107. Agathokles an Phocion.

[56] Nikomedien, im Mai 305.


Kerkermauern umschließen mich, ein matter Lichtstrahl fällt von oben herab durch das Gegitter, und beleuchtet sparsam den Brief – vielleicht den letzten, den ich an den treuesten ältesten Freund auf dieser Erde schreibe. An mein Weib, habe ich gestern geschrieben. Sie und mein Kind – bald vielleicht meine Kinder! – sind die einzigen Gegenstände, die ich mit Schmerz verlasse, aber o mit welchem Schmerz! Das weiß nur der, der dies Herz so weich, so empfindlich für das unaussprechliche Glück der Liebe gebildet hat, der es ihm in vollem Maaße zu genießen gab, und es jetzt mit strengem Ernst von demselben abruft! Sein Wille geschehe!

Ich habe gethan, was meine Pflicht gebot. Kein Zweifel, keine Unruhe kommt in meine Seele. Da war nicht zu wählen, nicht anzustehen. Jede Stimme, selbst die der Liebe mußte verstummen. Es blieb kein Ausweg. Er oder ich! Fiel Constantin, so war alle Aussicht für die Verbesserung, die Rettung der Menschheit verloren, jede Hoffnung im Keim zerstört. Der wüthende Galerius behielt den Erdkreis in seinen blutigen Händen, das Christenthum würde, wo nicht vertilgt, doch jede seiner Segnungen vielleicht auf Jahrhunderte hinaus vernichtet seyn. Und was verlor die Welt an mir? Zwar weiß[56] ich, daß Theophaniens Herz brechen wird – aber es wird mit meinem brechen, wir werden uns wiedersehen! Zwei gebrochene Herzen, zwei Sterbende – für einen geretteten Erdkreis!

Ich verließ mein Weib, ohne ihr zu sagen, was ich vorhatte. Ganz wußte ich's in diesem Augenblicke selbst nicht, aber ich ahnete, daß mir ein großer Schritt bevorstand, und Alles auf einen schnellen Entschluß ankam. Ich traf alle Anstalten, um eine zweite Flucht Constantins zu sichern, dann öffnete mir mein Gold den Weg zu ihm. Ich fand ihn – vernichtet kann ich wohl sagen, und doch in manchen Augenblicken ganz muthvoll, Alles zu wagen, wenn nur die Riegel seines Gefängnisses gesprengt würden. Ich entdeckte ihm den Plan, den ich entworfen hatte. Er schauderte, es brauchte lange, bis die Ansicht, die Größe, die Gemeinnützigkeit jener Entwürfe, die seit zwei Jahren das leuchtende Ziel aller unserer Bestrebungen und Anstrengungen waren, aber seine Liebe zu mir und die Freundschaft siegte. Er ergriff meinen Mantel, hüllte sich ein, schloß mich mit dumpfen Seufzern an seine Brust, und entfloh. Die Thüre schmetterte krachend hinter ihm zu, und ich fühlte mich lebend begraben. Alles, Alles war für mich verloren. Theophaniens Bild trat in allen Reizen vor mich hin, ich – weinte, ich schäme mich nicht, es zu bekennen, mein Zustand grenzte an Verzweiflung.

Da fiel ein Strahl himmlischen Lichts in die umnachtete Brust. Himmlisch! Keine Vernunft, keine menschliche Ueberzeugung bewirkt diesen Frieden, diese Klarheit. Seitdem ist es stille in mir geworden. Ich weiß, was meiner wartet, ich weiß aber auch, welche helle Zukunft hinter[57] diesen dunkeln Stunden liegt. Ich sterbe nicht um meines Glaubens willen, wie so Viele, die mit blindem Eifer sich zur Marterkrone drängen, und in ihr vollen Ersatz für ein sonst unverdienstliches Leben und jede versäumte Pflicht finden. Ich sterbe für meinen Glauben, weil er das höchste Glück der Menschheit ist, weil nur durch seine Verbreitung das Glück allgemein werden kann, und weil – wenigstens so weit meine und vieler Erfahrnen Einsicht reicht, – nur in Constantin sich alle Eigenschaften vereinigen, um diesen Zweck siegreich auszuführen.

So muß auch jener Zweifel, der sich mir im Anfange zuweilen aufdrang, verstummen, als hätte blinde Freundschaft für Constantin mich hingerissen, die höhern Pflichten gegen Weib und Kind zu verletzen. Nein, ich liebe Constantin, ich liebe ihn mit aller Stärke, die Dankbarkeit, gleiche Gesinnung, und hohe Ueberzeugung von seinem Werth gibt; aber wie unendlich tiefer ist die Liebe zu dem engelgleichen Geschöpfe, das ich liebe, seit ich lebe, in das Innerste meines Wesens verwebt! O Theophania! Reines, liebevolles, ewig theures Weib! Von dir zu scheiden ist schwerer als zu sterben; dich zu verlieren, ist schon Tod für mich! Dennoch verlasse ich dich – denn meine Ueberzeugung befiehlt, und du selbst kannst mir nicht zürnen, wenn auch dein Herz darunter bricht.

Ich habe an Tiridates geschrieben, und ihn gebeten, sich ihrer anzunehmen. Er soll meinen Verlassenen Gatte und Vater seyn, bis eine glückliche Wendung der Umstände Constantin erlaubt, diese heilige Pflicht, die er mir im letzten Augenblicke vor Gott gelobt hat, zu erfüllen. Ich hoffe, Galerius wird sich mit meinem Leben begnügen, und die Schuldlosen nicht mit mir in's Verderben[58] ziehen. Ist aber keine Möglichkeit, den Wütherich zu erweichen, so führe eine schöne Stunde uns zusammen in ein besseres Leben, und der Tod wird keine Schrecken mehr für mich haben!

Phocion! Eine große Schwäche bleibt in meiner Brust zurück, und ich vermag nicht, sie ganz zu bekämpfen. Ist dem Sterbenden keine erlaubt? In manchen Augenblicken wünsche ich, daß der Tyrann mir die Schuldlosen nachsende, oder Theophaniens Zustand, der aller Wahrscheinlichkeit nach jetzt bedenklich seyn muß, sie sammt dem ungebornen Pfand ihrer Liebe mit mir vereinige. O Theophania! Ich weiß ja, wie unglückselig dich mein Tod machen, wie freudenlos dein Leben ohne mich seyn wird! – Darf ich dir die Wohlthat nicht wünschen, mit mir zu sterben? So flisterte mir die Stimme der Selbstsucht zu, und ich habe nicht immer Kraft genug, sie schweigen zu heißen.

Ich habe auch an mein Weib geschrieben. Du kannst denken, daß ich keinen dieser selbstsüchtigen Wünsche laut werden ließ. Nur in deine Brust gießt sich mein volles blutendes Herz aus; aber diese Ergießung ist ihm unentbehrlich, in ihr allein liegt die Möglichkeit, dieses schreckliche Daseyn geduldig zu tragen, bis der letzte Streich gefallen ist. Vor diesem Augenblicke schreibe ich dir noch, wenn anders es mir vergönnt ist; denn wer weiß, wie lange mich meine Henker leben lassen werden.

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 36, Stuttgart 1828, S. 56-59.
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