19. Agathokles an Phocion.

[90] Edessa, im Junius 301.


Das Räthsel ist gelöset. Ich sehe deutlich in die Tiefe des Abgrunds der vor mir liegt. Ich weiß, daß ich nichts mehr zu fürchten habe, denn ich habe nichts mehr zu hoffen. Larissa ist unwiederbringlich für mich verloren. Die heiligsten Gefühle, die zu bestreiten Vermessenheit und Verbrechen wäre, stehen scheidend zwischen uns. Mein Urtheil ist gesprochen.[90]

Als ich dir das letzte Mal schrieb, regte sich noch mancher Funke von Hoffnung in meiner Brust. Selbst der Unmuth über ihr wunderbar kaltes Betragen flößte mir Kraft und Willen ein, einen kühnen Schritt zu wagen. Ich kannte Larissens Lage – ich kannte die Größe ihrer Gesinnungen, die heiligen Triebfedern nicht, die sie handeln machen. Ich entwarf einen Plan, der uns langsam, aber sicher, an's Ziel geführt hätte; meine Phantasie entzündete sich an den schimmernden Bildern des Glücks, das ich in der Zukunft erblickte. Ich brannte vor Begierde, mit Larissen zu sprechen, ihr meine Entwürfe mitzutheilen, und mit ihr Alles zu überlegen, was uns zu thun erlaubt und möglich sey. Unfähig zu allen übrigen Geschäften und Gedanken, nur auf diesen Punkt, auf diese einzige Hoffnung festgeheftet, brachte ich noch drei ängstliche Tage zu. Ich durchstrich hundertmal die Gärten, ich lauschte in den langen Gängen des Hauses auf ihre Tritte, ich fuhr auf bei dem Anblicke jeder weiblichen Gestalt; denn jedesmal hoffte ich, sie zu erblicken. Sie kam nicht, sie ließ sich nirgends sehen. Endlich erfuhr ich, daß sie die ganze Zeit über krank gewesen war, und ihr Zimmer nicht verlassen habe. O Phocion! Ich sage dir nicht, wie mir damals zu Muthe war! War es Wahrheit, Folge der Erschütterung, Zufall, Vorwand? Tausend Gedanken bestürmten und zerrißen meine Brust. Ich konnte mich nicht länger halten. Meine Seele war von Kummer gebeugt, mein Herz drohte zu zerspringen. Ich schrieb ihr; du findest den Brief in der Abschrift beigelegt. Ein alter Diener des Hauses, der mich liebgewonnen hatte, übernahm die Bestellung. Wahnsinniger! Ich dachte in dem Augenblick nicht an die Gefahr,[91] der ich sie und mich blosstellte. Ich dachte, ich fühlte nichts, als daß ich ihr sagen mußte, was in mir vorging, was ich gehofft hatte, für mich, für sie – wenn ihr Herz noch dasselbe war.


Abschrift des Briefes von

Agathokles an Larissen.


Sechs Tage sind nun verflossen, seit ein unglaublicher Zufall nach acht Jahren uns wieder vereinigte! Die Art unsers Wiedersehens ließ mich auf einen Augenblick die Täuschung nähren, Entfernung und Zeit hätten die Gesinnungen der Freundin – der Geliebten meiner Jugend nicht verändert. Es war nur ein Augenblick! – Sechs lange Tage haben mich vom Gegentheil überzeugt. Larissa vermag diese ganze Zeit über mich in ihrer Nähe, in demselben Hause zu wissen – zu ahnen, welche Unruhe meine Brust erfüllt – und sich mir gänzlich zu entziehen. Kein Gedanke an meine Qual, kein Wunsch, sie zu lindern, kommt in ihre streng verschlossene Seele, und in der tiefen Ruhe, deren sie genießt, wird des Freundes zerstörender Schmerz nicht geachtet. Nicht einmal das Verlangen der Neugier, was in acht Jahren mit dem Allbekannten geschehen, oder das leichte Gefühl der Freude, das des Landsmannes Anblick in der Fremde erweckt, regt sich in ihrem Busen. Sie ist nichts als die Frau des Demetrius. Nikomedien, ihre Jugend – Agathokles sind todt für sie. Ist's möglich, Götter! ist's möglich? O warum habe ich so ein unseliges Gedächtniß! Warum ist nur diese Brust schwach genug, einen schmerzlichen Eindruck durch acht lange Jahre so unauslöschlich zu bewahren! Larissa hat mich vergessen, der Zeiten vergessen,[92] wo sie mir Alles – wo auch ich (die Frau des Demetrius zürne dem kühneren Ausdruck nicht) ihrem Herzen viel war. Das ist vorbei – so ganz vorbei, wie die Welle des Stroms, die vor acht Jahren vorübergleitete, nun und nimmer wiederkehrt, und spurlos verschwunden ist.

In den ersten Stunden, als die täuschende Hoffnung auf Larissens treueres Gedächtniß mich belebte, war ich thöricht genug, Wünsche zu hegen, und Plane zu entwerfen, die sie hören, theilen, genehmigen, von denen sie und ich unser Glück erwarten sollten. Demetrius Jahre, seine Gemüthsart, seine wenige Empfänglichkeit für zartere Gefühle, gaben mir Hoffnung und Muth. Ich wollte ihm unser Verhältniß gestehen, ich wollte – o ich rechnete damals auf Larissens Liebe! Kann ich, darf ich denn, ohne mich einer Raserei schuldig zu machen, jetzt noch auf eine solche Möglichkeit rechnen? Laß mich aufhören – du liebst mich nicht mehr! Wozu alles Weitere?

Leb' wohl! Dein künftiges Betragen, deine Antwort auf meinen Brief, wenn du den Vergessenen einer würdigest, wird mein Schicksal bestimmen. Dein Gatte zeigt mir Zutrauen genug, daß ich es wagen kann, ihn um eine Anstellung auf einem fernen Posten zu bitten. Ich werde dich wenig, vielleicht nicht mehr sehen – nicht, um dich von meinem Anblick zu befreien, der dir wohl keine Unruhe verursacht, sondern um mir, bei dem Bewußtseyn deiner Denkart, den Schmerz des Wiedersehens zu ersparen. Leb' wohl![93]


Dies hatte ich ihr geschrieben. Einen martervollen Tag, zwei schlaflose Nächte brachte ich zu, in gespannter Erwartung des Ausganges meines unüberlegten Schrittes, dessen ganze Thorheit ich erst einsah, als es zu spät war. Heute endlich, am Morgen des dritten Tages erschien der alte Sclave, und brachte mir ihre Antwort: sie folgt hier. Lies sie, Phocion, und dann fühle mit mir das rettungslose Unglück meiner Lage, den unendlichen Verlust eines solchen Herzens![94]

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 32, Stuttgart 1828.
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