Elftes Kapitel

[360] Ein Hindernis konnte man es eigentlich nicht nennen; es war vielmehr ein Begebnis, das sie noch aufhielt. Sie waren aus dem Saal auf den kiesbedeckten Rundplatz der Hinterseite des Hauses hinabgestiegen, wo der leichte, offene Wagen sie an der Veranda erwartete. Seltsamerweise schien das ganze Hauspersonal sich diesmal für die Abfahrt der Herrin außergewöhnlich zu interessieren. Es hatte jedoch einen andern Grund, daß jedermann seine Beschäftigung unterbrochen oder ganz aufgegeben hatte.

»Bei der Hitze solch eine Vergnügungsfahrt!« ächzte der Justizrat mit einem anklägerischen Aufblicke zum erbarmungslosen verschleierten Blau über seinem Kopfe.

»Wollen Sie ein Exemplar der ›Odyssee‹ mit auf den Weg haben?« fragte die Baronin lächelnd. »Das ist immer kühl und erfrischt euch germanische Gemüter. Ich meinesteils versetze mich einfach in der Phantasie nach Judäa, wo sie an die Wüste Edom stößt – das kühlt auch.«[360]

Sie setzte eben den Fuß auf den Wagentritt, als sie von ihrem Gärtner angesprochen wurde.

»Gnädige Frau, wir haben jetzt endlich unsern Gartendieb. Er soll uns hoffentlich von nun an nicht mehr durch die Hecken brechen. Im Waschhause haben wir ihn in Numero Sicher unter Schloß und Riegel, und in der Mooshütte habe ich ihn beim Fittich genommen. Solch eine Frechheit! Denken Sie, er lag und schlief, so voll gefressen hatte er sich in den Kirschen.«

»Haltet ihm eine Rede, Friedrich; gebt ihm einen kleinen Denkzettel und laßt ihn laufen«, meinte Scholten. »Selbst einen Mordbrenner sollte man bei einer solchen Temperatur nicht vor Gericht schleppen.«

»Es ist kein Er; es ist eine Sie, Herr Justizrat.«

»Eine Sie?« fragte die Baronin. »Dann wollen wir doch die Verbrecherin sehen, Scholten. Schließen Sie einmal das Waschhaus auf und bringen Sie uns das arme Ding her, Fritz. Ich will nicht umsonst den Blutbann auf meinem Gebiet ausüben. Gütiger Himmel, sind denn die Kirschen schon genießbar? Ich würde es mir nie vergeben, wenn sich jemand die Ruhr auf meinem Grund und Boden holte.«

Im Haufen hatten sich die Leute auf die Waschhaustür gestürzt, und inmitten des Haufens geführt, erschien die Sünderin, die man in der Mooshütte schlafend gefangen hatte.

»Ich traue meinen Augen nicht!« rief der Justizrat Scholten.

»Das Kind?« rief die Frau Salome. »Unsere Eilike Querian!«

»Die Eilike!« wiederholte Scholten matt.

Die Dienerschaft der Villa Veitor hatte ihren Fang verwundert freigelassen und ihren Kreis um die Gefangene auf einige Schritte erweitert. Wie schlaftrunken auf den Füßen schwankend, stand das Mädchen und starrte aus geschwollenen, geröteten Augen blinzelnd umher.

»Ich habe keine Kirschen gestohlen!« rief es. »Ich stehle nicht. Mein Vater macht unsterbliche Götter, und ich stehle nicht! Sie lügen wie die Frau Bebenroth ich weiß nichts von des Herrn Paten Huhne. Die Köhler im Walde haben mir genug zu[361] essen gegeben. Ich wollte nur die Dame besuchen – so wahr mir Gott helfe, ich wollte nur die schöne Dame noch einmal sehen!«

»Mich hast du aufgesucht, mein liebes Kind? Du bist um das Haus geschlichen – großer Gott, vielleicht seit vorgestern! – Weshalb bist du nicht hereingekommen zu mir?«

»Ich habe mich doch gefürchtet, und ich habe mich auch geschämt. Es war zu schön.«

Justizrat Scholten saß auf einem Rohrstuhl unter der Veranda mit Hm und Ha und einem fortwährenden Abnehmen und Wiederaufsetzen der Mütze. Jetzt ließ er die Arme hängen und stöhnte:

»War ich dir vielleicht auch zu schön, Eilike? Na, ich sage nichts mehr, und ich tue nichts mehr. Hier sitze ich wie ein obergerichtsadvokatliches Fräulein von Klettenberg und warte ruhig ab, was noch weiter passiert.«

»Wir verschieben unsere Fahrt in den Wald noch um eine Stunde, nicht wahr, Scholten?« fragte die Frau Salome, und schon hatte sie die Eilike unter dem Arme gefaßt und führte sie die Treppe hinauf in ihren Salon zurück.

Der Justizrat folgte langsam; aber im Saal angekommen, warf er seine Mütze auf den Boden und rief:

»Ich hänge alles an den Nagel und mich dazu! Was hilft mir nun meine mit den nützlichsten Studien hingebrachte Jugend? Was hilft alle meine Jurisprudenz und andere Prudenz, all mein Wissen und meine Weissagungen? Ich habe nur den einen Wunsch, nämlich daß ein anderer kommt, um mir mitzuteilen, was dieses Menschenkind gerade hierher getrieben hat.«

»Ich ahne es«, murmelte die Frau Salome.

»Jawohl! Natürlich! Versteht sich! Was mich anbetrifft, so hat es bei mir nie mit dem ›Ahnen‹ und ›Schwanen‹ so recht vonstatten gehen wollen, und wenn mir was geschwant hat, so ist sicher eine Dummheit herausgekommen. Nun sprich, Eilike, du Kindskopf, du Heckenspatz, du echte Tochter deines Vaters, was wolltest du hier? Weshalb bist du uns durchgegangen und hast den alten Querkopf ganz rabiat und desperat gemacht und[362] das ganze Dorf auf den Kopf gestellt? Ist es dir gar nicht eingefallen, daß man dich suchen, daß man sich Sorge um dich machen werde?«

Die schöne Baronin hatte währenddessen das arme, zitternde, verschüchterte Mädchen auf den Diwan niedergedrückt; sie hatte ihr auch ein Glas kühles Getränk bereitet und es ihr fast mit Gewalt eingezwungen. Sie saß neben ihr und sprach ihr mit mütterlichem, zärtlichem Tone zu:

»Nicht wahr, die Sache ist ganz einfach, mein Herz; du bist zu mir gekommen, weil du Gefallen an mir gefunden hast?«

»Jaja – ja!« flüsterte Eilike Querian.

»Du hast mich vorgestern, als ich bei euch – bei dem Herrn Paten war, darauf angesehen, ob ich dir wohl helfen würde, wenn du zu mir kämest. Und weil du gern möchtest heraus aus deinem Leben in ein anderes, mein armes Herz, haben sie dich schlafend gefunden in meinem Garten! Weil du so groß gewachsen sein möchtest wie ich und solche Kleider tragen und reinlich sein, bist du gekommen! Du hast deinem Vater nicht aus Bosheit, aus bösem Herzen weglaufen wollen?!«

»Nein, o nein!« schluchzte die Eilike. »Es ist alles stärker gewesen als ich. Ich habe müssen! – Ich weiß aber nicht zu sagen, was ich getan habe, was ich will, und das weiße Bildnis in meiner Kammer ist nicht meine Mutter, sondern eine fremde, heidnische Frau. Meine Mutter ist tot.«

»Und das Universum leidet am Sonnenstich! Ich – du – wir alle!« schrie der Justizrat.

»Seien Sie mir jetzt still, Scholten«, sprach aber die Frau Salome mit souveräner Herrschaft über alle Zustände der Minute. »Was wissen Sie? Was verstehen Sie? Die Eilike soll jetzt ein ganzes Huhn essen; in meinem Küchenschranke wird sich wohl noch eins finden; und wir wollen mit ihr frühstücken, denn in Ihrem Dorf ist man doch nicht sicher, ob das Wirtshaus nicht wieder ratzenkahl gezehrt ist, wie sich Ihre gemütliche Witwe ausdrückt, lieber Scholten. Nachher wollen wir dann alle drei in den Wald zum Vater Querian fahren und alles in Ordnung bringen. Wir bringen doch noch alles in Ordnung!«[363]

Zwischen Lachen und Weinen hatte das die Frau Salome gerufen; doch der alte Scholten sagte seufzend:

»Wahrscheinlich wird eben alles so, wie es jetzt ist, in der schönsten Ordnung sein; und wir sind insgesamt nur zu dumm, um die Harmonie herauszufühlen und einzusehen. Appetit habe ich nicht, und kann das auch keiner von meinem Magen und mir verlangen. Mit der Aussicht auf einen Besuch bei Querian zu verdauen? Das könnte einem Leber, Milz und Pankreas für alle Ewigkeit in Unordnung bringen, und dann möchte ich freilich wohl den Philosophen kennenlernen, welcher dann auch das in der schönsten Ordnung fände.«

Sprach's und frühstückte mit und war der einzige von den dreien, der wirklich aß, und zwar mit Appetit. Gerade um die zwölfte Stunde des Mittags fuhr man nun wirklich von der Villa Veitor ab und gelangte bald auf die große Straße, den weißen Streif, welcher der Eilike so deutlich durch die kühle Mondnacht geschimmert hatte.

Jetzt lag die allerheißeste Sonne auf dieser Straße; doch die Ebene sah noch dunkler im still schwülen Scheine herüber auf das Gebirge. Die Pferde schnoben und stöhnten auch, und die Höhen brachten heute keine kühlere Luft; im Gegenteil. Dagegen aber erblickte das Auge, als man auf das schon geschilderte Bergplateau gelangte, über die nächsten Tannenwälder und Höhenzüge weg gegen Westen hin eine schwere, weiße Wolkenwand, die stillzuliegen schien, aber doch rückte. Der Brocken war nicht mehr zu sehen, das Gewölk hatte sich bereits über ihn weg und vor ihm her geschoben, aber ein Bergzug lag noch tiefblau, ja schwarz, einer letzten Mauer gleich, gegen den unheimlichen, weißen, stillen Feind.

Stille! Nur einmal kam ein leises, wie spielendes Lüftchen und trieb zehn Schritte vor den Pferden ein Wirbelsäulchen von Staub und Strohhalmen und Blättern auf. Dann legte es sich wieder, und alles war ruhig wie zuvor; aber der Kutscher, seine Zügel fester in der Hand zusammennehmend, wendete sich zu den Herrschaften im Wagen und sagte, mit der Peitsche nordwärts und westwärts deutend:[364]

»Das sieht schlimm aus; und es gibt heute sicherlich noch was.« »Sehen Sie zu, daß Sie uns wenigstens trocken in das Dorf bringen, Ludwig.«

»Das wird sich wohl noch machen lassen, Herr Justizrat. Das platte Land da geht uns überhaupt nichts an; wenn nur die Berge da vor uns standhalten. Auf dem Brocken haben sie heute eine schlechte Aussicht.«

Die Straße lief jetzt ohne weitere bedeutende Steigung weiter. Die Pferde flogen, der Wagen rollte leicht auf dem guten Wege, und Eilike Querian ließ wieder den Kopf auf die Brust sinken und schlummerte von neuem ein, betäubt durch die Hitze der Stunde und die Aufregungen der letzten Tage.

Die Baronin saß still dem Kinde gegenüber; nur einmal bemerkte sie:

»Ich habe das in Sizilien vor einigen Jahren, kurz vor Ausbruch eines sehr heftigen Orkans, so gesehen und gefühlt. Wie dunkel es über der Ebene wird und doch wie klar die Türme der Städte und Dörfer und das übrige hervortreten!«

»Und es ist möglich, daß wir hierher keinen Tropfen Regen bekommen. Daß wir von hier aus wie aus der Arche auf die Sintflut sehen. Ich habe das häufig erlebt. Den Wind aber kriegen wir dann, und zwar tüchtig. Sehen Sie, die Titanen, die den Blocksberg verschlungen haben, vermögen jenen letzten Wall nicht zu nehmen.«

Die Frau Salome schauerte zusammen:

»Wissen Sie, Freund, dieser unheimliche Sonnenschein, der uns begleitet, trotzdem daß die übrige Welt ringsum so finster wird, würde auf die Länge meinen Nerven zuviel werden. Ich traue den Göttern nicht. Sie machen uns hohnlächelnd ein Kompliment mit dieser Sonne und in ihr für einen Egoismus verantwortlich, an dem wir nicht die Schuld tragen. Was haben sie im Sinne mit uns? Sehen Sie nordwärts – da bricht es schon los! Bei meinem Wort, ich gäbe viel darum, wenn der schwarze Flügel uns wie unsere Brüder dort überschatten würde. Ich würde mit Vergnügen naß bis auf die Haut werden.«

»Damit wird es nun wohl nichts werden«, meinte Scholten.[365]

»Hier haben wir das Dorf. Machen Sie sich übrigens nur ja keine unnötige Sorge, daß man uns in der Hinsicht Vergesse. Kriegen wir heute nicht unser Teil, so kriegen wir es morgen. Wir wollen jetzt aber die Kleine wecken; da sie den Weg so ziemlich verschlafen hat, so mag sie alles für einen Traum halten, sowohl was sie selbst ausgeführt, als was sie von anderen Leuten erfahren hat.«

Der Wagen hielt Vor dem Wirtshause, einer Schenke, die auch in einem der Bücher stehen konnte, von denen der Justizrat an Peter Schwanewede schrieb. Mit leiser, sanfter Hand strich die Frau Salome der Eilike über die Stirn, und das Kind fuhr auf und sah sich wahrlich um, als wenn es aus einem Traum erwache.

Sie stiegen aus, und in dem Augenblick, als sie den Fuß aus dem Wagen setzten, sank das schwüle Himmelsgewölbe mit verdoppeltem Gewicht auf sie.

Die Baronin sagte:

»Über das Wetter haben wir im Fahren vieles gesprochen; über uns selber auch nicht wenig. Es sind uns aber viele Leute begegnet, meistens mit schweren Lasten auf dem Rücken. Was diese Fußgänger, diese alten Mütterchen, Weiber und Kinder wohl von diesem Tage halten, haben wir nicht gefragt.«

»Es ist ein Glück, daß einem nicht alles zu gleicher Zeit in den Sinn kommt«, brummte Scholten. »Für jetzt haben wir selber genug auf dem Buckel an Querian und Querians Tochter.«

Er nahm sein Patenkind an der Hand, und nun gingen sie durch das Dorf. Die Baronin erinnerte sich der Eiskühle, von der sie vorgestern auf diesem Wege getroffen worden war. Von der Aufregung, von der ihr vorhin der alte Freund erzählt hatte, bemerkte man nichts mehr.

Im Gegenteil, die Gassen und Hütten erschienen noch ausgestorbener als damals. Die Bergarbeiter befanden sich wieder in ihren Gruben und Stollen, die Feldarbeiter mit ihren Frauen und Kindern auf den kümmerlichen Äckern, die Waldarbeiter in den großen Wäldern und so weit ab, daß der Schall ihrer Äxte nicht hierher drang.

Nur ein einziges lebendes Wesen begegnete ihnen auf dem[366] Wege zu der Hütte Querians, eine weiße, magere Katze, die scheu vor ihnen über die Straße ging und in einer offenen Haustür verschwand.

Aus einem anderen Hause ertönte das laute Weinen eines Säuglings, der – von der hart arbeitenden Mutter notgedrungen sich selbst überlassen – zu früh aus seinem Schlafe aufgewacht war und nun seinen Jammer laut, aber vergeblich in die Welt hinausschrie. Das war der einzige Lebenslaut, den sie vernahmen.

Des Justizrats schien sich jetzt eine eigentümliche Lustigkeit bemächtigen zu wollen. Dazu sprach er zwischen den Zähnen mit sich selber. Eilike machte ihre Hand von der seinigen los und hing sich schüchtern an den Arm der schönen Jüdin.

»Ich fürchte mich so!«

»Dummes Zeug«, schnarrte der alte Scholten. »Was soll das Geschwätz, Mädchen? Wir werden schon mit dem Bruder Zauberer fertig werden. Heraus soll er jetzt! Ich versichere Sie, Frau Salome, daß ich in diesem Moment nötigenfalls ebenso toll sein kann wie er. Aber wir wollen ihn in Güte zur Räson bringen; wenn wir ihm mit Musik – Hörnern und Pauken – vor die Bude rückten, wär's wohl noch besser; aber er soll auch so die Überzeugung gewinnen, daß die Welt noch auf ihn rechnet. Peter von Pilsum? Dummes Zeug! Ich weiß wahrhaftig nicht, was mich bewogen hat, an den zu schreiben! Der Mond schien mir damals auf den Kopf; einen anderen Beweggrund find ich nicht heraus. – Was kocht und quirlt er nun wieder? Sehen Sie den Qualm über seinem Schornstein! Wer kann bei dieser Hitze heizen? – Und die Tür richtig wieder verschlossen. Warte, mein guter Freund, endlich reißt die hausmachenste Geduld. Wir werden dich beschwören, mein Bester, wir wollen und werden dir itzo die Nägel beschneiden, die Haare und den Bart kämmen und scheren! Holla, heda, Karl Ernst Querian, mach auf; wir sind es, die Klaren, die Verständigen, die Vernünftigen dieser Erde!«

»Ich bitte Sie, Scholten, bedenken Sie, was Sie tun!« rief die Frau Salome ängstlich, und Eilike klammerte sich jetzt heftig[367] zitternd an sie. »Scholten, lassen Sie uns vorsichtig zu Werke gehen!«

»Ich werde ihn beschwören und ihm zugleich ein Rezept geben, damit er es noch zu etwas bringe in der Welt!« rief der Justizrat grimmig lustig. Dann pochte er mit der Faust an die Tür seines Jugendgenossen und erhob von neuem die Stimme: »Holla, heda, Queriane! Mach die Tür auf und nimm guten Rat –


Eiweißstoff und Hundedreck,

Albumin und Album graecum,

Und dazu drei Fingerspitzen

Mäusekot, was auf lateinisch

Nennt der Magus Album nigrum,

Mische, koche, quirle man,

Wie man will, man hat darum

Kein unsterbliches Gedichte

Für das Album unsrer Damen,

Kein erquickliches Gerichte

Für der Jetztzeit Göttertafel

Von dem Herde abzuheben!


Queriane, Queriane, alter Freund, schließe auf und zeige uns wenigstens, was du gekocht hast! Wir stehen vor deiner Tor, das Kapital und der Witz, und warten auf dich, und dein hübsches, braves Kind bringen wir dir obendrein zurück!«

»Er ist toller wie der andere«, murmelte die Frau Salome, wirklich scheu so weit als möglich von der Pforte des Dorf-Prometheus zurückweichend und dabei wie schützend den Arm um den Nacken der Eilike legend. »Der Himmel schütze und erhalte mir mein kühl semitisch Gehirn.«

Sie hatte vorgestern beim ersten Erblicken des Dorfes einen Vers aus dem Dante zitiert –


Ein Windstoß fuhr aus dem betränten Grunde;


aber sie hätte jetzt mehr Grund gehabt, den Vers herzusagen, nein, laut hinauszuschreien.


Auf einmal war er wieder da, der Wind! Unvermutet, plötzlich,[368] im atem- und herzerdrückenden Überfall und Ansturm. Es erbrauste der Wald um das Haus Querians, ein erstickender Staub erhob sich aus allen Gassen des Dorfes und verhüllte teilweise alles. Wie es jetzt rund um das Bergplateau aussah, konnte man aus dieser schon beschriebenen Talmulde nicht erkunden; nur griff der Gewitterdunst aus Norden bereits bis zum Zenit hinauf, und das Gewölk im Westen hatte auch seine Farbe geändert und drohte dunkel herüber. Ein dumpfes Rollen ging auch herum; aber der Wind wollte noch den Donner nicht zum Worte kommen lassen.

»Da haben wir's!« rief der Justizrat, dem die Mütze vom Kopfe gerissen und weithin entführt war, ehe er zugreifen konnte. Der Qualm vom Herde und aus dem Schornsteine Querians wurde auch über das Dach zu Boden getrieben. Staub, Rauch, welkes Laub vergangener Jahre aus den Forsten wirbelten hin – die Tür des Hauses hatte sich geöffnet, und Querian stand auf der Schwelle, mit der Rechten den Griff festhaltend gegen den Sturm, mit der Linken die Augen gegen das kreisende Gestäube schützend. Die Frau Salome hätte beinahe einen Ruf der Enttäuschung ausgestoßen – der kleine, scheue, schämige, schwächliche Mann mit dem kümmerlichen dünnen Haar, im kümmerlichen grauen Röckchen mochte Zauberer, Hexenmeister. Tausendkünstler sein, soviel er wollte; ein Riese im Sturme war er nicht, und es hätte wenig gefehlt, daß er der Mütze seines Jugendfreundes nachgeflogen wäre.

»Wir sind es, lieber Karl; siehst du, da bringen wir dir dein Töchterlein zurück. Wozu war nun gestern all die Aufregung und der Lärm notwendig?« rief der Justizrat, die Baronin und das junge Mädchen heranwinkend. »Als einzigen Lohn fordere ich, daß du dich heute einmal höflichst erzeigst, und zwar gegen eine der schönsten und wohlhabendsten Damen des Universums, die noch dazu eine ganz spezielle Freundin deines speziellen Gevatters und Freundes Scholten ist. Gestatte uns, aus dem Winde in dein Haus zu treten, und ich werde euch genauer miteinander bekannt machen.«

Das schüchterne Herrchen betrachtete sich von seiner Schwelle[369] aus die Baronin Von Veitor; es zog einen Taschenkamm hervor und suchte ängstlich damit seinen Haarwuchs in Ordnung zu bringen – über sein Kind schien Querian ganz wegzusehen.

Es mußte in der Tat angenehm sein, eine Mauer zwischen sich und den Sturm zu bringen. Die Frau Salome war herangetreten an die Tür des geheimnisvollen Mannes und hatte auch die Eilike sich nachgezogen.

»Mein Herr, es würde mich sehr freuen, in den Kreis Ihrer Bekannten aufgenommen zu werden«, sagte sie. »Unser gemeinschaftlicher Freund Scholten hat mir soviel Gutes von Ihnen erzählt – –«

»Hm, hm. So? So? – Ei, ei!« lächelte der Kleine, sich immerfort verbeugend. »Die gnädige Frau belieben zu scherzen; noch niemand hat etwas Gutes von Dero untertänigem Knecht erzählt. Aber es ist ein häßliches Wetter; friert die gnädige Frau nicht auch?«

»Na, bei dem Samum!« ächzte Scholten. »Jetzt mach weiter keine Umstände, Querian, sondern mach Platz und uns die Honneurs deines Ateliers. Vorgestern habe ich an unsern Freund nach Pilsum geschrieben und ihn sehr herzlich von dir gegrüßt.«

»Jaja – ei freilich, freilich! Große Ehre – ich danke dir, Scholten. Es ist heute noch kälter als gestern. Treten Sie doch gefälligst ein, aber lachen Sie nicht – o bitte, lachen Sie nicht!«

Er sagte das alles ganz schlaff hin, mit der müdesten Gleichgültigkeit in Ton und Gestus.

»Er ist in der Tat unheimlich; aber auf eine ganz andere Weise, als ich mir vorstellte«, murmelte die Baronin. Sie faßte in dem Gedanken, daß das Kind mit diesem Manne hatte leben müssen, die Hand Eilikes fester; doch der Justizrat winkte, und sie traten alle in das Haus; der Wind schlug sofort die Tür hinter ihnen zu, und sie fanden sich zuerst in einer vollkommenen Finsternis.

»Ich bin dicht hinter Euch«, flüsterte der alte Scholten. »Fürchten sich Euer Gnaden nicht; Sie wissen ja, daß er seine Fensterladen wie die Klappen seines Intellekts gegen die Außenwelt hermetisch verschlossen hält.«[370]

Die Frau Salome griff mit ihrer freien Hand nach dem Arm des Justizrats; Eilike Querian flüsterte:

»Hier und in der Stube nebenan steht alles voll Gerät. Die schöne Dame würde sich wundern, wenn es hell genug dazu wäre.«

»Das würde sie«, sagte der Justizrat; doch der Herr dieses Reiches der Finsternis hüstelte jetzt in der Tiefe des Hauses, und dazu hörte man den Sturmwind draußen immer heftiger pfeifen und zischen und einmal auch einen fernen langhinrollenden Donner sehr deutlich.

»Wollen die Herrschaften es mir fest versprechen, nicht zu lachen?« fragte es schläfrig. »Ich möchte sehr bitten, nicht zu lachen!«

Und die Frau Salome raunte dem Justizrat zu: »Bei allem, was einen an den Nerven zerren kann, ich fange auch an, es kalt zu finden! Und dabei wird man noch gefragt, ob man Lust habe zu lachen.«

»Wir versprechen dir, alle Rücksichten auf deine Gefühle zu nehmen, alter Bursch! Es wird niemand von uns die Miene verziehen, selbst wenn es dir einfallen sollte, dich einmal ganz solide vom Kopf auf die Füße zu stellen«, fügte er leise hinzu. In demselben Augenblick stieß Querian die Tür seiner Werkstatt auf, und die Baronin Veitor wie der Justizrat Scholten stießen einen Schrei aus und fuhren auf den ersten Anblick und Anhauch mehrere Schritte weit in den dunkeln Hausflur zurück.

Ein roter Schein und eine erstickende Glut schlugen ihnen entgegen. Auf einem Backsteinherde unter einem mächtigen schwarzen Schlote loderte das Feuer, das den schwarzen Dampf durch den Schornstein sandte. Die Tannenscheite prasselten, knackten und krachten, und der Wind trieb einen Teil des Qualms und der Funken zurück in das weite und doch in der verwirrendsten Weise vollgepfropfte Gemach. Steine und Erze, Holzstücke, riesige Haufen von Hobelspänen, Töpfe, Tiegel und Pfannen, Abgüsse von antiken und modernen Bildwerken, das Material und Werkzeug des Erzarbeiters, Zimmermanns, des Bildschnitzers, Bildhauers und des Chemikers durcheinander! Im Hintergrunde[371] aber durch die wirbelnden Dämpfe und knisternden Funken sichtbar das jüngste Werk Querians, das Bildwerk, welches die Eilike mehr denn alles andere aus dem Hause ihres Vaters gescheucht hatte!

Von der dunkeln Wand hob sich die Tongruppe im roten, flackernden Schein des Herdes riesenhaft, übertrieben karikaturartig, aber doch mächtig und überwältigend ab. Der nackte Gigant mit dem toten Kinde in den Armen lebte! – Die Muskeln zuckten, er mußte den grinsenden Mund jetzt, gerade jetzt zu einem Gebrüll der Verzweiflung aufreißen!

Eilike verbarg ihr Gesicht in dem Kleide der Baronin; diese stand festgebannt mit weitgeöffneten Augen, schweratmend und wortlos.

»Alle Wetter, Querian!« rief der Justizrat Scholten. »Was sagen Sie, Frau Salome? Wenn er aus seiner Haut herauskönnte, wäre er ein großer Mann! Wenn er Rechenschaft ablegen könnte über das, was er macht, wäre er längst Professor an irgendeiner Akademie der bildenden Künste und Professor der Philosophie obendrein. Wie das Ding sich im Tageslichte ausnehmen wird, wer kann das freilich sagen?!«

Mit dem Tone eines Cicerone in einer öffentlichen Kunstsammlung sagte der Meister des Werkes:

»Das ist mein Kind, gnädigste Frau. Ich habe fünfzig Jahre gearbeitet, ein Lebendiges zu schaffen; es stirbt mir aber immer in den Armen; ich möchte wohl einmal die Sachverständigen fragen.«

Da lachte Scholten doch.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 360-372.
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