Sterblied

[315] Wie wol geschieht doch dem, mein Gott,

Der früh durch einen sanften Tod

Sich machet von der Erden;

Es ist doch nichts mehr in der Welt,

Das einer Seele wolgefällt,

Die dort will Erbin werden;

Verfolgung, Armuth, Schmach und Noth

Ist aller Frommen zeitlichs Brod.
[315]

Der Muth zu deinem Dienst ist schlecht,

Die Meisten sind des Mammons Knecht,

Wer hält was von der Tugend?

Die Liebe schweigt, der Neid regiert,

Das Alter wird durch Ehr' verführt,

Durch böse Lust die Jugend;

Wer nicht hiermit stimmt überein,

Der muß der Andern Scheusal sein.


So wächset immer fort die Schuld,

Man sündigt stets auf die Geduld,

Die du, Herr, mit uns trägest.

Kommt aber einst das End' heran,

Dem Niemand sich entbrechen kann,

Da du ihn niederlegest,

Ach Gott, mit was für Angst und Pein

Muß solch ein Mensch umgeben sein!


Der Himmel kommt ihm schrecklich für,

An den er nicht gedacht allhier,

Die Welt kann ihm nicht dienen,

Der Satan schärft ihm dein Gericht,

Sein eigen Herz das klagt und spricht:

Wer will mich hier versühnen?

Ja, wenn nicht deine Gnade wär,

Wo käm' ihm Trost und Rettung her?


Wer jung stirbt, stirbt mit wen'ger Müh',

Und wen du liebst, der stirbet früh;

Warum solt' er sich kränken?

Er kennt nicht Welt, nicht Sünde nicht,

Darf nicht, wie und was ihm geschicht,

Wenn er erliegt, gedenken;

Je wen'ger Jahr', je wen'ger Schuld,

Je wen'ger Schuld, je größre Huld.


Er geht zu dir, zu seinem Gott,

Beut unserm eiteln Wesen Spott,

Kommt weg aus allen Mängeln,[316]

Aus Müh' und Noth zur höchsten Freud',

Aus Eitelkeit zur Ewigkeit,

Von Menschen zu den Engeln;

Den Zweck, danach so lang' uns bangt,

Den hat er unvermerkt erlangt.


O sel'ges End', o süßer Tod,

Komm', kürz' uns auch doch unsre Noth,

Uns, Gott, uns armen Sündern.

Gefällt denn unser Alter dir,

So lass' uns, liebster Vater, hier

Doch sterben gleich den Kindern;

Wir achten keine Qual und Pein,

Wenn nur das Ende leicht mag sein.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 315-317.
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