[608] Auch der Magister Albus macht sich unnütz im Erbherzog und verläßt ihn
Am siebenundzwanzigsten Dezember, einem Sonnabend, morgens zwischen acht und neun Uhr, wurde die Gans der Mamsell Julia Hornborstel von Grävedünkel in den Pfandstall geführt, und die Wasser brachen los!
Ich folge auch hier wieder als Gewährsmann dem Magister, den sein intimes Verhältnis zu dem Hause der Mamsell und der Jungfer Scherpelzin aufs beste zur Observation für mich hinstellte,[608] indem es ihm die feinsten Fäden aller Intrigen und Vorgänge unter den Augen hinschnurren ließ.
»Darauf habe ich nur gewartet!« sprach, ihre Dormeuse mit dem Anstande einer Römerin zurechtrückend, die Mamsell Hornborstel, als die wiederum atemlose Regina mit der Nachricht von dem Faktum hereinstürzte. »Rufe Sie mir den Magister Albus, Scherpelzin!«
»In den Weihnachtsferien hat selbst der arggeplagte Schulmann Zeit zu jedem Ritterdienst«, erzählte der Kollaborator; »auf den Fittichen der Hochachtung und zarten Neigung folgte ich der frühen Botschaft der siebenfärbiggeflügelten Iris und mußte von ihr darauf aufmerksam gemacht wer, den daß die holde Herrin nicht erwarte, ich werde mich in Schlafrock und Pantoffeln vor ihr präsentieren. Die Göttliche gestattete mir auch, meine Perücke aufzusetzen, und so trat ich vor sie, wohlpräparieret, den Kampf für sie mit allen Mächten des Himmels und der Erde aufzunehmen. Ich trat in ihr Zimmer, hielt die Hand geblendet über die Augen und rief: ›O Sacharissa!‹ Sie saß auf dem Kanapee, wo sie gewöhnlich zu sitzen pflegt, ihr Blick war Feuer, und zwar etwas mehr als gewöhnlich, und sie sah mich an – groß sah sie mich an – stumm sah sie mich an. ›Mamsell!‹ rief ich; sie aber winkte mir und redete folgendermaßen:
›Magister Albus, ich habe Ihn als einen zivilen, gescheiten und nicht unaimabeln Menschen kennengelernt; – Er ist in einem nicht unkonvenabeln Alter, gesund und eines verträglichen Gemütes; ich habe während meines Lebens unter Seinem Geschlechte wenig Konnäsancksen gemacht, welche Ihm in Hinsicht des Temperamentes und der angenehmen Intentionen und Sentiments gleichgekommen wären. Ich schmeichle Ihm nicht, wenn ich Ihm offen sage, daß Er mir recht wohlgefalle. Magister, Er ist zwar nur ein hungriger Schulmeister, aber Gott siehet mehr auf das Herz als auf den Rock, und was gehen mich die Löcher in Seinen schwarzseidenen Sonntagsstrümpfen an? Magister, wir sind beide ein Paar verständige, raisonable Leute, und Er mag mir antworten oder nicht, nach Seiner Beliebung; aber die Frage[609] will ich an Ihn stellen: wieviel Er für mich gegen Seine Vorgesetzte Behörde wagen will, wie weit Er sich in dieser ungerechten Sache für mich kompromittieren will, kurz, was Er tun will, um mich und mit mir Sein Vaterland aus dieser grausamen und unerhörten Tyrannei herauszureißen, was Er tun will, mir meine Gans und Rache am Doktor Hane und Sich unvergänglichen patriotischen Ruhm zu verschaffen?!‹« –
»Herr Kollega«, sagte der Magister Albus zu mir, J. W. Eyring, »wenn der Mann also angeredet und angeblitzet wird von einem solchen Weibe, so sieht er sieben Sonnen und sieben Monde zu gleicher Zeit vor seinen Augen tanzen. Und wenn er soviel Herrlichkeit zu gewinnen und so erbärmlich, so hundsgemein wenig zu verlieren hat, so wird er rabiat und verzückt zu gleicher Zeit, möchte sich die Brust auf- und sein flammenspeiendes Herz herausreißen und es der Himmlischen in die Hände drücken und schreien: ›Nimm, zermalme, iß!‹ Herr Kollega, vom Wirbel bis zur Zehe wird der größeste Tropf Mann und fühlt sich fähig, den Pelion auf den Ossa oder umgekehrt, wie es der Holden gefällig ist, zu türmen, fühlt den Beruf, zehntausend Augiasställe zu misten und fünfzigtausend lernäische Schlangen zusammenzuwickeln, sie hinten in die Rocktasche zu schieben und sich zerquetschend draufzusetzen. So tat ich, Herr Kollega, und sprach mit stammelnder Zunge zu der Adonide: ›Stern der dämmernden Nacht, erwarte die Dämmerung! Cathbat fällt durch Duchomars Schwert, ich gebe Ihr mein Wort darauf. Mamsell Hornborstel! Liebliche Tochter von Cormac, ich liebe dich wie meine Seele, und Turas Höhle, scilicet die Honoratiorenstube im Erbherzog, wird widerhallen vom Geächz der Gefallenen. Mamsell Hornborstel, Sacharissa, Lalage, Janthe, o Lanasse, ich pfeife auf das Ober-Schul-Kollegium. Auf, Winde des Winters, auf, blast über die graue Heide; brüllt, ihr Ströme des Gebirgs; heult, ihr Stürme, und bestellt meine besten Komplimente an die Herren zu Schwerin! Saget ihnen, Julia sei mein, und sie möchten einen andern Narren schicken, der dumm genug sei, auf solche Weise langsam zu verhungern. – Sie wird heute abend von mir hören, Mamsell, verlasse Sie sich drauf!‹ –[610] also rief ich, stürmte von dannen, drückte auf offenem Marktplatz dem Doktor Wübbke die Hand und schloß mich auf meiner Stube ein, die Donnerkeile des Abends zu schmieden.«
So erzählte der Magister, und ich, der Historiograph, nehme den Faden der Handlung wieder in meine eigene Hand.
Weder von den Menschen noch den Grazien noch den Musen aufgesucht, hatte ich mich der harten Kälte wegen an diesem Tage fest in meinem Museo eingeschlossen gehalten, aber nicht wie der Magister Albus Donnerkeile geschmiedet, sondern Hampsons Leben des John Wesley in der Übersetzung durchgesehen. Die Biographie des frommen Mannes und Stifters der Methodisten hatte mich recht fromm, friedlich und milde gestimmt und mein Herz mit Zärtlichkeit, Neigung und Liebe gegen sämtliche Brüder und Schwestern rund um den Erdball herum erfüllet. Die Lehre von der seligmachenden Gnade, der zufolge ein Mensch augenblicklich aus einem Sünder ein guter Christ werden kann, erschien mir recht plausible und kommode, und wären die Verzückungen, die epileptischen Zufälle, das Zubodenstürzen, das Geschrei, welches alles den Durchbruch der Gnade begleitet, nicht gewesen, ich würde mich von ganzer Seele und von ganzem Gemüte nach diesem geistigen Zahnen gesehnt haben. So aber blieb ich, und nicht nur aus diesem Grunde, sondern auch ein wenig dem Herrn Pastor Primarius Klafautius zuliebe, ein Gefäß der Ungnade, ein unangezündeter Leuchter, ein Kind der Sünde und antwortete, als der Abend genahet war und meine Haushälterin hereintrat und die Frage stellte, ob ich auch an dem heutigen Abend in den Klub gehen werde:
»Was sollte mich abhalten?«
Es hielt mich nichts und niemand ab; eine hohe Macht sorgte dafür, daß ich an diesem Abend glücklich den Erbherzog erreichte, ohne den Schrecknissen des Wetters und des Weges zum Opfer zu fallen: die Nachwelt hatte mich immer noch nötig. Wer hätte ihr wie ich die Ereignisse dieses Abends schildern können?! –
Da saßen sie, die trojanischen Greise, aber nicht grinsend und schmunzelnd, als ob ihnen eben die arge, kokette und sehr schöne[611] Helena die Bärte gestreichelt und den Honigtopf vorgehalten habe. Ihre Häupter waren gesenkt, ihre Nasen ruheten auf den Rändern ihrer Gläser. Ihrer tönernen Pfeifen Gewölk hing über ihnen gleich den vulkanischen Dämpfen, welche den Untergang von Herkulanum und Pompeji und den Tod des ältern Plinius ankündigten und zur Folge hatten. Nur der Bürgermeister sah wie gewöhnlich frisch und keck durch den Nebel, hielt sich aufrecht in seiner jovialen Breitschultrigkeit und ließ seine Stimme gleich einem natur- und menschenerfrischenden Donner über den Tisch und an den Wänden mir zur Begrüßung hinrollen. Der Magister Albus war noch nicht vorhanden – der kam erst später.
Man brachte in gewohnter Weise allerlei aufs Tapet: die Witterung, die Fortschritte der Gallier in den Niederlanden, die Weißenburger Linien, die kaiserliche Armee, den Herzog von York, den Bau des neuen Spritzenhauses, den letzten Brand in Rostock; aber alles fiel totgeboren zu Boden und blieb liegen, wie es lag. Wenn eine witzige Bemerkung des Dirigierenden notwendiger- und höflicherweise belacht werden mußte, so geschah das so hohl, als ob eine Gesellschaft Verdammter im Tartarus die vergeblichen Anstrengungen der Danaiden oder des Sisyphus oder die Grimassen des Tantalus belache.
Um neun Uhr, als wir alle dem Entschlummern so nahe wie möglich waren – kam der Magister, trat in gewohnter Weise unhörbar ein, schlich in gewohnter Weise mit zusammengezogenen Schultern an den Wänden hin, nahm in gewohnter Weise den ihm von Rechts wegen zukommenden schlechtesten, zugigsten und dunkelsten Platz an der Tafel ein und trug doch den Funken bei sich, welcher die Honoratiorenstube in die Luft sprengen sollte.
Als der Ärmste, Jüngste, Schüchternste der Tafelrunde war natürlich der Magister auch das Stichblatt des Humors der witzigen Köpfe derselben. Jahrelang hatte man ihn aufgezogen, und jahrelang hatte er das mit lächelnder Demut ohne den allergeringsten Anschein von Widerstand oder Gereiztheit ertragen. Selbst dem Pastor Primarius fiel dem schäbigen Kollaborator[612] gegenüber von Zeit zu Zeit das Brett – nämlich das Stirnschild Aaronis – ab, und er machte einen schwächlichen Versuch, ein Bonmot über ihn zu er finden und preiszugeben. Der Bürgermeister war wahrhaft groß in betreff des Magisters, und sein wanderschütterndes Gelächter vermochte den Armen zu einem Schatten platt zu drücken. So mußte es denn wie eine Geisterapparition aus der Fabrik Cagliostros auf die Gesellschaft wirken, als dieses Nichts urplötzlich mit heller, schneidender Stimme nach einem Glase Bischof, »der Ambrosia Bruder Episkopal«, rief, dasselbe mit einem klassischen Fluch als »zu schwach« wieder hinausschickte, emporschnellte, auf den Tisch schlug, daß selbst der Bürgermeister zusammenfuhr, und rief:
»Bürger von Bützow!«
»Holla?!« stammelte der Dirigens.
»Bürger von Bützow! Quiriten!« rief der Magister von neuem, den Unterbrecher mit einem indeskriptibeln Blicke der Verachtung und des Hohnes zur Ruhe verweisend: »Bürger von Bützow, patriotische Männer, Söhne des teutschen Armins, des Winfeldsiegers! Als die Franken unter der Anführung des Generals Custine, wie jedermann bekannt ist, im Herbste des ewig denkwürdigen Jahres siebenzehnhundertzweiundneunzig Mainz eingenommen hatten, sprach in der Gesellschaft der Freunde der Freiheit daselbst der leider zu Anfange dieses jetzigen Jahres in Paris allzufrüh verstorbene Herr Professor Forster folgendermaßen: ›Es sind nun grade dreihundert Jahre verstrichen, seit der Graf von Nassau den Mainzern ihre Freiheit nahm. Er ließ damals ein Stück Eisen in der Gestalt eines Steins mit Ketten an dem Richthaus befestigen und sagte: 'Wenn die Sonnenstrahlen diesen Stein schmelzen, dann sollt ihr euere Privilegien wiederhaben!' – Mainzer, Bürger, jetzt wollen wir dieses Denkmal der Barbarei feierlich abnehmen und Denkmünzen daraus schlagen lassen mit der Umschrift: Die Strahlen der Wahrheit haben ihn geschmolzen!‹... Bürger von Bützow, auch uns ist ein solches Gedächtniszeichen der Tyrannei in der Mitte unseres Weichbildes aufgehänget worden, auch uns sind unsere Privilegien genommen; aber um drei Jahrhunderte ist die Menschheit fort[613] und dem Lichte entgegengeschritten; Bürger von Bützow, hier bin ich aufgestanden unter euch, deute auf den Stein des Ärgernisses und spreche ebenfalls: Die Strahlen der Wahrheit werden ihn schmelzen!«
Hier sprang auch der Bürgermeister, der sich allmählich aus der ersten Erstarrung emporraffte, auf; aber der Magister drückte ihn wie ein Kind auf seinen Sitz hinab und schrie:
»Bleib Er nur ruhig sitzen, Herr, ich bin noch nicht fertig mit Ihm! ... Bürger von Bützow, teutsche, aufgeklärte Patrioten, Freunde der Freiheit! Am fünften November hat die Faust ruchloser, brutaler Gewalttätigkeit, welche sich erfrecht, sich die wohlklingenden Namen Gesetzlichkeit und Ordnung beizulegen, gewagt, in unsere und der Natur geheiligtste Rechte einzugreifen. Unsere Frauen und Bräute sitzen in ihren Kammern und verachten uns Schwächlinge; – unsere Gänse, eingesperrt in ihre dunkeln und engen Käfichte, ins Gefängnis geworfen, wenn sie die schützende Schwelle des Hauses oder Hofraums überschreiten, leiden, abgeschnitten vom freundlichen Element des Wassers, abgeschnitten von der wonnigen Frische des ewigen Äthers, an Magen- und Unterleibsbeschwerden jeglicher Art, vorzüglich aber an Dyspepsie; – der motus peristalticus, die wurmförmige Bewegung ihrer Eingeweide, wird immer unregelmäßiger, wird bald gänzlich aufhören, und – die Götter mögen uns vor dem Genuß der entseelten Leichname gnädigst bewahren! ... Bürger von Bützow, ich lese bittere Reue von den Gesichtern mehrerer der hier Anwesenden ab. Ein Dämon hat mehr als einen wackern Mann verführet, den Mund zur unrechten Stunde aufzutun; teutsche Männer und freie Bürger, ich öffne ihn zur rechten Zeit! ... Herr Kämmereiberechner Bröcker, ich habe mit der Frau Eheliebsten den Kasum durchgesprochen, und sie stehet auf meiner Seite, Herr Bröcker! ... Herr Pastore, ich weiß, wie die Frau Gemahlin über den Fall denket! Meine Herren, die gewalttätige Faust, welche unsere ehliche Ruhe und den lieben Hausfrieden über den Haufen geworfen hat, ist die Faust eines hohnlachenden, jämmerlichen, verächtlichen Hagestolzen, der ein solches häusliches Glück nicht kennt und achtet[614] und der es mit Willen und Vorsatz überall, wo es ihm aufstößet, diabolisch zu vernichten intentieret ist.«
»Nu ward mi dat denn doch to arg!« ächzte der Bürgermeister, abermals den Versuch machend, aufzustehen.
Mit verdoppelter Gewalt drückte ihn jedoch der Magister abermals und wieder hinab, schob ihm die spitzige, hungrige Nase dicht vor das bedenklich apoplektisch rot gewordene Gesicht und grinste:
»Herr, sitze Er ruhig in drei Teufels Namen! Er hat doch wahrhaftig lange genug das große Wort hier gehabt, nun lasse Er auch einmal 'n andern reden und sitze Er still, ich bin noch nicht fertig mit Ihm! ... Bürger von Bützow, sollen wir diese Faust in unserm Hofe, in unserm Hause, sollen wir sie hinter den Gardinen unseres Ehebettes noch länger tolerieren? Sie wird uns überall vor die Nase gehalten, beim Frühstück, beim Mittagstisch, bei der Abendmahlzeit. Sie folget uns dräuend auf unserm Spaziergange und folget uns nach harter Tagesarbeit in die Stunde unserer Erholung hierher in den Erbherzog – hier ist sie!«
Mit einem Gestus, der des Bürgers und Volksrepräsentanten Danton würdig gewesen wäre, zeigte der Magister auf die feiste Hand des Herrn Dr. Hane, die freilich festgeballt auf der Wirtshaustafel lag, aber jetzt blitzschnell heruntergezogen und in die Tasche geschoben wurde.
»Bürger, Freunde, Patrioten!« schrie der Magister, der von seiner hervorbrechenden Suada immer höher über sich hinausgerissen wurde, mit gellendster Stimme, welche die Gastpatronin in die Tür der Honoratiorenstube und die Plebejer aus dem Gemache gegenüber in dichtgedrängter horchender Phalanx auf die Hausflur zog »Bürger, Freunde, Patrioten! Ich erkläre die Beeinträchtigung der Gänsefreiheit für einen himmelschreienden Eingriff in die Menschenrechte; ich deklariere das Gänse-Ediktum nicht nur für eine Ungerechtigkeit, sondern auch für eine schildburgsche, lalenburgische Dummheit, für eine Sottise, welche uns vor den Augen des Universi herabwürdiget und schädiget –«[615]
»Vivat Albus! Es lebe der Herr Magister Albus!« schrie der Haufe auf der Flur.
»Welche uns zum Gespött im ganzen Heiligen Römischen Reiche macht, welche unsere Laren und Penaten von ihren Gestellen neben unserm Herde herabwirft und welche ich hiemit frei und öffentlich vor dem Wohlfahrtsausschuß des gesunden Menschenverstandes und dem Revolutionstribunal der öffentlichen Lächerlichkeit denunziere.«
»Vivat die Gänsefreiheit! Vivat der Magister Albus!« kreischte eine quäkende Stimme im Haufen, und ich glaubte das wohltönende Organ des Doktors Wübbke darin zu erkennen.
Aber der Kollege Albus war noch immer nicht zu Ende.
»Bürger von Bützow!« krähete er von neuem los, »ihr kennt mich, ich bin mit der Milch euerer Triften genährt, ich bin unter euch aufgewachsen; mein Gewand ist rein, mein Wandel unbescholten. Bescheidenheit war der Kranz meiner Jugend, Blödigkeit mein einziger Fehler. Bürger, Römer, Hellenen! Die eiserne Zeit pocht auch an den weichsten Busen und umschließt ihn mit siebenfachem Erz. Bis jetzt habe ich in Hunger und Kummer den Diogenes den Laërtier kommentiert, aber von dieser Stunde an werde ich etwas anderes, Nützlicheres kommentieren. Ich bin nicht Advokat wie der Herr Doktor Wübbke, ich bin nicht Parlaments-Advokat wie Camille Desmoulins, aber gleich letzterm springe ich im Palais Royal der Weltgeschichte auf den Stuhl und rufe, ohne mir jedoch den Titel Generalprokurator der Laterne anzueignen: Gebt uns unsere Gänse heraus! Freiheit! Freiheit! Gänsefreiheit! Und möge der pro tempore regierende Bürgermeister Hane wie sein Edikt schmelzen im Strahle der Wahrheit, zerfließen im Lichte der Humanität und alle werden in der Erkenntnis seiner erbarmungswürdigen Nullität! Es lebe die Mamsell Hornborstel und die Gänsefreiheit! Freiheit! Freiheit, und unsere Menschen- und Gänserechte!«
Wie wenn Aeolus, der Beherrscher der Winde, alles, was blasen, zischen, heulen, brüllen und pfeifen kann, auf einmal aus dem Stalle läßt, so brach's los, als der Magister vom Stuhl,[616] auf welchen er sich in der letzten, höchsten Begeisterung hinaufgeschwungen hatte, herabsprang.
»Hinaus, hinaus! Werft ihn aus dem Fenster! Schmeißt ihn aus der Tür! Grävedünkel! Husaren! Husaren! Revolte! Hinaus, hinaus!« schrien die einen.
»Vivat! Vivat! Freiheit! Freiheit! Gänsefreiheit! Gänsefreiheit! Vivat! Vivat!« brüllten die andern.
Es entstand in der Tür der Honoratiorenstube ein Gewoge und Gedränge wie in der Konventssitzung vom siebenundzwanzigsten Juli unseres Jahres siebenzehnhundertvierundneunzig, und das letzte, was ich vor Mitternacht vom Magister Albus erblickte, waren seine beiden langen, hagern Arme, die er auf der Hausflur des Erbherzoges in die Luft warf, um sodann mit ihnen den Doktor Wübbke zu fangen, an sich zu ziehen und ihn im Überströmen seiner Gefühle an den Busen zu schließen.
Für einen alten Mann war die Geschichte nicht, und vorsichtig ging ich mit meiner Laterne nach Hause.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gänse von Bützow
|
Buchempfehlung
In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro