1.

[287] Es ging ein Mann im Syrerland,

Führt' ein Kamel am Halfterband.

Das Tier mit grimmigen Gebärden

Urplötzlich anfing scheu zu werden

Und that so ganz entsetzlich schnaufen,

Der Führer vor ihm mußt' entlaufen.

Er lief und einen Brunnen sah

Von ungefähr am Wege da.

Das Tier hört' er im Rücken schnauben,

Das mußt' ihm die Besinnung rauben.

Er in den Schacht des Brunnens kroch,

Er stürzte nicht, er schwebte noch.

Gewachsen war ein Brombeerstrauch

Aus des geborstnen Brunnens Bauch;

Daran der Mann sich fest that klammern

Und seinen Zustand drauf bejammern.

Er blickte in die Höh' und sah

Dort das Kamelhaupt furchtbar nah',

Das ihn wollt' oben fassen wieder.

Dann blickt' er in den Brunnen nieder;

Da sah am Grund er einen Drachen

Aufgähnen mit entsperrtem Rachen,

Der drunten ihn verschlingen wollte,

Wenn er hinunter fallen sollte.

So schwebend in der beiden Mitte,

Da sah der Arme noch das Dritte.

Wo in die Mauerspalte ging

Des Sträuchleins Wurzel, dran er hing,[287]

Da sah er still ein Mäusepaar,

Schwarz eine, weiß die andre war.

Er sah die schwarze mit der weißen

Abwechselnd an der Wurzel beißen.

Sie nagten, zausten, gruben, wühlten,

Die Erd' ab von der Wurzel spülten;

Und wie sie rieselnd niederrann,

Der Drach' im Grund aufblickte dann,

Zu sehn, wie bald mit seiner Bürde

Der Strauch entwurzelt fallen würde.

Der Mann in Angst und Furcht und Not,

Umstellt, umlagert und umdroht,

Im Stand des jammerhaften Schwebens,

Sah sich nach Rettung um vergebens.

Und da er also um sich blickte,

Sah er ein Zweiglein, welches nickte

Vom Brombeerstrauch mit reifen Beeren;

Da konnt' er doch der Lust nicht wehren.

Er sah nicht des Kameles Wut

Und nicht den Drachen in der Flut

Und nicht der Mäuse Tückespiel,

Als ihm die Beer' ins Auge fiel.

Er ließ das Tier von oben rauschen

Und unter sich den Drachen lauschen

Und neben sich die Mäuse nagen,

Griff nach den Beerlein mit Behagen,

Sie deuchten ihm zu essen gut,

Aß Beer' auf Beerlein wohlgemut,

Und durch die Süßigkeit im Essen

War alle seine Furcht vergessen.


Du fragst: »Wer ist der thöricht' Mann,

Der so die Furcht vergessen kann?«

So wiss', o Freund, der Mann bist du;

Vernimm die Deutung auch dazu.

Es ist der Drach' im Brunnengrund

Des Todes aufgesperrter Schlund;[288]

Und das Kamel, das oben droht,

Es ist des Lebens Angst und Not.

Du bist's, der zwischen Tod und Leben

Am grünen Strauch der Welt mußt schweben.

Die beiden, so die Wurzel nagen,

Dich samt den Zweigen, die dich tragen,

Zu liefern in des Todes Macht,

Die Mäuse heißen Tag und Nacht.

Es nagt die schwarze wohl verborgen

Vom Abend heimlich bis zum Morgen,

Es nagt vom Morgen bis zum Abend

Die weiße, wurzeluntergrabend.

Und zwischen diesem Graus und Wust

Lockt dich die Beere Sinnenlust,

Daß du Kamel, die Lebensnot,

Daß du im Grund den Drachen Tod,

Daß du die Mäuse Tag und Nacht

Vergissest und auf nichts hast acht,

Als daß du recht viel Beerlein haschest,

Aus Grabes Brunnenritzen naschest.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 287-289.
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