XXXI

[320] Hier leg' ich denn mein Kleinod nieder:

Tatjanens lieben, holden Brief.

Ich les' ihn oft – und immer wieder

Bewegt er mich so seltsam tief.

Wer lehrte sie die süßen Worte,

So frei, und doch am rechten Orte,

Wer dieser Sprache schlichte Kraft,

Den Herzenston der Leidenschaft,

So kühn, so rührend überschwenglich?

Ich weiß es nicht – und bringe nur

Statt lebenswarmer Vollnatur

Ein Nachbild, matt und unzulänglich,

Wie wenn ein Stümper, der nicht fühlt,

Den »Freischütz« euch herunterspielt.


Tatjanens Brief an Onegin

[320] »Ich bin so kühn, an Sie zu schreiben –

Ach, braucht es mehr als dies allein?

Nun wird gewiß – was soll mir bleiben? –

Verachtung meine Strafe sein!

Doch wenn, wo Angst und Qual mich treiben,

Ein Fünkchen Mitleid für mich spricht –

O dann verwerfen Sie mich nicht!

Erst wollt' ich schweigen, hätte nimmer,

Was nun zu Schmach und Schande ward,

Dem strengen Auge offenbart,

Ach, bliebe nur ein winz'ger Schimmer

Von Hoffnung, Sie von Zeit zu Zeit

In unsrer Abgeschiedenheit

Zu sehn, zu grüßen, im geheimen

Mich ihres klugen Worts zu freun,

Um selig-froh für mich allein

Vom nächsten Wiedersehn zu träumen ...

Doch heißt's, Ihr Stolz vertrüge nicht,

In niedren Hütten einzukehren;

Und wir – sind klein, gering und schlicht,

Nur dankbar, einen Gast zu ehren.


Ach, warum kamen Sie aufs Land,

Wo wir so still verborgen waren?

Ich hätte nimmer Sie gekannt

Und nie solch Herzeleid erfahren.

Ich hätte, klüger mit den Jahren,

Vielleicht ein ander Ziel erstrebt

Und, einem andern treu verbunden,

Ein friedlich Glück bei ihm gefunden

Und frommer Mutterpflicht gelebt.[321]

Ein andrer ... Nein! Es kann auf Erden

Mein Herz sich keinem andern weihn!

So ließ des Schöpfers Hand mich werden,

So will's der Himmel: ich bin Dein.

Dich zu gewinnen, war mein Leben

Ein einzig' Pfand nur, fort und fort;

Gott selber hat Dich mir gegeben,

Bis an das Grab bist Du mein Hort ...

Du warst's, der mich im Traum beglückte,

Längst liebt' ich Dich, eh' ich Dich sah;

Dein Antlitz strahlte mir so nah,

Und Deiner Stimme Klang entzückte

Mich längst ... Das war kein Traum, o nein!

Sowie Du eintratst, gleich erkannte

Mein Herz Dich wieder, jauchzte, brannte

Und rief: er ist's, er muß es sein!

War's nicht Dein Hauch, der mich umwehte,

Mir zusprach, wenn ich einsam stand,

Wenn ich der bittren Armut Nöte

Zu lindern ging, wenn im Gebete

Die bange Seele Tröstung fand?

War's nicht Dein Bildnis, glanzumwoben,

Das nächtlich dann vom Himmel droben

Herabglitt in mein Schlafgemach,

Sich flüsternd an mein Kissen schmiegte

Und mich mit süßen Worten wiegte,

Aus denen sel'ge Hoffnung sprach?

O komm und löse meine Zweifel:

Wer bist Du, Engel oder Teufel,

Versucher oder Schutz und Freund?

Ach, wenn nun Träume nur mich narren,

Mein töricht' Herz vergeblich weint,[322]

Und andre Lose meiner harren ...?

Gleichviel! Es ruht ja mein Geschick

Von nun an doch in Deinen Händen,

Dich sucht mein tränenfeuchter Blick,

Nur Du vermagst mir Trost zu spenden ...

O sieh: hier steh' ich ganz allein,

Niemand versteht mich, unbeachtet

Verwelkt mein Herz, mein Geist verschmachtet,

Ich muß vergehn in stummer Pein.

O komm: der Seele banges Hoffen

Belebt ein einz'ger Blick von Dir;

Wenn anders – dann zernichte mir

Dies Wahngebilde hart und offen!


Ich schließe! Wie mich Wort um Wort

Schon reut – ich fühle Scham und Grauen ...

Doch Ihre Ehre sei mein Hort:

Ihr will ich frei mich anvertrauen ...«

Quelle:
Puschkin, Alexander Sergejewitsch: Eugen Onegin. In: Gedichte, Poeme, Eugen Onegin, Berlin 1947, S. 320-323.
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