Nr. 135. Wilde Mann.

[100] In alten, alten Zeiten war ein Räuber aus Thüringen nach dem Oberharze verschlagen und lebte dort in der Öde wild mit einer wilden Frau. Sie wohneten in einer Höhle und bedeckten ihre Scham nur mit Borke und mit Hecke, d.h. mit Tannenzweigen, oder auch mit Hexenkraut, d.i. eine Art Moos. Darum werden noch heutigen Tages zum Schützenhof in Wildemann der wilde Mann und die wilde Frau dargestellt in Hecke oder Hexenkraut. Der Ritter Klaus, der das[100] kleine Klausthal gegründet und den Bergbau auf dem Oberharze angefangen hat, sah einmal auf der Wildemännerklippe, unter der er selber saß, den wilden Mann, so bekleidet, wie eben beschrieben ist. Der trug eine abgerissene Tanne in der Hand und auf dem Rücken einen Bären, den er damit erschlagen hatte, denn er hatte unmenschliche Kraft und hatte schon viele Bären und viele wilde Schweine mit dem Tannenzweige getötet. Ritter Klaus folgete ihm nach und wie er vor der Höhle den Bären abwarf, sah er auch darin die wilde Frau, die er schon früher einmal im Walde gesehen hatte, die aber im Dickicht seinen Augen behende entschlüpft war. Sie schlüpfte auch jetzt so gleich aus der Höhle, als sie den Ritter erblickte, rannte vor Scham in die Dicknis des Waldes und ist nicht wieder daraus zum Vorscheine gekommen. In der Höhle ließ sie ein Kind zurück, das war auch in Hecken und in Hexenkraut eingewickelt und der wilde Mann bekam später mit einer anderen Frau noch fünf Kinder, von denen stammen viele Leute ab in Wildemann und auf dem ganzen Harze. Der Ritter Klaus hielt ihn nämlich zu Waldarbeiten und zum Bergbau an, und aus der Höhle des wilden Mannes entstand die Stadt Wildemann, das Rathaus ist gerade an der Stelle, wo früher die Höhle stand.

Man sagt auch im Scherz: Auf Wildemann sei nur ein Messer, das hänge auf dem Rathause an einer Kette, und wer etwas schneiden wolle, der müsse aufs Rathaus gehen. Damit will man sagen, daß man den Leuten auf Wildemann noch immer ihre Abstammung anmerken könne.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 100-101.
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