Drittes Kapitel

[585] Auctor am Fenster; Weiber, Gänse und Senat von Bützow in der Gasse


Es ist nicht gleichgültg, auf was der Weise sieht, wenn er an das Fenster seines Studierzimmers tritt, und fraglich wär's, ob die »Kritik der reinen Vernunft« ohne jenen weltberühmten Turmknopf zu Königsberg das Licht der Welt erblickt haben würde. Auf was der Herr Geheimerat von Goethe, der Herr Hofrat Schiller, der Herr Generalsuperintendent und Oberkonsistorialrat Herder in Weimar, der Herr Hofrat Wieland in Oßmannstedt von ihren Musen- und Philosophenstuben aus blicken, weiß ich nicht; ich sehe in den Augenblicken, wo Sankt Johannes der Evangelist auf Patmos mit seinem Rebhuhn spielte, auf den Brunnen meinem Fenster gegenüber. Ich sah auch darauf am fünften November des Jahres siebenzehnhundertundvierundneunzig, um die eilfte Stunde des Morgens, nachdem zwanzig Minuten vorher die »Herren« vom Rathause gekommen waren.

Um diese Zeit stunden an dem rinnenden Quell Johanna, die Magd meines eigenen Hauses, Magdalena, die Haushälterin des dirigierenden Bürgermeisters Dr. Hane, Christiane, die Magd des Herrn Kämmereiberechner Bröcker, Regina, die Magd der Mamsell Hornborstel, welche der Magister Albus Sacharissa[585] nannte, und einige andere des klaren und flüssigen Elementes bedürftige Weibsbilder aus dem Frauen- und Jungfrauenstande. Mit geflügelter Zunge verhandelten sie die Ereignisse der Stadt Bützow, historias urbis et orbis, und um sie her gackelte und kackelte das geflügelte Vieh der Gänse von Bützow harmlos, sorglos, ahnungslos.

Frieden und Ruhe lagerten über dem Brunnen, wie der gelbe Nebel über Bützow, und mit Werthers bleichem Schemen versenkte ich mich in »das harmloseste Geschäft und das nötigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten«. Gleich wie in Werther lebte auch in mir die patriarchalische Idee, »wie sie alle, die Altväter, am Brunnen Bekanntschaft machen und freien und wie um die Brunnen und Quellen wohltätige Geister schweben«.

»Oh, der muß nie nach einer schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der das nicht mitempfinden kann!« rief ich mit dem Doktor Goethe und schob frisches Holz in den Ofen. Als ich von dieser Verrichtung an das Fenster zurückkehrte, hatte sich die Szene verändert. Das gellende, taktmäßige Gebimmel der Ausruferglocke traf mein Ohr; in der Mitte der Gasse stand, die Wichtigkeit seiner Stellung wohl kennend, Grävedünkel der Viertelsmann, entfaltete einen großen Bogen beschriebenen Papieres, und Gänse und Frauenzimmer versammelten sich im Kreise um ihn her, und die Passanten blieben stehen, lauschend, was ein hochedler Magistrat seiner guten und getreuen Bürgerschaft zu entbieten habe.

Und Grävedünkel der Präkone räusperte sich und verkündete:


»Wasmaßen der Gänse Geschrei und ärgerlicher Unfug, Gackeln, Zischen, Strohabfressen von Pumpen und Brunnen von Tag zu Tag überhand nehmen und insupportabel zu werden den Anschein bei allen wohlmeinenden und ruhigen Bürgern und Insassen dieses Weichbildes zu Bützow gewinnen, hat ein wohllöblicher Magistrat unter heutigem Dato beschlossen und publizieret anhierdurch, wie folget:[586]

Pro primo, es soll niemandem, es seie Mann oder Weib, hinfüro vergönnet sein, seine Gans zum öffentlichen Schaden und Ärgernis frei nach ihrem tierischen Willen laufen zu lassen in den Straßen, Kehrwiedern, auf den Plätzen und Gängen, es seie denn, der Gänsehirt oder Junge führe und leite sie, wie es mit seiner Pflicht zu verantworten steht.

Pro secundo, es soll jedermann, es seie Mann oder Weib, vergönnet, gestattet und zugelassen werden, wie es von alters her Gebrauch ist, nach seinem oder ihrem Gebrauch, Nutzen, Umständen und Willen Gänse zu halten, Eier legen zu lassen, auszubrüten, zu schlachten und rupfen, in Ställen oder umschlossenen, wohl verwahrten Hofräumen, und niemand soll ihn oder sie hiebei in seinem oder ihrem guten Recht kränken, stören, hindern und vergewaltigen.

Pro tertio, es soll einem jeglichen, es seie Mann oder Weib, freistehen, seine oder ihre Gänse den Tag über einmal zum freien Wasser zu treiben und treiben zu lassen, und soll ihn oder sie auch hiebei niemand kränken und hindern.

Pro quarto, es soll hiemit eine städtische Polizei angewiesen sein, ein scharfes Auge zu haben auf jeden übelwollenden, ungehorsamen, nachlässigen Übertreter, es seie Mann oder Weib, und wird unserm Stadtknecht, Ausrufer und Viertelsmann Grävedünkel aufgetragen, jegliche ohne Aufsicht und Führung umherlaufende Gans ohne Ansehn der Person aufzugreifen, sei es mit Gewalt oder List, sie in den Pfandstall zu treiben und zu inhaftieren bis auf weitere Verfügung und rechtlichen Spruch.

Also beschlossen und publizieret – Bützow, am Donnerstag, den fünften November siebenzehnhundertvierundneunzig.

Dr. Hane, pro tempore

Bürgermeister«


Viel und vielerlei habe ich, J. W. Eyring, emeritierter Schulrektor zu Bützow an der Warnow, in einem langen Leben in Erfahrung gebracht, aber nichts, welches sich mit dem vergleichen ließe, was vorging, nachdem Grävedünkel sein Dokument zusammenfaltete[587] und sich wenden wollte, um es an einer andern Straßenecke dem Volke vorzuschnarren.

Besäße ich jene Feder, welche die mit dem Demokrit lachenden Abderitinnen schilderte, wäre Heinrich Füßlis Pinsel mein, welcher das Gespenst des Dion und den Herkules im Kampfe mit des Diomedes menschenfressenden Rossen erschuf: ich würde es versuchen, den Physiognomien und Gebärden unter meinem Fenster gerecht zu werden. Da ich aber nur den Kiel aus dem Flügel einer Bützowschen Gans führe, so bescheide ich mich und sage nur, daß die Wirkung dieses Magistratserlasses eine erschröckliche war.

Keiner der versammelten Väter der Stadt schien, ehe er seine Stimme zu diesem Beschluß gab, mit seiner Frau, Haushälterin oder Magd die Sache beredet und beraten zu haben. Keiner der erleuchteten Senatoren hatte daran gedacht, in welcher Weise er sich seinem Hauswesen und dem Martinsbraten gegenüber justifizieren werde; – Wübbke, der Maratist, mochte sich die Hände reiben; – Wübbke, l'ami du peuple, triumphierte hinter jeglicher Bettgardine eines hochweisen Magistrates zu Bützow.

Weiber und Gänse erhoben sich, wie nur Weiber und Gänse sich erheben können. Nimmer konnten jemals die weimarischen Hof- und Geheimderäte, die Königsberger Professoren, die Sterngucker zu Greenwich, die Umwohner des Vesuvs, Ätnas und Heklas von ihren Fenstern aus etwas Ähnliches gesehen haben.

Auf die Stille erfolgte ein Sturm; Weiber und Gänse schlugen mit den Armen und Flügeln, als ob zehntausend Troerinnen die Vermählung der Helena mit dem Prinzen Paris feierten. Selbst Grävedünkels Ruhe und Stoizismus, bewährt in hundert Schlachten der Maurer und Zimmerleute, im Buhurt und Tjost, dem Kampf der Scharen und dem Einzelkampf, wich diesen Vociferationen und Quiritationen. Tumultus, clamor, lamentum, querela, planctus, garritus, cachinnus, risus solutus, fremor, strepitus, crepitus, vagitus stürmten über Bützow, und er – Grävedünkel – stand, und seine Gebeine erzitterten, und es erbleichte der Karfunkel seiner Nase. Selbst der Dirigens, der den Doktor[588] Wübbke aus dem Erbherzog dirigierte und mit göttlicher Hand, Macht und Kraft den klugen Führer des wilden Haufens niederschmetterte, nachdem er ihn gen Himmel geworfen hatte, würde hier das Hasenpanier aufgeworfen haben: Grävedünkel blickte umher und – nahm Reißaus, und das Gelächter der Nachwelt, risus posteritatis, heftete sich an seine Posteriora.

Auf dem Felde aber, welches dieser Feind der öffentlichen Ruhe so schmachvoll verlassen hatte, fuhren den nordischen Totenwählerinnen, den Valkyrien, gleich die Mägde von Bützow umher, bis sie urplötzlich auseinanderstoben, hierhin und dahin, eine jegliche zu ihrer Hausfrau; und Küche und Speisekammer, Schlafstube und Visitenstube hallten wider von dem Unerhörten. Als die Herren vom Rathause heimkehrten, fanden sie die Suppe, welche sie sich eingerührt hatten, heiß, dampfend, gesalzen und gepfeffert auf dem Tische.

So ward Zeus' Wille vollendet.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 585-589.
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