[477] Zum dritten Mal seit der Nacht, in welcher die Besatzung vom Fort Liefkenhoek den Kanonendonner der schwarzen Galeere und der Immacolata Concezione und das Auffliegen des letztern guten Schiffes vernahm, senkte sich der Abend hernieder, windstill und ungewöhnlich warm. Wetterkundige behaupteten, es werde mit nächstem viel Schnee geben, und sie mochten recht haben. Nachdem die Sonne am frühen Morgen hell am ziemlich klaren Himmel aufgestiegen war, hatte sie sich gegen Mittag hinter schwerem, grauem Gewölk verkrochen. Dieses Gewölk hatte sich mehr und mehr zusammengezogen, und mit dem Abend senkte es sich immer tiefer herab auf die Stadt Antwerpen, auf Land und Fluß und Meer.
Wieder befinden wir uns auf dem genuesischen Schiff Andrea Doria in der Kajüte des Kapitäns.
Die hängende Lampe wirft ihr rötliches Licht durch das Gemach, über die Waffen, die Karten an den Wänden, über den[477] Boden, auf welchem die blutigen Tücher umherliegen, über das Lager, auf welchem Antonio Valani im Wundfieber stöhnt und phantasiert, über die am Fußende der Kissen kniende Myga van Bergen, über den Leutnant Leone della Rota, welcher neben dem Lager des sterbenden Freundes steht und wilde, seltsame Blicke von dem Verwundeten zu der entführten Jungfrau wandern läßt.
Um Mittag hat Leone della Rota von dem Admiral Spinola und dem Gouverneur von Antwerpen mit Gleichmut die Bemerkung hingenommen, daß des Meergeusen Entkommen ein Teufelsstreich und er – Leone – schuld daran sei. Mit etwas weniger Gleichmut hat er vernommen, daß ihm – in Ermangelung eines Bessern – der Oberbefehl über die Galeone Andrea Doria für die Expedition des nächsten Morgens anvertraut sein solle.
Nach der an Bord befindlichen Dirne hatte sich weder der Gouverneur noch der Admiral erkundigt.
Unter viel Arbeit an Bord und am Land war dem Leutnant der Tag hingegangen, nur wenige kurze Augenblicke hatte er dem sterbenden Freunde widmen können. Aber an Bord und am Lande – überall verfolgte den jungen Genuesen das Bild des schönen flamländischen Mädchens, das er auf seinem Schiff gefangenhielt, das ohne Schutz und Schirm seiner Willkür hingegeben war, wenn – der Freund tot war. Anfangs suchte er zwar noch alle Gedanken solcher Art zu verscheuchen, aber immer wieder von neuem drängten sie sich ihm auf; auf keine Weise konnte er ihnen entgehen, und bald gab er es vollständig auf, dagegen anzukämpfen. In ihrer Verzweiflung erschien ihm das holde Kind nur noch um so reizender; unter seinen Matrosen und Schiffssoldaten, im Arsenal, im Vorsaal des Admirals, in den Gassen der Stadt war sie in seiner Seele, wie sie mit gerungenen Händen in der Kajüte an Bord des Andrea Doria kniete. Die wildeste Leidenschaft schlug in hellen Flammen auf, und mit den tollsten Sophismen suchte er sein widerstrebendes Gewissen niederzudrücken.
Was nützte es auch dem Antonio, wenn er, Leone, das Mädchen zurücksandte an Land?[478]
Nun rief sich Leone della Rota die Augenblicke zurück, in welchen er den zierlichen Leib des Mädchens in seinen Armen gehalten hatte, in welchen er das ohnmächtige Kind durch den Rauch, durch die Gassen getragen hatte. Der Wind trieb ihm damals die blonden Locken der Jungfrau in das Gesicht – – –
›Nein, nein, nein, Antonio Valani, dein Recht an die schöne Beute endet mit deinem Leben! Kriegsrecht, Antonio Valani, streiche die Flagge und sinke – mir das Glück jetzt, das dir bestimmt war, und morgen – morgen mir das Unterliegen und einem andern der Sieg! Kriegsrecht, Kriegsglück – armer Antonio!‹
Mit solchen Gedanken war in der Abenddämmerung der Leutnant in die Kajüte getreten, und nun stand er, wie wir geschildert haben, zwischen dem Sterbenden und der zitternden Myga im Schimmer der trüben Schiffslampe.
Man hat den verwundeten Kapitän ans Land schaffen wollen; aber mit aller Gewalt einer erlöschenden Existenz hat sich Antonio Valani dagegen gewehrt; auf seinem Schiff will er sterben, nicht im Hospital. In seinem Fieberwahnsinn hat er nicht vergessen, daß Leone das flamländische Mädchen, das er liebt, an Bord des Andrea Doria geführt hat. Je näher der Tod kommt, desto fester klammert er sich an diese Liebe, desto heftiger tritt sie hervor. Im Leben hätte er sie fest in sich verschlossen, ohne das Dazwischentreten seines wilden Gesellen Leone della Rota. Im Sterben, im Fieberwahnsinn wirft sein Geist alle einengenden Fesseln ab: nichts von dem, was er früher gefühlt und verborgen hat, verbirgt Antonio Valani mehr.
Arme Myga! Wie sie da kniet, zu den Füßen des Lagers des todwunden Genuesen, mit aufgelösten Haaren, geisterbleich, mit wundgerungenen Händen! Keine Rettung, keine!
Die Wellen der Schelde haben den Freund verschlungen, der ohnmächtig gegen das Verderben der Geliebten rang und sich in die kalten Wasser gestürzt hat, ihre Schmach nicht zu erleben!
Und Gott? Wehe, zu dunkel ist die Nacht, zu finster ist's im Gehirn der Unglücklichen, als daß sie an den großen Retter in allen Gefahren sich zu erinnern vermöchte. Keine Macht im[479] Himmel und auf der Erde, die Schmach und Schande abzuwehren – wehe dir, Myga van Bergen!
Dumpf klingt vom Turm der Kathedrale die elfte Stunde herüber – langsam folgen sich die einzelnen Schläge und hallen nach in dem Gehirn des Mädchens.
Wieder nimmt der Lärm der Stadt allmählich ab, wieder erlischt ein Licht nach dem andern in den Häusern hinter der Mauer Paciottis, des italienischen Ingenieurs.
Immer tiefer ward die Stille. Nur zuweilen klang ein wilder Schrei, ein Jauchzen auf; nur zuweilen ertönte der rauhe Gesang einer wüsten Soldatenschar oder der Ruf der Nachtwächter und Patrouillen.
Und wiederum rasselte das Uhrwerk im Turm von Unserer Lieben Frauen Dom; – Mitternacht!
Von seinen Kissen hob sich Antonio Valani und warf wahnsinnige Blicke aus seinen fieberglühenden Augen um sich her.
»Wo ist sie? Leone, Leone – Wein, Lichter und Liebe! Leone, wo bist du, wo hast du sie? Wo hältst du sie verborgen? Mein ist sie – o Verräter – verräterischer Leone – mein, mein ist das Mädchen! Hahaha, ich bin nicht tot, wie du meinst, Leone; – ich lebe und halte, was mein ist –«
Die Stirne Mygas van Bergen berührte den Boden der Kajüte; der Leutnant della Rota drückte sanft den Wahnsinnigen auf sein Lager zurück und suchte ihn auf alle Weise zu beruhigen; aber es war, als ob alle Kräfte und Leidenschaften des Sterbenden noch einmal in voller Glut aufflammen mußten, ehe sie auf ewig erloschen.
Immer wieder von neuem suchte sich der Rasende den Armen Leones zu entziehen.
»Alle Hände an Deck! An die Ruder, an die Ruder! Es lebe der König! – Da zeigen sie die Flagge – die Bettlerflagge, Feuer, Feuer auf sie! Evviva Genova – da geht der Admiral in die Luft – Feuer, Feuer – Hölle, Hölle – Leone, schütze das Schiff! Schütze das Schiff, Leone! – Es ist aus – weh, die Geusenflagge – an die Geschütze – verloren – verloren! Schütze das Schiff, schütze das Schiff, Leone!«[480]
Der Kranke sank zusammen; der Leutnant legte ihm das Kissen zurecht; dann trat er zu der knienden Jungfrau:
»Was ängstet Ihr Euch, Signorina? Richtet Euch doch auf; – was windet Ihr Euch am Boden? Süßes Täubchen, härme dich nicht; Königin sollst du werden, unumschränkte Herrscherin an Bord dieses guten Schiffes. Das ist der Krieg – der eine muß die Flagge streichen, und hoch läßt sie der andere von der Gaffel wehen. Der arme Antonio! Er hat es vorausgesagt – ihm wird das Grab, mir die schöne Beute zuteil; – ich liebe dich, ich liebe dich, Stern von Flandern, weiße Rose von Antwerpen. Ich liebe dich und halte dich – laß das Sträuben – blicke nicht so wild – mein bist du, und niemand wird dich mir entreißen!«
»Jan, Jan! Hilf, rette!« schrie das Mädchen, ohne zu wissen, was es rief.
»Laß den Geusen«, flüsterte Leone. »Hat er sich nicht gerächt, wird nicht der arme Antonio tot sein in einer Stunde? Was kümmert dich der Leib des Geusen, laß ihn treiben auf den Wellen – auf, auf, sage ich, du sollst nicht mehr die weiße Stirn dir wund drücken auf dem Boden. Was willst du? Tot ist der Geuse, es stirbt Antonio Valani; nun nimm den Leone, den lebendigen Leone in deine seligen Arme als schöne, stolze Herrin.«
»Barmherzigkeit, Barmherzigkeit!« stöhnte das Mädchen; aber der Leutnant lachte:
»Horch, ein Uhr! Um fünf Uhr lichten wir die Anker; bis dahin hast du Zeit, dich auszujammern; dann aber fort mit dem Klagen und Seufzen! Bis fünf Uhr ist's Zeit genug, zu sterben, armer Antonio, armer Freund; richte dich nicht empor, deine Wunden bluten wieder – lege dich nieder – was willst du auch mit dem Mädchen?«
»Leone, Leone, schütze das Schiff! Die schwarze Galeere – schütze das Schiff!« kreischte der Sterbende im Fiebertraum.
»Bah, die schwarze Galeere!« murmelte Leone della Rota. »um fünf Uhr erst beginnt die Jagd; – ruhig, ruhig, Antonio – alles wohl an Bord – habe keine Sorgen, schlaf – schlafe ein.«[481]
Wieder sank der Kapitän zurück und schloß die Augen. Auf die letzte wilde Aufregung folgte nun augenscheinlich die letzte Erschöpfung. Es ging zu Ende mit Antonio Valani, dem Kapitän des Andrea Doria.
Der Leutnant bemerkte es wohl; er seufzte und schüttelte den Kopf:
»Armer Antonio! Armer Freund! So bald mußt du die Segel streichen? Ach, was hilft das Klagen, und doch – ich wollte, der Morgen dämmerte erst, ich wollte, diese Nacht wäre vorüber! Auf offener See – wenn – wenn die Leiche über Bord ist, wird mir erst wieder wohl werden. Ich wollte wahrhaftig, der Morgen käme!«
Er schritt auf und ab in der engen Kajüte; mehr als einmal streifte er die unglückliche Myga, und jedesmal zuckte die Arme zusammen und drückte sich dichter an die Wand.
»Sterben, sterben!« flüsterte Myga van Bergen – »o käme doch der Tod, mich zu retten – – ergriffe mich doch der Tod, wie er den Geliebten ergriffen hat!«
Die Lampe drohte zu erlöschen, Leone della Rota rief nach neuem Licht, nach Wein. Er hatte beides nötig in dieser Nacht; es sah wild und wüst in seiner Seele aus. –
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