Fünftes Kapitel

[592] Summum ius, summa iniuria: Wer für das Recht sorgt, hat für die Injurien nicht zu sorgen


Nicht ein Milesisches Märchen erzähle ich; einer strengen Muse folge ich Schritt für Schritt auf dem Fuße, und sie führt mich wieder in das Klubzimmer des Gasthofes zum Erbherzog am Abend des dritten Tages nach der Austreibung der sieben Teufel, welche die würdige und respektable Versammlung in der ärgerlichen Person des kleinen und hageren Advokaten, des Doktor Wübbke, besessen hatten.

Banges Haingeflüster – Windsgeseufz im Heidekraut – Grabmaltrümmer – Eulenflug – Unken – und Rohrdommelruf im Röhricht – giftiger Dampf aus unabsehbarem Moore – schlummerndes Gebein – Matthisson! Wahrlich, die Mamsell Hornborstel hatte recht: »den andern hatten es ihre Weiber gesagt«, und die einzigen, welche noch heitereren Auges in dem sonst so geselligen Kreise umherzublicken vermochten, waren die Junggesellen, die Hagestolzen und die Witwer.


Horch, Washington donnert: der Erdball erzittert,

Messina versinket, wenn Eliott wittert.

Kartaunen verscheuchen mein leiseres Lied,

Das behend den eisernen Hallen entflieht;


wahrlich, das grobe Geschütz der weiblichen Bützower Artillerie hatte seit der Grävedünkelschen Gassenrede nicht geschwiegen; zum Schweigen aber war das männliche Feuer gebracht, und des Aristophanes Lysistrate, kurzweiligen Angedenkens, würde ihre Freude an der Tapferkeit und Ausdauer ihrer Schwestern vom blumigen Ufer der Warnow gehabt haben.

Da saß die hochehrwürdige Geistlichkeit gesenkten Hauptes[592] und bereuete es tief, in das Anathema gegen die Gänse eingestimmt zu haben: sie hatte weder an die Zehntgänse noch an die Gattin gedacht.

Da saß der Kämmereiberechner Bröcker, der Mann des Zornes, der Urheber des Jammers, vollständig nüchtern, ein Bild des Elends; hohläugig lehnte er die bleichgehärmte Wange, wenn auch nicht an den Aschenkrug, so doch auf die zitternde Hand, und bei niemandem in der Runde fand er den Trost der bangen Schwermut; nur finstere und vorwurfsvolle Blicke wurden ihm zuteil, und er hatte es nicht sich selber zu verdanken, daß er nicht herausgeworfen wurde aus dem Erbherzog wie der Doktor Wübbke.

Da saß der Kaufmann, der Arzt, der Steuereinnehmer, und hinter jedem saß die schwarze Sorge.

Auf die Stimmung dieses Abends paßte nicht ein einziger Vers unseres kosmopolitisch-humanen Bundesliedes. Ach, der Bierkrug war nicht der Lethestrom, aus welchem man Vergessen, süße Bewußtlosigkeit trinken konnte.


Horch – wie Murmeln des empörten Meeres,

Wie durch hohler Felsen Becken weint ein Bach,

Stöhnt dort dumpfigtief ein schweres, leeres,

Qualerpreßtes Ach!


Es war dieses Mal nicht der Hofrat Schiller, sondern der Pastor Primarius Klafautius, der dieses Ach aus der Tiefe seines umfangreichen Busens hervorholte und uns eine kleine Predigt oder Rede hielt.

»Christliche Brüd-, meine lieben Herren, wollte ich sagen; da sitzen wir wieder in freundschaftlicher Gemeinschaft, uns nach des Tages Arbeit, nach niedergelegter Bürde des Amtes in bescheidener teutscher Weise von jeglicher Anstrengung zu erholen und dem abgespannten Geiste die nötige Ruhe zu gönnen. Meine Seele erfreuet sich darob. – Ihr Wohlsein, Herr Bürgermeister! – Niemand ist hoffentlich unter uns, der nicht dem andern mit herzlichem Wohlwollen entgegenkommet. Andächtige Gemeinde, wollte ich sagen, meine hochgeehrtesten Herren und Mitbürger,[593] wer ist unter uns, der dem Nachbar, dem Freund, dem Kollegen, dem Bruder das kleinste Böse gönnen würde? Niemand! kann ich mit dankerfülltem Herzen ausrufen. – Niemand! Niemand! Meine Herren und guten Patrioten, wir stehen fest zusammen in diesen wilden, gottlosen, pflichtvergessenen Zeiten – wir haben es bewiesen, als wir jenen Unglücklichen, jenen Verführten und Verführer, den Herrn Doktor Wübbke, mit blutendem Herzen und weinendem Auge aus unserer Mitte stießen, als wir unsere Pflicht taten wie Abraham, da er hinging, seinen Sohn Isaak auf dem Berge Morija zu opfern. Meine hochverehrtesten Herren, sollten wir uns in unserer christlichen Opferwilligkeit nicht überhoben haben? Sollten wir nicht in jener Stunde der Selbstüberwindung die Grenze, so zwischen dem Recht und Unrecht gezogen ist, überschritten haben, indem wir den Worten unseres vortrefflichen Herrn Kämmereiberechners im Taumel der Leidenschaft und Aufregung ein vielleicht zu williges Gehör gaben? Meine Brüd- Herren, ich stehe nicht an auszusprechen, daß sich nicht ganz grundlose Einwendungen gegen unsere Äußerungen in betreff jener Hausvögel, welche wir Gänse nennen, erhoben haben. Ich habe Stimmen vernommen – Stimmen, welche – ich kann nicht umhin, es zu sagen – mit Bitterkeit jenen vielleicht ein wenig allzu hastig gefaßten Beschluß unseres wohllöblichen Magistrates – dessen weisen und wohlbedachten Anordnungen ich mich übrigens nach Gottes Gebot in jeder Weise unterwerfe – gerügt haben. Es ist nicht zu leugnen, daß wir allen Feinden der Ruhe und Ordnung, allen unpatriotischen Verächtern echt teutschen und meckenburgischen Biedersinnes eine starke und scharfe Waffe in die Hand gegeben haben. O meine Herren meine lieben Herren, sollte es wohl eines Christen und christlichen Bürgers unwürdig sein, einen als falsch erkannten Schritt demütig und zum allgemeinen Besten zurück zu tun? Könnte man nicht in einer zweiten Sitzung hochlöblichen Magistrates jenes Edikt, welches jener Spezies der Wasservögel, Gans genannt, den freien Aufenthalt in den Gassen von Bützow verbietet –«

»Revozieren?!« fragte die donnernde Stimme des regierenden[594] Bürgermeisters. »Nimmermehr, solange ich auf dem Amtsstuhle sitze! Revozieren, sich selber ins Gesicht schlagen, nur weil die Menschheit erbarmungswürdig unter dem Pantoffel des Weibsvolkes steht und dieses wieder für das Gänsevolk? Den Umstürzlern Tür und Tor freiwillig öffnen!? Da komme mir einer!«

Ein Faustschlag krachte auf den Tisch hernieder wie Zeus Blitz aus dem Olymp.

»Herr Pastore«, schrie der Dirigens, »Herr Pastore, ich bin Gott sei Dank kein verheirateter Mann und rekommandiere mich Seiner venerablen Ehehälfte zu allen nur möglichen Diensten; aber hier ist der Riegel nun einmal vorgeschoben, und meine Haushälterin weiß ich in dem nötigen Respekt zu erhalten. Meine Gänse halte ich, wie das Gesetz es befiehlt, von vorgestern an im Stall inkarzerieret und verhoffe, daß ein jeder gute Bützowsche Bürger in dieser Hinsicht auch seine nichtsnutzige Schuldigkeit tut. Revozieren!? Bröcker, Kollega, Er ist mein Mann; was sagt Er zu diesem Vorschlag seiner Ehrwürden?«

Der Kämmereiberechner wäre bei dieser abrupten Frage fast unter den Tisch gerutscht. Sein schmales tschippewäisches Haupt verkroch sich so tief als möglich in dem hohen Rockkragen.

»Herr Kollega – Herr Bürgermeister«, stammelte er, »ich – ich – die Gans – ist ein Schwimmvogel – ich habe – Aufregung des Momentes – Doktor Wübbke – Exaltation und Punsch – sie, die Gans, ist – ein Vogel, welcher doch zu seiner Ausbildung – Fettmachung – eines weitern Spielraumes – nach der Naturgeschichte – und näherer Einsichtsnahme der Verhältnisse – zu bedürfen – berechtigt – sein dürfte.«

»Ich lasse Seiner Frau Eheliebsten mein Kompliment machen, Kollega«, grunzte der Konsul. »Er ist ein qualifizierter Hase, Bröcker; aber revozieret wird nicht, und ich rate Ihm vor allen, daß sich Seine Schwimmund Wasservögel nicht ohne Begleitung Vor meinen und Grävedünkels Augen sehen lassen.«

»Bravo, Herr Bürgermeister!« rief ich. »So habe ich mir immer jenen römischen Senator gedacht, der den ihn am Bart zupfenden Gallier zu Boden schlug. Plus de galanterie! Wie Männer, wie[595] Halbgötter wollen wir Unbeweibten vor dem Heiligtum der Gesetze wachen. Fiat justitia, pereat thalamus lectusque conjugalis! Was sagt Er dazu, Kollega Albus?«

Der Magister fuhr aus der tiefsten Geistesabwesenheit empor, in welche ein Schulmann möglicherweise verfallen kann. Seine Seele war nicht bei unserm Gespräch, und es wäre eine Impolitesse gewesen, sie in die niedern Regionen desselben mit zu großer Hartnäckigkeit herabzurufen. Ich ließ sie höflicherweise in ihrer platonischen Konjunktion mit Sacharissa, Lanasse und Janthe; – dem armen, hungrigen magisterlichen Leibe war selbst diese magere Seelenspeise zu gönnen; und es wäre nicht nur eine Impolitesse gewesen, sondern peccatum in spiritum sanctum, eine Sünde gegen den Heiligen Geist, nämlich der Sentimentalität und der Wertherschen gelben Hosen, das luftige Pläsier mutwillig zu zerstören.

An diesem Abend erschien die große chinesische Punschbowle der Gastpatronin nicht auf unserm Tisch; wir hatten nicht Ursache, Viktoria zu schießen, wie nach der Expulsion des Demagogen. Wohl hatten wir wie in der Holzangelegenheit unsern Willen durchgesetzt und das Feld behalten; aber es war Grund vorhanden, das Jubilieren und Vivatrufen darüber noch ein wenig zu verschieden. Grävedunkel hatte an diesem Abend niemanden nach Hause zu geleiten, man brach lange vor der Bürgerstunde auf, und die Laren und Penaten mehr als eines wackern Bützowschen Mannes runzelten die Stirn, zogen die Augenbrauen zusammen und zeigten die Rute. Aus mehr als einem Gänsestall, an welchem mich mein Weg vorüberführte, vernahm ich ein leises, verhaltenes Gegackel, welches eine große Ähnlichkeit mit einem schadenfrohen Gekicher hatte. Das geflügelte Völkchen schien selbst im Traume sich der Proklamation des hochweisen Magistrates zu freuen. Es begegneten mir der Doktor Wübbke und der Sattler Scherpelz Arm in Arm; – auch der furchtbare Schneider, den Schmidt die Genossen nannten, schwankte wandelnd daher, den Busen voll göttlichen Trotzes. Wieder stieg weißlicher Nebel aus dem Söhring vor dem Rostocker Tor, doch ein bleichlicher Mond leuchtete mir auf meinem[596] Wege, und gute, schützende Genien geleiteten mich sicher auf meinem Pfade und nach Hause. Ich kannte übrigens auch den Weg vom Erbherzog zu meiner Wohnung und wußte die Abgründe und schlüpfrigen Gebirge zu beiden Seiten und in der Mitte zu vermeiden; – es war kein geringes Kunststück. Es war überhaupt kein geringes Kunststück, ohne Gefährde durch die Anfechtungen der Stadt Bützow zu kommen und ein vergnügliches, helläugiges Alter zu erreichen, ohne an seiner Reputation und sonst manchem andern Dinge Schaden erlitten zu haben.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 592-597.
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