Der dritte Auftritt

[239] Sir Willhelm Southwell. Betty.


WILLHELM. Bist du nicht bei deiner Fräulein, Betty?

BETTY. Ich habe sie einen Augenblick allein gelassen. Sie schlummert, einige Minuten die Ruhe zu empfinden, die sie schon so lange entbehret hat.

WILLHELM. Laß ihren Schlummer gesegnet sein, o Gott! Zeig ihr in ihrem Traume die Tugend in aller ihrer liebenswürdigsten Vollkommenheit und lasse sie nie vergessen, was sie dieser Tugend schuldig ist. Ich hätte gerne gewünschet, mit ihr zu sprechen. Aber ihr Schlummer ist mir zu heilig, als daß ich ihn stören sollte. Ach, Betty, sie hat mir schon in wenig Stunden manchen Seufzer gekostet.

BETTY. Die arme Fräulein! Der Himmel weiß es, wieviel heimliche Tränen ich über die Schmerzen geweinet habe, die ich sie einige Zeit daher habe ausstehen sehen. Heute nur habe ich erst die unglückliche Ursache derselben erfahren. Wie hat sich doch diese elende Leidenschaft in ihr reines und tugendhaftes Herz einschleichen können? Sah sie nicht das unsträfliche Beispiel eines Sir Willhelms vor ihren Augen.

WILLHELM. Schilt sie nicht, Betty. Das frömmste, das erfahrenste Herz ist oft an dieser Klippe gescheitert. Wird daher unerfahrne Jugend jederzeit diese gefährliche Klippe vermeiden können?

BETTY. Gütigster Sir! Wie sind Sie doch jederzeit, selbst bei den Fehlern Ihres Nächsten, lauter Liebe, lauter verzeihende Nachsicht. Wahrhaftig, dies heißt groß, göttlich groß sein! O daß doch Lucie nur eine einzige Freude der Tugend so vollkommen empfinden könnte, als sie das edle Herz[239] eines Sir Willhelms empfinden muß! Würde sie diese einzige Freude für alle Freuden, die ihr die ganze Welt anbieten könnte, vertauschen wollen?

WILLHELM. Hoffe, Betty, daß sie noch einmal die Freude, tugendhaft zu sein, unverfälscht empfinden wird. Das edelste Herz kann sich verirren, aber es wird sogleich wieder auf den rechten Weg zurückekehren, sobald es seine Verirrungen merken wird. Unterstütze ihre wankende Tugend durch deine Lehren und dein Beispiel.

BETTY. Wäre ich wert, in Ihren Diensten zu sein, wenn ich es nicht täte? Ist es nicht meine Pflicht? Hundert kleine Listen erfinde ich täglich, ihr die Reizungen der Tugend zu zeigen. Jetzt lese ich ihr etwas aus einem geistlichen, jetzt aus einem moralischen Schriftsteller vor. Bald erzähle ich ihr eine Geschichte, in der sie die Tugend in ihrer erhabensten Glückseligkeit und das Laster in seinem niedrigsten Elende erblicken kann; und jederzeit habe ich das Vergnügen, daß sie meine Bemühung mit einem Seufzer für die Tugend vergilt.

WILLHELM. Fahre fort, gute Betty, und erwarte die Belohnung des Himmels, der noch keine löbliche Bemühung unvergolten gelassen hat. Wisse, ein irrendes Herz zur Tugend zurückgeführt zu haben, ist mehr Ruhm als eine Krone auf sein Haupt zu erwerben. Kehre jetzund zu deiner Fräulein zurück; und wenn sie erwachet, so sage ihr, daß ich sie in meinem Zimmer erwarte.

BETTY. Aber Sir, Sie werden sie doch mit ebender Liebe, mit ebender Zärtlichkeit erwarten als sonst. Doch verdienet nicht ihr Fehler von der strengsten Tugend Verzeihung? Wie sollte ihn das gütige Herz eines Sir Willhelms nicht verzeihen können?

WILLHELM. Dein Eifer für Lucien verdienet Lob. Geh! ich sehe meinen Freund kommen.


Betty geht ab.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 239-240.
Lizenz:
Kategorien: