eine verstellte Liebe und Gelassenheit noch einmal seine Zärtlichkeit zu erwerben. Sir Willhelm ist alt. Die Welt kann ihn entbehren, und er wird sich sodann Ihrer Verbindung mit seinem Sohne nicht mehr widersetzen können! Verstehen Sie mich, Fräulein?

LUCIE. Ich verstehe dich, Ungeheuer, und ich sehe, daß der Teufel selbst in deiner Seele wohnen muß, der sich wie du freuet, den elenden Menschen von einem verfluchten Verbrechen zu einem noch verfluchtern fortzureißen. War es zu wenig Ruhm für dich, mich durch deine Künste als eine ehrlose, weggeworfene Kreatur zu sehen? Mußtest du mich noch als eine Mörderin sehen wollen?

BETTY. Wollten Sie es nicht diesen Augenblick an sich selbst, und ich weiß nicht, an wem noch mehr sein? Leben Sie wohl! Seufzen Sie mit Ihrem guten Sir Willhelm. Lieben Sie ihn sogar, wenn es Ihnen gefällt. Betty hat alles für Sie getan, was sie hat tun können. Sie muß nunmehr für ihre eigene Sicherheit sorgen.

LUCIE. Bleib, Betty, bleib. Vergiß meine Hitze. Ich bildete mir ein, noch die ehemals mit Recht stolze Lucie zu sein. Nein, ich bin die lasterhafte Lucie, und was ist's, ob ich es in einem Grade mehr oder weniger bin? Ich soll Karln besitzen? Und welch Laster kann für meinen Stolz zu groß sein, ihn zu erlangen? Ja, der alte Southwell soll sterben! Stirbt er als ein Bösewicht, so ist mir die Welt Dank schuldig, daß ich sie von einem Heuchler befreie. Stirbt er tugendhaft, wohl, so will ich mich durch den Tod eines Tugendhaften an dieser verhaßten Tugend und an dem Himmel selbst rächen. Aber was für neue Martern werden auf mein Herz in dem Besitze einer Glückseligkeit warten, die ich dem abscheulichsten Verbrechen schuldig bin? Törin! ruhig, glückselig wird dies Herz sein. Dann nur werde ich die Heiterkeit der größten Bösewichte, die ich jetzt und so oft an ihnen beneide, besitzen, wann ich ihnen gleich geworden bin. Komm, Betty, lehre mich lasterhaft und mitten im Laster ruhig wie du sein.

Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 248-251.
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