Der fünfte Auftritt

[241] Die Vorigen und Amalie.


AMALIE. Ach, Sir Willhelm, welche Grausamkeit! Hätte ich sie wohl in einem Herzen wie das Ihrige denken können? Der arme Karl! Die unglückliche Lucie! Wissen Sie bereits, worzu ihn Ihre Grausamkeit getrieben hat? Ich habe es diesen Augenblick erst durch seinen Bedienten erfahren. Er ist Ihre und Luciens Gegenwart geflohen, um in der Entfernung zu versuchen, ob er sein Herz gegen den besten Vater Gehorsam lehren kann. Ja, können Sie wohl wünschen, daß er Ihnen gehorsam sein möge, wenn Sie Lucien jemals aufrichtig geliebet haben? Betty hat mir gesaget, daß sie schläft. Wie schrecklich müssen ihre Träume sein, wenn sie Ahndungen ihres Unglücks empfindet! Wie soll ich ihr ihr neues Unglück entdecken, ohne sie zu töten?

WILLHELM. Wiederholen Sie mir es noch einmal, meine liebe Amalie. Karl hat sich entfernet, seinem Herzen Gehorsam gegen seinen Vater zu lehren, sagen Sie? Ist es gewiß? Täuschen Sie mich nicht.

AMALIE. O müßt' ich doch nicht wünschen, daß es falsch wäre! Was für einen rührenden Wettstreit zwischen einer verzweifelnden Liebe und der kindlichen Pflicht muß nicht sein Herz fühlen! Er muß sich seinem Vater aufopfern, ließ er mir sagen.

WILLHELM. Ja, Robert, noch spricht eine schwache Stimme der Pflicht in seiner Seele; er muß sich mir aufopfern! Wieviel wird sein Herz leiden müssen!

AMALIE. Wieviel wird er nicht leiden müssen, seufzen Sie? Wer war es, der ihm diese Leiden verursachete? Wird Lucie weniger leiden?

WILLHELM. Wünschen Sie mit mir zur Beruhigung eines unglücklichen Vaters, daß seine Pflicht über seine Leidenschaft triumphieren möge.

AMALIE. Nein, meine Seele hat noch nie einen ungerechten Wunsch getan! Lassen Sie mich wünschen, daß ich den würdigsten Vater sich und seinen Sohn möge glücklich machen sehen.

WILLHELM. Sie wissen nicht, was Sie wünschen. Sie würden sonst[241] weniger ungerecht sein. Suchen Sie mit mir meinen Sohn und Ihre Freundin von dieser Krankheit zu heilen, wenn Sie Ihrer Tugend Ehre machen wollen. Ehe ich in eine Verbindung meines Sohnes mit Lucien willige, eher wünsche ich das Ärgste, was ich fürchten kann, daß sie sich beide unversöhnlich hassen mögen.

AMALIE. Amalie soll vergessen, daß Sie diesen Wunsch aus dem Munde des Sir Willhelms gehöret hat!

ROBERT. Genug, meine Tochter! Niemand als du hat weiter Rechte auf Karls Herz.

AMALIE. Ich? Rechte auf sein Herz? Nein! mein Vater, ich habe Ihnen bereits gesaget, warum ich keine haben kann. Sollten Sie mir solche aufzwingen wollen? Nimmermehr! Sie haben noch nie gewünschet, Ihre Tochter unglücklich zu sehen, und sie würde es gewiß sein, selbst in dem Besitze der größten Glückseligkeit, wenn Sie dieselbe durch die Tränen ihres Nächsten, ja sogar ihrer Freundin erkaufen müßte. Sir Willhelm, Karl und Sie selbst, mein Vater, würden die niedriggesinnte Amalie verachten müssen, wenn sie sich dieser Rechte anmaßen könnte.

WILLHELM. Daß ich doch nur noch leben möchte, meinen Sohn in den Armen einer Gemahlin nur mit halb soviel Verdiensten als die Ihrigen glücklich zu sehen.

AMALIE. Geben Sie ihm eine Gemahlin mit noch doppelt soviel Verdiensten, als ihrem gütigen Auge an mir zu finden beliebet; geben Sie ihm Lucien. Ich würde bei einer jeden weniger edeln Seele als die Ihrige noch den Bewegungsgrund gebrauchen, daß es nicht mehr die von allen Glücksgütern völlig entblößte Lucie ist, für die ich bitte. Bettertons großmütiges Vermächtnis kann bei dem Sir Willhelm allein keinen Eindruck machen.

WILLHELM. Lucie mit einem Herzen voll Tugend und alles des übrigen, was die Welt Glück nennet, beraubet, würde von mir einer Prinzessin vorgezogen werden, so wie ich sie ohne diese Tugend selbst mit einer Krone achten würde. Wäre dies das einzige Hindernis, wir alle, die wir hier glücklich zu sein seufzen, wären es.

AMALIE. Ich kenne das wichtigste Hindernis, das noch übrig ist. Es ist die Geburt meiner unglücklichen Freundin. Ihre Eltern konnten so grausam sein, sie wegzusetzen. Entweder die Schande oder ein allzu niedriger Stand erlauben also die Verbindung mit Ihrer Familie nicht. Was kann in dem erstern Falle Lucie für die Verbrechen ihrer Eltern? Verdienet sie[242] unglücklich zu sein, weil diese Eltern lasterhaft waren? Ein niedriger Stand kann Sie von dieser Verbindung nicht abhalten, wenn Sie nicht selbst ein Verbrechen begehen wollen. Warum entrissen Sie dieselbe ihrer Niedrigkeit? Warum gaben Sie ihr eine Auferziehung, die ihr Herz nach einem Glücke zu seufzen anreizte, das sie sich sonst niemals zu hoffen erkühnet haben würde? Ach, sehen Sie Lucien und Ihren Sohn. Verzweiflung und Zärtlichkeit auf ihren Gesichten. Können Sie beide ohne Tränen sehen? Amalie kann es nicht. Sie soll sie in der Stille ausweinen. Sie geht ab.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 241-243.
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