Einundzwanzigstes Kapitel

[569] Der seltsame Nebel, der, so weit sein Reich ging, jedermann betäubte oder aufregte, hatte auch an Tonie Häußler seine Macht nicht verloren. Sie bekam kein Kopfweh wie Fräulein Adelaide, aber sie fühlte sich unruhig, beängstigt und verspürte eine rechte Lust zum Weinen, ohne zu wissen weshalb und ohne ihr nachzugeben. Im Gegenteil, sie nannte sich selber ein dummes Närrchen, warf all die lustigen und traurigen Melodien, die ihr in den Sinn kamen, in einen Reihen oder Leich zusammen und trug im Tanzschritt ihre Laterne über den Hof zur Mamsell Molkemeyer, um ihr ihre Hülfe anzubieten.

Doch die Mamsell war sehr ungnädig und sagte: »Kind, tu, was du willst, nur geh mir aus dem Wege! Gebrauchen kann ich dich jetzt nicht.«

Dasselbe hatte bereits die gnädige Frau gesagt und hinzugefügt:

»Tonie, du siehst müde und matt aus; geh zu den Alten oder suche dir sonst einen stillen Winkel aus; für heute sollst du Ruhe haben.«

Aber heute einen stillen Winkel auf dem Lauenhofe zu finden, das war eine Kunst; in den beiden einzigen, welche es an diesem Abend gab, hatten sich die beiden »Alten« bereits verriegelt, und selbst den Chevalier hätte Tonie an diesem Abend nur ungern in seiner Ruhe gestört. Da trug sie denn ihr Laternchen aus dem Bezirk der Mamsell Molkemeyer weiter und trug es in den nächtigen Garten.

»Es ist das beste, ich hole mir noch einen Strauß«, sagte sie; »einen Strauß für den Tisch; sie haben doch alle ihre Freude dran, und es ist so bald vorbei damit. Sie waren alle heute so vergnügt und ich auch; ich habe mit ihnen gelacht und gesungen, aber so recht gefreut habe ich mich doch nicht. Nun liegen die Felder wieder leer hinter uns, ich sah hoch vom Wagen durch den häßlichen Dunst, weiter als sie alle; es war alles leer, und deshalb war ich traurig selbst unter der Erntekrone. Ja, ich hole[569] mir und ihnen noch einen Strauß von lebendigen Blumen; wenn auch nur der Ritter darauf achtet, so ist's gut und genug.«

Sie nahm ihr Lämpchen auf und gelangte durch eine Seitenpforte in den Garten, und hier unter den alten hohen Bäumen war es finsterer als sonstwo. Tonie Häußler ließ schnell die hohen rauschenden Wipfel hinter sich und warf im Vorübereilen nur einen scheuen Blick an den Stämmen empor, wie der Schein ihrer Laterne an ihnen vorbeiglitt und an ihnen in die Höhe lief. Sie hätte unter ihren Blumen selbst ohne ihr Laternchen Bescheid gewußt; schon hatte sie zierlich ihre Kleider zusammengefaßt und schlüpfte zwischen den feuchten Buchsbaumeinfassungen der Beete hin. Nun kauerte sie unter ihren Lieblingen, stellte ihr Licht mitten in einen vollen Asternbusch und sagte lächelnd:

»Das ist meine Ernte.«

Sie pflückte zur Rechten und Linken und im Kreise umher und hielt jede Blume in den Lampenschein, ehe sie dieselbe den Schwestern in der linken Hand hinzufügte. Sie neigte das hübsche Haupt zur Rechten und zur Linken und summte leise ihre Melodien fort; doch der fröhlichen wurden leider immer weniger, und die melancholischen gewannen bald ganz und gar die Oberhand.

Jetzt betrachtete die Sängerin ihren Strauß, und dann trug sie ihre Laterne zu einem anderen Beet, kauerte von neuem nieder, aber sang nicht weiter. Ganz ängstlich blickte sie nun über die Schultern und sagte leise lachend:

»Man sollte meinen, ich wolle mir selber Mut machen mit dem Singsang! Ei Tonie, fängst du an, dich vor der Nacht und dem Höhenrauch zu fürchten? Das wäre noch besser, und nun hältst du dir selbst zum Trotz den Mund und kümmerst dich um nichts.«

Das war leicht gesagt, aber schwer getan, denn der Strauß war noch lange nicht fertig, und an Stelle der Liedersätze kamen die Gedanken, und leider Gottes kamen sie gleich von Anfang an trüb und auf schwermütigen Fittichen.

»Ein Vogel sollte doch noch wach geblieben sein um mich,[570] das wäre freundlich gewesen«, meinte Tonie, aber sie meinte auch: »Freilich, das ist keine Stunde und keine Witterung für sie, und dann – wie viele sind schon fortgezogen! Ich will mich gleichfalls beeilen, daß ich wieder zu meinesgleichen komme; selbst die buntesten Astern fangen an, mir Gesichter zu ziehen, und ich traue ihren Farben nicht. Ach Gott, ist das nicht, als ob meine Blumen aus dem Gespensterreich aufwüchsen? So, da und da und nun noch die dort aus der Mitte – komm, Liebchen, ich bringe dich zu Freunden! Jetzt bin ich fertig, und das ist gut, und nun wollt ich, ich hätte die große Kastanienallee schon hinter mir und könnte mein Lämpchen in Sicherheit ausblasen.«

Sie erhob sich, ordnete ihren Strauß ein wenig handgerechter und sprach ruhig-nachdenklich:

»Wer eben freien Eintritt in meine Seele erhalten hätte, der würde allen Hausrat in arger Verwirrung drin gefunden haben und müßte einen herrlichen Begriff von mir mit fortnehmen! O Tonie Häußler, schäme dich und stifte mir hier auf der Stelle Ordnung!«

Sie ging noch nicht. Sie stand still und ließ auch die Laterne am Boden.

»Wie schnell heute der Rauch herankam! Sie hatten mich eben auf den Wagen unter die Krone gesetzt, und eben schien noch die Sonne über die Stoppelfelder, da rollte er heran und fraß alles – Farben, Licht und Stimmen!... Wie habe ich mich heute wieder über den Pastorenfranz geärgert! Ja, ohne den wäre ich ganz glücklich auf dem Lauenhofe, aber es soll niemand ganz glücklich sein. Ohne den Buschmann wäre ich gewiß zu glücklich und vergäße sicherlich alles, was ich doch stets im Gedächtnis behalten muß; er sagt mir jeden Tag, woher ich komme, und das ist sehr gut.«

Jetzt ordnete sie ein wenig an ihrem Blumenstrauß.

»Ei, ei, ich glaube, ich bekomme Nerven wie das gute Fräulein; aber es ist nur der dumme Nebel daran schuld. Der Franz Buschmann ist nicht schuld daran; da hilft mir der Chevalier, jaja, der Herr Ritter!« Und mit den hellen Tränen in den Augen fing sie von neuem an, leise zu summen, und zwar:
[571]

En partant, reçois le seul gage

Que je possède encore ici,

Ce bouquet de rose sauvage,

De violette et de souci.


Das war närrischerweise aus dem schönen Liede, welches schon in früheren Jahren Adelaide von Saint-Trouin so gern sang, und paßte weder zu den Spätsommerblumen in der Hand der Sängerin noch sonst in den jetzigen Augenblick; aber:


L'églantine est la fleur que j'aime,

La violette est ma couleur,

Dans le souci tu vois l'emblème

Des chagrins de mon triste cœur.


»Und jetzt bring ich meine Ernte, meinen Strauß meinen eigenen Anverwandten, und der Herr Ritter wird mich darum nicht weniger liebhaben!« schluchzte Tonie Häußler.

Hastig ergriff sie die kleine Laterne, faßte ihren Strauß fester und drückte ihn gegen den Busen. Im Lauf durchmaß sie die gewundenen, jetzt so dunkeln Kieswege des Gartens, gelangte von jener Terrasse mit dem chinesischen Pavillon auf die Landstraße und eilte dem Kirchhofe dicht neben dem Siechenhause von Krodebeck zu. Sie, welche eben so scheu und ängstlich in die sie umgebenden Schatten sah, welche sich vor dem Rauschen der Bäume fürchtete, sie fürchtete sich nicht mehr zwischen den Gräbern ihrer Anverwandten. Sie wand sich zwischen den Hügeln, Kreuzen und tauigen Sträuchern durch bis zu den beiden Gräbern im Winkel, die ihr gehörten. Da stand sie und teilte ihren Blumenstrauß und gab der Mutter ein Teil und der Pflegemutter das andere.

»Beinahe hätte ich euch vergessen«, flüsterte sie, »aber ihr wißt doch, ich kann euch nicht vergessen, und es wird immer zwischen uns im Rechten bleiben.«

Sie hob die Laterne und ließ ihren Schein zur Rechten und Linken über beide Hügel fallen. Der Nebel schien immer dichter zu werden, und der Emeritus im Siechenhause, der von seiner[572] einsamen Zuchthauszelle her immer noch eine fiebernde Ruhelosigkeit in Gliedern und Knochen verspürte und auf keinem Platz mehr stillsitzen konnte, kam eben an sein Hinterfenster und verwunderte sich sehr über das rote schwankende Licht auf dem Kirchhofe zu so ungewöhnlicher Stunde. Zuerst erschrak er sogar, doch ein alter Sünder faßt sich kurz und schnell, und so sah er im nächsten Augenblick ganz scharf und genau auf das Phänomen und rief:

»Sackerment, das ist ja die junge Mamsell vom Hofe. Hehe, da muß ich der Krabbe doch meine Gratulation anbringen und ihr die Hohnörs vom Ort und der Gelegenheit machen. Verdammt, die Haare möchte sich ein ehrlicher Mensch ausraufen, wenn er nur von weitem an den Glückspilz, an den Dietrich denkt – Sackerment!«

Er nahm die schwarze kurze Tonpfeife aus dem Mund, drückte die Asche mit dem Daumen hinab und tappte vorsichtig aus seiner Höhle hervor. Leise schlich er um die Ecke, und plötzlich fuhr Antonie Häußler mit einem Schrei unter der Berührung seines Zeigefingers zusammen und fuhr zitternd herum und sah das alte, grimmig grinsende Gesicht gerade vor sich:

»Schönsten guten Abend, Tonie, Mamsell Tonie, Fräulein Tonie Häußler!«

»Was wollt Ihr – was – was wollen Sie von mir? Das ist unrecht! O wie haben Sie mich erschreckt!«

»Nun, nun«, sagte der Emeritus begütigend, »es war nicht schlimm gemeint. Unsereiner nimmt doch auch immer noch teil an dem Vergnügen der Menschheit und hat sein Pläsier dran, wenn seinem Nebenmenschen ein guter Bissen auf den Teller fällt. Na, Fräulein Tonie, Fräulein Häußler, vergessen Sie den Alten im Siechenhause nicht, wenn der Herr Großvater angekommen ist. Wissen Sie, aus alter Bekanntschaft – er wird sich wohl selber erinnern; aber es ist einerlei, ich wünsche viel Glück und gönne ihm sein Glück, und ich wollte nur sagen, daß es mir eine große Ehre wäre, wenn er sich meiner auch erinnerte und vielleicht aus seinem guten Herzen eine Gabe in das Hotel Schubbejack schickte.«[573]

»Ich weiß nichts – ich verstehe nicht – ich bin so sehr erschrocken. Jetzt will ich heim – geht fort, laßt mich frei, ich bitte Euch herzlich! Man wird mich daheim vielleicht schon vermissen!«

»Halt!« rief der Emeritus, »halt! Fräulein Tonie, wissen Sie wirklich nicht, was für ein unmenschliches Glück und unverdiente Herrlichkeit für Sie unterwegs ist?«

Das junge Mädchen schüttelte immer ängstlicher den Kopf.

»Ei, so soll mich der Teufel holen, wenn ich mir nicht auch von Ihnen ein Trinkgeld, und zwar ein anständiges, verdiene, gnädiges Fräulein. Also hat die Bagage Ihnen noch nichts verkündigt? Schön, so horchen Sie gefälligst; ich habe vorhin auch gehorcht und Wunderdinge erfahren; aber so sind die Leute: alles Gute behalten sie so lange als möglich für sich selber und lassen nichts heraus, wenn man ihnen nicht mit dem Brecheisen oder dem Dietrich kommt. Ja, der Dietrich, der Dietrich – ach, gnädigstes Fräulein Tonie, wenn ein Mensch gewußt hat, was in dem Dietrich steckte, so bin ich der Mensch gewesen, und jetzt kommen Sie her und lassen sich erzählen und denken nachher dankbar und erkenntlich an den armen alten Mann im Siechenhause, von dem kein Mensch was wissen will und der es doch so gut mit der Menschheit meinte.«

In seiner Weise, das heißt mit seinen Redensarten und Ausschmückungen, flüsterte der Emeritus dem jungen Mädchen alles das zu, was er vorhin bruchstückweise von der Unterhaltung Hennigs und Janes erlauscht hatte, und so erfuhr Antonie Häußler über den Gräbern der Mutter und Pflegemutter, im Schatten der zerbröckelnden Mauer des Armenhauses von Krodebeck das große Glück, welches ihr bevorstand und um welches so große und betrübte Aufregung bei allen Freunden auf dem Lauenhofe herrschte. Was der gute Ritter von Glaubigern ihr in der zartesten Weise sagen sollte, das sagte ihr jetzt das brutale Schicksal mit rohem Lachen, heimtückisch-neidisch, frech und erbarmungslos – o weshalb brauchte der Chevalier so lange Zeit, sich zu besinnen? Weshalb mußte Fräulein Adelaide von Saint-Trouin[574] auch heute um ihre Meinung gefragt werden? Müssen die braven Leute überall und immer zu spät kommen, um sich mit denen, die zu ihnen gehören, zu verständigen, ehe die gleichgültige, schadenfrohe oder eigennützige Welt sich vordrängt und jede Verständigung, jeden Trost und jeden Ausgleich so häufig unmöglich macht?!

Lautlos hörte Antonie Häußler den Emeritus an. Sie lehnte an dem hölzernen Gitter, welches eines der Gräber des Dorfes umschloß, ihre Hand lag auf einem der Eckpfosten, und diese Hand umklammerte immer fester ihre Stütze. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder, sah vor sich im roten Schein und Nebel das alte böse Gesicht schwankend, undeutlich und doch peinlich klar wie alles umher, wie das Laternchen auf dem Hügel der Mutter, wie die zerstreuten Blumen, wie das hohe Gras zu ihren Füßen, die schwarzen Bäume und Büsche und die schwärzere Nacht, die von allen Seiten grimmig herandrängte. In diesem Augenblick wurde vom Lauenhof her ihr Name gerufen, da entfloh sie mit einem leisen Schrei; sie lief in die Dunkelheit hinein, gänzlich unfähig, über ihren Weg und Willen Rechenschaft zu geben.

Es war Hennig, welcher dem guten Kameraden rief. Die Herrschaften auf dem Hofe waren nach heftigem Durcheinander der Meinungen zu der Ansicht gekommen, daß es leider unbedingt nötig sei, das Kind von der Sachlage in Kenntnis zu setzen, und man suchte nach dem Kinde. Während die anderen hin und her fragten, ging der Chevalier, fort und fort unverständliche Sätze murmelnd, auf und ab. Man verfolgte die Spur der Tonie von der Mamsell Molkemeyer in den Garten und erfuhr, daß sie mit ihrem Strauß und ihrer Laterne auf der Landstraße gesehen worden war. Jane Warwolf ahnte, wohin sie gegangen sein könne, und folgte ihr mit Hennig. Sie riefen beide und horchten und warteten auf Antwort; aber der Emeritus saß kichernd und glucksend, seinen schwarzen Pfeifenstummel im Munde, wieder in seinem Winkel und ließ sie rufen, ohne sich zu rühren. Als jedoch Hennig an sein Fenster klopfte, öffnete er es sehr vergnügt und antwortete auf die[575] Frage, ob er nicht das Fräulein Tonie auf dem Kirchhofe gesehen habe:

»Freilich habe ich sie gesehen und ihr mit Höflichkeit die Hohnörs gemacht, wie es sich schickte. Hab mich auch recht schön und bescheiden im voraus bei dem Herrn Großvater in gütige Erinnerung empfohlen. Sie brauchen sich weiter keine Molesten zu machen, Herr von Lauen; ich hab dem Fräulein alles erzählt – alles der Reihe nach, wie ich es vorhin von meinem Jammerwinkel her von Ihnen und der gnädigen Frau von Warwolf hier in Erfahrung gebracht habe. Das Fräulein waren sehr interessiert und dankbar, aber auch, ein wenig außer sich und sind verschwunden und haben mich stehenlassen, wie denn die jungen Leute so sind, Herr von Lauen.«

Wütend schlug der Junker mit der Faust nach dem alten Halunken, aber lachend fuhr dieser zurück und warf das Fenster zu. Jane Warwolf faßte den zornigen Hennig, zog ihn zurück, zog ihn auf die Landstraße und rief:

»Das ist schlimmer als alles andere und noch dazu unsere Schuld! O das arme Geschöpf! Es ist meine Schuld, meine Schuld! Weshalb hab ich nicht mich um keinen Menschen gekümmert und sie beiseite genommen und mich mit ihr unter einen Busch am Wege gesetzt und selber zu ihr gesprochen? Da bin ich von einem zum andern gelaufen, und wohin ist sie nun in ihrer Verwirrung gelaufen?«

»Ich breche dem Hund die Tür auf und ziehe ihn an den Ohren hervor – er muß es wissen!« rief Hennig.

»Und ruf das ganze Dorf zusammen und schicke es ihr nach! Wir wollen langsam und still auf dem Wege zum Holze weitergehen, dort werden wir ihr wohl begegnen; zu bessern und gutzumachen ist jetzt doch nichts mehr«, sagte Jane.

Hennig folgte der Alten störrisch, aber doch ohne eigenen Willen, und so gingen sie auf der Landstraße weiter, dem Walde entgegen. Es war der Weg, auf welchem die schlimmen Geisterfußtritte das Pflegekind des Lauenhofes verfolgt und gejagt hatten, und unter den ersten Bäumen standen Jane Warwolf und Hennig von Lauen still und horchten. Nun rief Jane[576] von neuem zärtlich und weinerlich den Namen des jungen Mädchens, und nun meinten sie, dicht neben sich ein verhaltenes Schluchzen zu hören; sie hatten sich jedoch geirrt, denn jetzt näherte ein leichter Schritt sich ihnen aus der Finsternis des Waldes, Antonie Häußler trat ruhig an sie heran und fragte:

»Hast du mich gerufen, Jane? Bist du auch da, lieber Hennig? Ei, wie hätt ich euch necken können, wenn ich in solcher Stunde und bei solchem Nebel mit euch hätte Versteckens spielen wollen. Aber ihr brauchtet keine Sorge darum zu haben, ich bin gern zu euch gekommen; es ist gar zu schaurig und unheimlich da hinter mir.«

»Liebe, liebe Tonie«, rief Jane, und Hennig rief:

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie betrübt und wütend wir alle dort unten sind. Wir kamen, dich zu suchen und heimzuholen, und dann – dann haben wir den alten Schuft im Siechenhause gesprochen, und – und –«

»Ja«, sagte Antonie, »er hat mir einen großen Schrecken eingejagt, und darauf bin ich recht töricht gewesen und bin in die Nacht hineingerannt wie ein Kind, das man mit einer Maske schreckte. Vielleicht ist es so am allerbesten gewesen, Jane, denn nun hab ich alles, was mir an Verstand mit auf die Welt gegeben wurde, wieder beieinander; und jetzt wollen wir nach Haus gehen. Da ist der Herr Ritter und die gnädige Frau und Fräulein Adelaide, und es ist mir doch, als habe sich alles mit einem Schlage verändert. Seit einer Stunde hab ich manches Jahr gelebt – zurück und weiter hinaus; immer weiter hinaus und tiefer zurück. Das ist so bunt und ängstlich und unbegreiflich, daß man wohl Vernunft und Verstand zusammennehmen muß. Kommt, wir gehen zurück zum Lauenhof – sie müssen alle mit mir sprechen, ich muß alle die freundlichen Stimmen wieder hören, denn eben ist mir doch gewesen, als sei das Leben der Freunde, und mein Leben mit, schon vor hundert Jahren verklungen.«

»Der Klügste sollte darüber zum Narren werden!« sprach Jane Warwolf mit allem Nachdruck.[577]

»Der – Mann dort unten sagte, du habest die Nachricht hierhergebracht, Jane?«

»Ja, Herzenskind, es ist mein Schicksal gewesen, und du darfst es mich nicht entgelten lassen, wenn du in Purpur, Pracht und Herrlichkeit sitzen wirst.«

Tonie lachte und sagte:

»Ich glaube alles, aber daran glaube ich fürs erste noch nicht. Was meinst du dazu, Freund Hennig!«

»Ich weiß nichts, ich meine nichts; aber von Stunde zu Stunde kriege ich größere Lust, der ganzen Welt in das Gesicht zu springen.«

»O Gott – und der Herr Ritter!« rief Antonie in schmerzlichster Bewegung und zog die alte Jane schneller mit sich fort.

Sie gingen heim durch die stille Nacht und den wogenden Dunst, in welchem die Lichter des Dorfes und des Rittergutes trübe und schwankend flimmerten. Sie erreichten das Tor des Lauenhofes, an welchem eine murmelnde Gruppe von Knechten und Mägden verlegen-stumm bei ihrer Annäherung auseinandertrat. Sie gingen in die große gelbe Stube zur Rechten des Hausflurs, wo die kuriosen und durchaus nicht anmutigen Ahnenbilder des wackern Hauses an den Wänden hingen und wo an dem runden Tische in der Mitte des Gemaches die Mutter, der Chevalier und Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin ebenfalls eine stumme Gruppe bildeten. Auch diese Gruppe löste sich bei ihrem Eintritt, doch zog sich niemand zurück, sondern alle drei kamen mit erhobenen Armen und Händen heran, und der Herr Ritter von Glaubigern faßte das junge Mädchen in seine Arme und hielt es fest und streichelte ihm wortlos mit zitternder Hand die Haare und versuchte zu reden, brachte es aber nur zu einem zärtlichen, halb abgebrochenen Schmeichelwort und sah über die Schulter des Kindes die Frau Adelheid mit einem so verlorenen Blicke an, daß die gute Frau trotz aller eigenen Rührung unwillkürlich lächeln mußte.

Nun wurde den ganzen Abend hindurch die seltsame Nachricht hin und her gewendet, ohne daß man ihr viele Lichtseiten abgewann. Am schweigsamsten hielt sich die Frau Adelheid; sie[578] ließ die anderen reden und fiel nicht ein einziges Mal dem Fräulein von Saint-Trouin ins Wort. Dagegen warf auch sie den ganzen Abend hindurch absonderliche Seitenblicke auf den Sohn und das Pflegekind, versank häufig in ein tiefes Nachdenken und fuhr aus demselben kurz und schroff empor. Sie war sogar einige Male gegen das arme Mädchen, die Tonie, kurz und schroff, und da sie für alles ihre Gründe hatte, so mußte sie auch hierfür dergleichen aufweisen können. Gegen Mitternacht wurde sie grob und scheuchte den melancholischen Kreis auseinander und in die Betten; aber reumütig bot sie zu gleicher Zeit dem Chevalier den Arm und geleitete ihn selber die Treppe hinauf bis zur Tür seines Zimmers und wünschte ihm kläglich und mit unverhohlenem Zweifel an der Erfüllung ihres Wunsches die angenehmsten Träume.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 4, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 569-579.
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