6.

[321] O Wieg', aus der die Sonnen steigen, o heiliges Meer!

O Grab, in das die Sonnen neigen, o heiliges Meer!

O du im Duft der Nacht entfaltend den Spiegel, darein

Vom Himmel Luna schaut mit Schweigen, o heiliges Meer!

O du in stillen Mitternächten mit Wogengesang

Einklingend in der Sterne Reigen, o heiliges Meer!

Die Morgen- und die Abendröten erblühen aus dir,

Zwei Rosen deinem Garten eigen, o heiliges Meer![321]

Atmender Busen Amphitrites, der nieder und auf

Die Wogen sinken läßt und steigen, o heiliges Meer!

Schoß, mütterlicher, Aphrodites! gebäre dein Kind,

Um deinen Glanz der Welt zu zeigen, o heiliges Meer!

Spreng' auf den Frühlingskranz der Erde den perlenden Tau!

Denn alle Perlen sind dein eigen, o heiliges Meer!

Du sammelst alle dir entstammten Najaden der Flur

Zurück zum Nereidenreigen, o heiliges Meer!

Die Schiffe der Gedanken segeln und sinken in dir;

Atlantis ruht in deinem Schweigen, o heiliges Meer!

Der Götterbecher, der gefallen vom hohen Olymp,

Hängt tief an den Korallenzweigen, o heiliges Meer!

Ein Taucher in das Meer der Liebe ist Freimunds Gesang,

Der deinen Glanz der Welt will zeigen, o heiliges Meer!

Als wie der Mond will ich mit Sehnen mich stürzen in dich;

Laß mich aus dir als Sonne steigen, o heiliges Meer!


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 321-322.
Lizenz:
Kategorien: