Zweites Kapitel

[295] Der Alte war mit dem Stopfen seiner Pfeife zustande gekommen und nahm Stahl, Stein und Zunder aus der Tasche. Er behauptete, Schwefelgeruch falle ihm auf die Lungen, und führte deshalb kein modernes Feuerzeug; aber da er gestern abend durch einen argen Gewittersturm gewandert war, so wollte diesmal der Schwamm nicht fangen, und nach längerem vergeblichem Bemühen schob der Justizrat Scholten sein Gerät wieder ein und rief:

»Feuer, Herr Wirt!«

Der Wirt steckte den Kopf aus dem offenen Fenster seiner Gaststube, um sich genauer zu vergewissern, wer da so kurz etwas von ihm wünsche, und als er sich überzeugt hatte, daß es nur der Alte und kein neuer Gast sei, tat er natürlich, als habe er nicht gehört, blickte nach dem schnellen weißen Sommergewölk am Himmel und brummte innerlich:

›Dir werd ich auch einen Oberkellner halten, alter Stänker! Marschier in die Küche und hol dir selber, was du brauchst.‹

Der Justizrat sagte auch weiter nichts; aber er schob die Brille auf die Stirn empor und sah den Herrn Wirt an.

»Hm – na – nu!« murmelte der Wirt, zog vollständig überwunden den Kopf ins Zimmer, um dem Gast auf der Bank vor dem Fenster ein Feuerzeug in Gestalt eines steinernen Turmes mit den dazugehörigen Zündhölzern zu reichen.

»Hier, Herr Rat! Sie waren es mit Erlaubnis, der rief?«

»Ich war es mit Erlaubnis«, sagte der Alte, erhob sich von seinem Sitze und ging in die Küche an den Herd, wo ein helles[295] Feuer einen Wasserkessel im Sieden erhielt und zwei junge derbe Gebirgsmägde mit Kaffeerösten und Mahlen beschäftigt waren. Höflich nahm der Justizrat Scholten die Mütze ab:

»Guten Tag, Jungfern. Welche von euch will einmal in meine Pfeife gucken, um mir den Griff mit der Zange in die Kohlen zu ersparen? Ist das eine Hexenküche! Hört einmal, Mädchen, wenn ihr euch nicht in acht nehmt, holt man euch doch noch vom Berg herunter, und wenn nicht vors Kriminalgericht, so doch zuerst vor den Herrn Pastor und dann vor seinen Altar in der Kirche. Ich rate euch, hütet euch, ich bin mehr als einmal dabeigewesen – es werden da verdammt verfängliche Fragen vorgelegt, und ohne Tränen geht es nicht ab – alle Kameradinnen schnucken und heulen mit, und der Müller unten vor dem Dorfe hat auch im trockensten Sommer mit einem Male Wasser im Überfluß.«

»Uh Herrje!« riefen die zwei Dirnen aus einem Munde und kicherten hinter ihren Schürzen, obgleich sie den grauen Witzbold keineswegs ganz verstanden. Sie verstanden ihn aber gut genug, und als er sich gemütlich auf die Wasserbank setzte, kam die jüngste und hübscheste eilig und höflich mit einem brennenden Span und hielt ihm den auf die Pfeife.

»Guten Tag, Herr Justizrat; sind Sie auch einmal wieder da? Man hat Sie lange nicht zu Gesichte gekriegt.«

»Den ganzen Winter nicht. Und hat man mich wirklich hier vermißt in der Küche?«

»Ei freilich, Herr Rat. Solch einen –«

»Nun, was solch einen –?«

»Ja, Riekchen, sag du's lieber!« kicherte die Rednerin hinter ihrer Schürze; aber Riekchen versteckte sich auch nur verlegen lachend hinter einem Handtuche, und es blieb dem alten Scholten nichts weiter übrig, als den Satz zu Ende zu bringen.

»Solch einen schnurriosen – niederträchtigen – und in der Weltgeschichte drunten in den Dörfern wohlbesschlagenen Kalendermacher und Wetterkündiger sähe man wohl in allen Nöten des Tages und der Nacht gern den Schnabel in die Tür schieben – he?! Jaja, ich will's wohl glauben, es gibt allmählich mehr als einen Kochherd, mehr als einen Kuh-, Pferde- und Eselstall,[296] mehr als eine Spinnstube, wo man nach mir fragt, wenn ich lange nicht nachgefragt habe.«

»Und was bringen Sie uns denn diesmal Neues mit, Herr Justizrat?«

»Auf die Frage war ich auch schon gefaßt, mein Kind; Neues? – Nun, es ist mir dunkel so, als sei mancherlei Kurioses vorgefallen; ich habe aber leider Gottes alles wieder vergessen.«

»Ach, Herr Rat!« riefen beide Mägde.

»Aber wartet einmal! Ja, in Elbingerode hat's einen argen Lärm in Mayers Hause gegeben –«

»Liebstes Leben – wieder einmal!« rief das eine Kind, ließ den Griff der Kaffeemühle fahren und sah kläglich auf den wunderlichen Botschafter.

»Sie hatten ihn nach Goslar auf den Schützenhof eingeladen, und beide Alten setzten natürlich ihren Kopf auf, und der Alte schlug auf den Tisch und verlangte, daß nun endlich die Sache mit der Karoline von den Farbensümpfen in Richtigkeit gebracht werde; das Jahr solle nicht hingehen, ohne daß Hochzeit gehalten werde –«

»O du lieber Gott!« schluchzte die Kaffeemüllerin.

»Na, nur stille«, sagte Scholten. »Sie hätten eher den Rammelsberg als ihn zum Wackeln gebracht. Ihm eile es nicht so wie der Goslarschen Base, meinte er. Der Teufel solle ihn holen, wenn er sich da so mir nichts dir nichts in den Sumpf reiten lasse. Er sei ein Bergmann und wolle mit der Oker-Schlemme nichts zu tun haben; gelb sei nicht seine Leibfarbe, und wenn er gegen das Heiraten an und für sich wenig einzuwenden habe, so komme es doch immer darauf an, mit wem man sich vom Pastor von der Kanzel werfen lasse. Prügel mit der zärtlichen Verwandtschaft in Goslar wie im vergangenen Jahre könne es wohl setzen –«

»O der gute Junge!«

»Jawohl, so weit ging seine Güte. In der Hinsicht ist die Menschheit ein Herz und eine Seele, ich kann das hundertfach aus meinen Akten nachweisen, ihr dummen Dinger; aber cherchez la femme – wenn ihr Französisch verständet, so wüßtet ihr, was ich sagen will.«[297]

»Ach, sagen Sie es uns nur auf deutsch«, meinte Riekchen, die bis jetzt stumm, aber mit aufgespanntesten Herzens- und Verstandeskräften zugehört hatte.

»So?« brummte Scholten. »Gönnst du ihn ihr denn? Dir wär's wohl ein gefunden Fressen gewesen, wenn ich ihr gleich den Absagebrief in der Tasche mitgebracht hätte? Nun, sei nur ruhig; in Rübeland bin ich auch gewesen, und deinen habe ich gleichfalls gesprochen. Das ist ein höflicher Mensch, sonst hätte man ihn auch nicht zum Fremdenführer in der Baumannshöhle gemacht. Der weiß ein Wort mit den Damen zu sprechen! Und in Goslar ist er auch gewesen und hat sich recht ›amesiert' ‹ –«

»Und ich schlage ihm alle Knochen entzwei, wenn er sich hier wieder am Brocken blicken läßt!« rief Riekchen, die duftenden Bohnen in ihrer Pfanne schüttelnd und zu gleicher Zeit zwischen die flackernden, krachenden, knackenden Tannenscheiter fahrend, als habe sie eine Million Sünder am weiblichen Herzen im ewigen Höllenfeuer zu rösten. »Sonst weiß ich aber auch gar nicht, weshalb Sie mir das erzählen, Herr Rat. Was geht es denn mich an, ob er nach Goslar oder ob er nach Amerika gegangen ist?«

»Puh«, sagte Scholten, »meinetwegen wollen wir uns nächsten Sommer wiedersprechen. Jetzo aber brennt meine Pfeife, und – Lieschen, ich habe eine Ahnung, daß er's nächste Woche möglich macht und sich heraufschleicht, und wenn es auch nur wäre, um dem Linchen aus den Goslarschen Farbensümpfen zu zeigen, daß hinter den Bergen auch noch Leute wohnen. Ich empfehle mich Ihnen, meine Damen.«

Er war aufgestanden von seiner Wasserbank, und zwar ganz zur richtigen Minute; denn im Vorderhause, in der Gaststube, hatte sich ein Tumult erhoben, ein recht lebhaftes Aufeinanderdrängen menschlicher Leidenschaften; in Mayers Hause zu Elbingerode konnte es kaum munterer hergegangen sein.

»Dazu steigt man denn aus dem Qualm der Städte herauf«, murmelte der Justizrat, doch eine weitere Bemerkung zu machen, fand er augenblicklich nicht die gehörige Zeit. Aus der offenen Tür der Gaststube stürzte ihm die Wirtin auf den Hals, faßte[298] ihn am Oberarm und schleppte ihn in die Haustür, auf die Landstraße deutend:

»Da steht er, der Kujon! Und jetzt laß ihn nur vor Gericht gehen und einen falschen Eid schwören wegen Mißhandlung! Sie sind unser Zeuge, daß wir ihn so heil und ganz gelassen haben, als es nur möglich war; aber wo ihn mein Mann angriff, da riß es, und das war nicht unsere Schuld. Brauche ich mir in meinem eigenen Hause von solch einer Vogelscheuche Impertinenzien sagen zu lassen? Aber wir haben es ihm auch gesagt, und kein Mensch soll es meinem Mann verdenken, daß er ihn erst über den Tisch zog und dann vor die Tür warf.«

»Da wundert's mich denn doch, daß der Kujon nicht noch da liegt«, sagte Scholten, seinen Arm von dem Griff der robusten Frau befreiend. Er rückte auch die Brille wieder zurecht, nahm seinen Wanderknittel unter den Arm und ging über die Straße dicht an das so energisch in die freie Natur beförderte Individuum heran, besah es von oben bis unten und sagte:

»Mensch, wenn du wirklich ein Mensch und keine Vogelscheuche bist, wie siehst du aus, Mensch?!«

»Herrje, Herrje, Herr, heren Se, wenn ich es Sie nur selber wüßte!«

»Also wirklich, wenigstens der Sprache nach, ein deutscher Bruder!«

»Ei ja«, sagte der Zerzauste, immer noch verstört und wie in einem schlimmen Traume um sich stierend, »aus Leipzig bin ich Sie und meines Zeichens ein Schneider, und die Poesie und die Lektüre, wissen Sie, von Schiller und von Goethes ›Faust‹ hat mich da auf den Blocksberg geführt. Als ein anständiger Mensch bin ich nach oben gegangen und – so komme ich wieder herunter. O je, Herrje, komme ich Sie da in die Wirtschaft –«

»In dem Hause da einzig und allein hat man Sie so zugerichtet?«

»Nun, wissen Sie, ich bin schon seit dem März auf der Wanderschaft, und da oben haben wir unserer zwölf auf dem Stroh kampiert und waren vergnügt, und ein Setzer aus Hildburghausen wußte ihn halb auswendig, und die andere Hälfte pfiff[299] ein Berliner aus der Oper her. Wissen Sie, auf dem Blocksberg muß doch jeder von uns gewesen sein, wenn er in die hiesige Gegend kommt, und so wimmelten wir unserer zwölf in die Höhe und standen oben auf dem Hexenaltar und sahen alle zwölf zwischen den Beinen durch von wegen Verschönerung von der Landschaft. Das war Sie groß! Und da schlug Sie's in der deutschen Mannesbrust, und, weeß Gott, wenn mir da einer gesagt hätte, daß mir heute das da drinnen mit dem Schuft, dem Lump passieren sollte, ich sage Sie, wir hätten ihm alle zwölf unsern Standpunkt klargemacht. Er hätte schnell genug den Berg wieder herunterkommen sollen!«

»Sie kamen also heute den Blocksberg allein herunter?«

»Einsam und alleine. Die anderen hatten sich nach einer anderen Richtung davongemacht; ich aber will Sie nach Ballenstedt, und das war mein Verderben. Da komm ich hier an, so'n bißchen lahm ums Kreuz, aber mit aller Dichterpoesie im Gemüte, und komme höflich in die Stube und denke, wenn hier ein Hotelier am ewigberühmten Brocken keine Bildung hat, wo soll er sie denn haben? Jawohl, da deklamiere ich dem Hildburghäuser nach:


Da rief er seinen Schneider,

Der Schneider kam heran:

Da, miß dem Junker Kleider,

Und miß ihm Hosen an!


Bitt ich Sie, sagt Sie der Wirt: verbitt ich mich den Unsinn und Lärmen in meine vier Wände, keine Schneidergesellenherberge haben wir hier nicht! – Herr, sag ich ganz höflich, von mir ist das gar nicht; ich bin Sie ein Damenkleidermacher. Das ist Sie ja von Gounod und Goethe – was wollen Sie denn? Sie sind wohl noch niemals in Berlin, Dresden und Leipzig in der Oper gewesen? Herrjeses, kennen Sie denn Goethes ›Faust‹ von Gounod nicht? Hier mitten am Blocksberg? Ist das Kultur? Ist das Bildung? Ist das Literatur? – Bratsch, haut mir der Halunk, der Barbare aus heller blauer Luft eine hin, als schmisse man Sie ein glührotes Bügeleisen an den Kopf, und da – waren wir denn schöne drin. Ich langte ihm denn natürlich einen mit meinem[300] Weißdorn hinüber, und ohne seine Frau hätt ich's auch wohl durchgefochten; aber, liebster Herr, wenn sich die Weiber einmischen, dann ist's für einen Damenkleidermacher aus und zu Ende.«

»Nicht nur für einen Damenkleidermacher«, sprach Justizrat Scholten, wider seinen Willen dem keuchenden Ästhetiker in den atemlosen, sprudelnden Bericht fallend.

»Hören Sie, da mögen Sie wohl recht haben, lieber Herr. Mein Vater war Sie ein Zimmermann aus Penig an der Mulde, und seine Meinung war dieses auch. Also sehen Sie, auf einmal hängt mich diese Kreatur am Rockkragen und reißt mich nach hinten; und als mir der Wirt stößt von vorn, da half denn kein Ausschlagen und Widerstehen nach hinten und vorn, und ehe ich weiß, wie's zugeht, bin ich draußen, und keine Gerechtigkeit und Justiz ringsum zu sehen und abzureichen. Himmeltausendhöllenhunde, wenn mir das einer gestern abend gesagt hätte, als wir da oben auf dem alten Teufelsberge im Chore sangen: ›Du Schwert an meiner Linken‹, und ›Denkst du daran, mein tapfrer Lagienka?‹ – Herrje, an diese Fahrt auf den Brocken werd ich wohl mein Lebtage denken.«

»Keine Gerechtigkeit und Justiz, so weit das Auge blickt, zu sehen?« sagte der alte Scholten freundlich und dem mutigen Schneider fast zärtlich auf die Schulter klopfend. »Lieber Mann, ich bin ›Sie‹ vom Berg der Hirtenknab –«

»Das haben wir auch gesungen; aber da kam der Brockenwirt und gebot Feierabend.«

»Unterbrechen Sie mich nicht, Angeklagter! Ich bin von der Justiz, wollte ich Ihnen bemerken, und Gerechtigkeit soll Ihnen zuteil werden, und zwar auf der Stelle. Marschieren Sie nur ruhig weiter nach Ballenstedt, lieber Leipziger; ich werde sofort mit dem Herrn Wirt und seiner Gattin ein Wort reden.«

»Ei je, Sie sind von der Justiz?« rief der Leipziger. »Dann gibt es freilich noch einen gerechten Gott! – Soll ich mit Ihnen wieder 'nein gehen? Wollen Sie mich schwören lassen, geehrter Herr Tribunalspräsident? Ich beschwöre Ihnen alles. Warten Sie, ich will Sie meine Papiere –«[301]

»Wollen Sie sich wohl gefälligst nach Ballenstedt scheren!« schrie der Justizrat, mit seinem Stocke aufstoßend.

»Entschuldigen Sie, mein verehrter Herr«, stotterte der Schneider verschüchtert, und der Justizrat klopfte ihm zum andern Mal vertraulich-ermunternd auf die Schulter und sagte:

»Ich meine, gehen Sie nur ruhig Ihres Weges und überlassen Sie die Sache hier mir. Ich bin bekannt in der Gegend, und Sie können sich auf mich verlassen. Und hören Sie, guter Freund, wie ich Sie kennengelernt, werden Sie mir für einen Rat dankbar sein: machen Sie doch den kleinen Umweg durchs Selketal und grüßen Sie unter dem Falkenstein des Pfarrers Tochter zu Taubenhain recht freundlich vom – Justizrat Scholten; das ist mein Name nämlich.«

»Herrjeses Sie – die lebt noch? Die haben Sie auch vor Gericht vertreten? O Herr Justizrat, hundertmal ließ' ich mich aus der Tür schmeißen, um Ihnen zu begegnen; jetzt verlaß ich mich auf Sie wie aufs Jüngste Gericht, und da Sie es wünschen, so empfehle ich mich höflichst. Der Herrgott möge es Ihnen vergelten, was Sie in meinen Angelegenheiten vornehmen.«

»Ich empfehle mich gleichfalls höflichst«, sprach der Justizrat, die Mütze abnehmend, jedoch zu gleicher Zeit mit dem Knittel bergab winkend. Der Schneider nahm Abschied von ihm in den drei Tanzmeisterposituren und entfernte sich, alle drei Schritte über die Schulter zurückblickend. Der Justizrat trat in das Berghaus zurück, von dessen Fenstern aus man ihn wie den Schneider fortwährend scharf und nicht ohne Besorgnis im Auge behalten hatte.

Die Wirtin hatte ihn im Auge behalten, der Wirt saß verdrossen und tückisch hinterm Tisch, den Kopf auf beide Fäuste gestützt. Der alte Scholten grüßte die Wirtin und wendete sich an den Wirt.

»Da haben Sie aber Ihre Sache einmal wieder ganz vortrefflich gemacht, Herr Zucker«, sagte er. »Meine aufrichtigsten Komplimente! Jaja, da sieht man, daß Sie ziemlich hoch über der norddeutschen Ebene wohnen und also die Berechtigung haben, vornehm darauf hinunterzusehen. Höflichkeit soll zwar eine Tugend[302] sein, die an Wert zunimmt, je tiefer hinab sie gehandhabt wird; aber Sie müssen das besser verstehen, und ich bescheide mich gern. Seltsamerweise behaupten da in der Tiefe einige, daß es gar keine Kunst sei, vor einem Reichen und Vornehmen die Mütze zu ziehen, und daß solches kaum als Verdienst angerechnet werden könne; aber Sie müssen natürlich am besten wissen, an wem Sie am meisten verdienen. Ich habe herzlich lachen müssen über das Gesicht, mit welchem der arme Teufel da eben abzog. Denken Sie aber nur: er entblödete sich nicht, Sie einen Flegel zu nennen und Ihre Frau eine giftige alte Bergkatze! Was sagen Sie dazu, Madam Zucker?«

Sie starrten beide stumm, mit geöffnetem Munde auf den alten Juristen.

»Und jetzt ist er hinunter den Berg, seinen drei Brüdern entgegen – zwei Zimmergesellen und einem Grobschmied; und dazu ist's seine feste Absicht, Ihnen jeden Schneider, der diesen Sommer den Blocksberg erklimmen wird, auf den Hals zu hetzen. Ich suchte ihm, meinem Beruf gemäß, versöhnlichere Gefühle beizubringen, aber es ist mir nicht gelungen. Auf jedes gute Wort hin wurde er wütender und jähzorniger, sprach von Bestienvolk und fragte, was ich wohl meine, ob Sie Ihr Anwesen über seinen Wert bei einer Feuerversicherung eingeschrieben hätten. Ich sagte ihm, dies glaube ich nicht, und dann lachte er teuflisch, zog eine Tigerzigarre hervor, zündete sie mit einem Basiliskenblicke auf Ihr Dach an und ging zähneknirschend ab mit dem Worte: Sieben auf einen Schlag!, was ich nicht verstand.«

»Barmherzige Güte!« stöhnte die Frau Wirtin, und der Wirt stand längst hinter seiner Tischplatte aufgerichtet, stemmte beide Hände darauf und sagte: »Sapperlot!«, Grimm und Bestürzung in dem Ausruf aufs wirkungsvollste zutage fördernd.

Mit sozusagen trübem Auge sah der Justizrat nach seiner Uhr:

»Und meine Zeit ist leider jetzt auch abgelaufen. Schuldig bin ich wohl nichts mehr? Also – guten Tag!«

So ging auch er, und der Wirt setzte sich wieder, und seine Frau setzte sich gleichfalls.

Sie saßen eine geraume Zeit, sich mit giftigen Seitenblicken[303] anschielend, bis plötzlich sich die Frau erhob, die Hände ihrerseits auf den Tisch stemmte, sich weit über ihn hinbog und ihrem Gatten ins Gesicht fauchte:

»Hast du's nun mal wieder, wie du's willst? Ist es nun so recht? Du Grobsack, du Schnarcher, du Leuteanbeller; hast du dir nun bald genug Hypotheken aufs Haus gebellt? O du – du! – Prügel genug hast du in deiner eigenen Gaststube gekriegt – aber immer noch nicht genug! Jetzt weißt du meine Meinung!«

Damit fuhr sie hinaus in die Küche; aber leider nicht durch den Schornstein ab.

»Sapperlot!« stöhnte der Wirt noch einmal, und dann murmelte er: »Wer mir vor fünfzehn Jahren als zivilem jungem Zimmergarçon im Hotel Royal in Hannover gesagt hätte, was hier in der Wildnis aus mir werden würde, der – hätte sicher den Zug verschlafen und sein Haar im Kaffee und seine Portion Mäusedreck im Milchtopf gefunden. So verwildert man, ohne was dazu zu können! O verflucht! Aber – am meisten ärgert einen doch der verfluchte alte Besenbinder, der da eben ging, nachdem er seine Sottisen bestellt hatte, ohne daß man ihm dafür an die Gurgel konnte. Und das Verdammteste ist, daß man ihn eben kennt und weiß, daß ihm nicht beizukommen ist. An dem ist Höflichkeit und alles, was das Gegenteil davon ist, verloren. Im Dunkeln möchte man den Hund auf ihn hetzen; aber ich glaube, selbst die Hunde wagen sich nicht an ihn!«

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 295-304.
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