Elftes Kapitel

[335] Es ist ein fraglich Ding um das Schildwachtstehen vor der Sicherheit, dem Behagen, dem Glück eines andern von uns in unserer Welt. Der stärkste Mann weiß nicht, wie und wann ihm die Waffe aus der Hand, die Kraft aus den Knochen, der Mut aus der Seele abhanden kommen wird; und dem unmündigen Knaben neben der toten Mutter und dem verlassenen Schwesterchen ist nun bereits die Wehr aus der kindischen Faust gerissen und unter das alte Eisen der Mutter Cruse geworfen worden. Der tapfere, lange schwarze Peter, Herr Schmied aus Jüterbog, der Peter Uhusen aus der Fremde, befindet sich aber auch schon mit ihr in seiner gesunden Faust auf dem Wege zu seinem und Erdwine Hegewischs Jugendfreunde Albin Brokenkorb: wir wissen eben auch nie, aus welchen Winkeln, auf welchen Wegen und Umwegen uns die Waffen, die Kräfte und der Mut zurückgegeben werden können.

Der kleine Belagerungszustand war längst erklärt. Man durfte eigentlich nicht, und noch dazu am hellen Mittage, mit solch einer nackten Klinge unterm Arm, vorausgesetzt, daß man nicht zu den berechtigten Waffenträgern im Staat gehörte, durch die Straßen laufen. Der Schmied von Jüterbog aber kam natürlich unangehalten durch, zog sich höchstens die Anmerkung eines jüngern oder altern Gassenjungen zu:

»Na, oller Landsturm, wohin denn mit die Plempe?« Der lange Peter auf dem Marsche zu dem »andern«, von dem die Mama[335] ihren Kindern keine »schönen Geschichten« erzählt hatte, war nicht in der Lage und Stimmung, auf irgendwelche Bemerkungen und Anmerkungen der Begegnenden etwas zu geben. An und für sich schon ein Mensch der Selbstgespräche, hatte er im gegebenen Fall viel zuviel mit sich selber zu verhandeln, um sehr auf das zu achten, was andere zu sagen hatten.

Und nicht ohne Grund befand er sich im Anfang seines Weges viel mehr in Untermeidling am recht stillen Ort als in dem Lärm und Getöse der menschenwimmelnden Straßen, durch die er sich aber einem Traumwandler gleich zurechtfand.

Und er sprach viel wienerisch auf diesem Wege mit sich selbst. Er hatte sich mit allerhand Dialekten unter allerhand Völkern vertraut gemacht und das Talent dazu auch mitbekommen; wir aber, wir können es leider nicht nachmachen, wie wienerisch er jetzt an mehr als vier Straßenecken von Berlin zu sich selber redete. Wir wissen höchstens, wie ihm zumute war.

»Mein arm Mädchen«, sagte er, »da liegt sie nun, und hier laufe ich herum. Das Herz! Wie wär es nun, wenn ich es jetzt am Arm hängen hätt und müßte ihm von meiner ersten Liebschaft erzählen, um es nur annähernd aufs laufende zu bringen? Mein lieb Kind da nun in seinem stillen Winkel in seiner Ruhe und Sicherheit, und – ich von neuem als ein unzurechnungsfähiger, von jeglichem Phantasiewind umgetriebener Narr und Land- und Seehanswurst im Tummel und in unnötigster Aufregung!...«

Er hielt an im eiligen Gange und stand zum Verdruß eiliger Mitläufer im Tumult des Lebens an einem der lebendigsten Durchgänge still und brummte:

»Und ich meine doch, ich höre sie grade eben unter ihrer Gras- und Efeudecke hervorkichern: ›Galoppier nur, Peterle! Hast mich doch lieb, behältst mich lieb und kommst zu mir nach Haus und bringst mich den ganzen Abend durch deine neuerlebten Geschichten zum Lachen!‹...«

Nun ging er ruhiger weiter mit sich als ein Mensch, der wissenschaftlich gebildet worden war auf Lateinschulen und dergleichen und welcher Komödie gespielt hatte unter der Direktion der klugen,[336] tapfern, weisen Frau Wendeline Cruse und unter der Präsidentschaft des klugen, tapfern, weisen Mr. Abraham Lincoln Feldgeschütze zum Besten seiner Mitbürger und Brüder auf der Erde befehligt hatte in einem der edelsten Kriege der Welt. Über das Selbstgespräch, was er so führte, ist freilich kaum etwas zu sagen.

»He, Droschke!« rief er, und in dem Wagen weiterrasselnd, meinte er: »Ach mein armes Heckenröschen Erdwine Hegewisch, was haben sie aus dir gemacht? Und was werden wir heute noch über dich erfahren? Nun, da wäre es ja wahrhaftig ein Glück zu nennen, daß ich im Grunde mit bestem Gewissen die ganze Sache auf die celebre, feinfühlige Seele des edeln Albin abladen kann! Und der Emerenz zu Hause – in Untermeidling ist das letztere vielleicht doch auch das liebste. Ein Frauenzimmer war sie denn doch einmal, und, bei Gott, ihre Rechte sollen ihr gelassen werden bis hinunter in die Erde.«

Ja, wenn es mit dem Abladen so leicht ginge, wie sich das hinspricht! Der Schmied von Jüterbog nahm die Gedanken darüber wie sich sein arm lieb Weibchen wohl zu diesem seinem neuesten Lebensabenteuer verhalten haben würde, mit in den Wagen. Sie begleiteten ihn bis vor die Tür von Runne & Plate, der großen Handlung in neuem und altem Eisen, und er wurde sie auch nicht los die Treppen hinauf zu dem zierlichen Porzellanschild mit der Inschrift: Hofrat Dr. Brokenkorb.

Da erst kam er ins klare, sowohl in seinem Verhältnis zu sich selber wie zu seinem guten, lieben, fröhlichen, lachenden Weibchen – auf dem Kirchhofe zu Untermeidling. Da kam ihm wieder das Verständnis für diese Welt, in der sein großer Namensahnherr den Teufel in den Sack und den Tod in den Birnbaum bannte.

»Den alten saubern Jungen hätte das Herze so genau wie ich in seiner Jugend kennen sollen!« seufzte Peter Uhusen kopfschüttelnd in Betrachtung der Porzellanadresse seines Jugendfreundes. »Da würde es wahrhaftig gesagt haben: ›Lauf rasch zu, Peterle; – kümmere dich um mich gar nicht – bring erst die Kinder vor dem Unwetter ins Trockene. Sorge dich gar nicht um uns[337] ausgewachsenes Volk! Hui, der Platzregen! Jawohl, mein armer Papa sagte auch oft: Kind, wenn ich dich nur erst in Sicherheit hätte, das andere wäre mir ganz einerlei. Lauf, lauf, Peterle, hol die Kinder von der Gassen herein – wenn es zum Verdruß für dich dabei kommt, ist's wenigstens in deiner jetzigen melancholischen Laune ein Zeitvertreib für dich gewesen, mein armes, liebes Männle. Bildest dir doch wohl nicht ein, daß ich jetzt eifersüchtig werden könnte? Zieh nur die Glocke und reich dein altes Eisen hinein und bestell einen schönen Gruß an deinen Herrn Hofrat von unserer Himmelsbank unter dem alten Birnbaum in unserm Garten in Untermeidling, und wenn es ihm im geringsten unangenehm wäre, möchte er sich ja nicht weiter bemühen.‹«

Der Schmied von Jüterbog zog dessenungeachtet die Glocke und brummte:

»Wenigstens, wenn ich gestern nur undeutlich wußte, was mich in drei Teufels Namen hierher führte, so weiß ich es, alles in allem gezählt, heute zweifelsohne sicherlich annähernd.«

Die Glocke gab auf den diese Worte begleitenden Ruck freilich einen Widerhall, der nicht im mindesten der Rücksicht gemäß war, die man sonst auf die Nerven eines Mannes zu nehmen pflegte, der seiner feinsten Empfindungsfähigkeiten wegen nicht nur bekannt, sondern auch geliebt war. Aber der Lärm hatte wenigstens sofort die gewünschte Wirkung.

Rupfer stürzte herbei, und zwar mit dem innigsten Bedürfnis, so grob als möglich zu werden. Was auf seinen Lippen schwebte, verbiß er jedoch gänzlich, und zwar mit einem immer sonniger werdenden Grinsen, als sein Blick auf den »Herrn mit dem Stocke, der gestern schon einmal da war«, fiel.

Ein »O du mein Je!« entrang sich diesen selbigen Lippen unwillkürlich, als sein Auge die diesmalige Waffe in der Faust des verdächtigen Fremden traf. Regungslos, mit stumpfsinniger Vorahnung, daß etwas ganz besonders Kurioses im Gange sei, stand er in der geöffneten Pforte, den Türgriff in der Hand, und ließ sich zweimal die Frage wiederholen:

»Der Herr jetzt zu Hause?«[338]

›Dies geht nicht gut aus‹, sagte der getreue Knecht, aber nur still bei sich. ›Gestern mit dem Knüppel und heute mit der Plempe! Det nennt man jedenfalls eine jesteigerte Anfrage vonwegen mal runterkommen.‹

Laut äußerte er sich, zwischen Besorgnis und Grobheit schwankend und dazu die äußere Erscheinung dieses dringenden Besuchs nicht ohne großstädtische Menschenkenntnis in Betracht ziehend:

»Will nachfragen.«

Aber da kannte er Peter Uhusen nicht. Mit der Gemütsruhe eines Obersten von zwanzig Niggerbataillons drehte der Herr Schmied aus Jüterbog ihn zur Seite und schritt an ihm vorbei oder besser gesagt über ihn hinweg mit dem einfachen Worte:

»Schön!«

»Aber der Herr Hofrat befinden sich unwohl und noch im Bett –«

»Desto besser«, sprach der Schmied von Jüterbog und öffnete sich bereits die nächste, zu den innern Gemächern führende Tür selber und brummte, auf der Schwelle einen Augenblick innehaltend, jedoch letzteres nicht aus Scheu oder Blödigkeit:

»Donnerwetter, wie gemütlich!« –

Wir wissen schon, wie vollkommen er mit diesem Ausrufe recht hatte. Man mußte nicht bloß eine junge Dame aus den besten Ständen oder ihre gnädige Frau Mutter sein, um durchaus empfinden zu können, wie hier geistiges und körperliches Raffinement zur Herstellung des Behaglichsten zusammengewirkt hatten. Auch aus Untermeidling konnte man kommen und aus dem heutigen Tage, dem heutigen Wetter und aus dem Lumpen-, Knochen- und Alten-Eisen-Keller der Frau Wendeline Cruse und mit dem Degen des armen Leutnants Hegewisch unterm Arm, um hier den Frieden, die Stille, die Wärme, das Licht, die Dämmerung und den Hausrat zu würdigen. Das Wetter vor allem mußte man aus den Fenstern und aus der Umgebung des Herrn der Hausgelegenheit, von seinen Teppichen, Sesseln, Tischen, Stühlen und Schränken her betrachten, um zu merken, wie behaglich es – das Wetter nämlich – unter Umständen sein könne.[339]

Mit gedämpfter Melodie verkündete die ebenfalls auf die Nerven ihres Besitzers gestimmte wundervolle Boule-Uhr, was es an der Zeit war, und – seltsamerweise aus der Erinnerung an einen kleinen verwaisten Nähtisch aus Eschenholz in Untermeidling erwachend, ging Peter Uhusen weiter. Und – noch sonderbarerweise – schritt er pfeifend, leise pfeifend vor und rundum im Gemach, entlang den Bildern, Raritäten und Bücherschränken an den Wänden, und immer – mit dem Degen unter dem Arm wie der Bettler beim alten Vater Gellert:

Sie sehn, ich fordere nichts mit Unbescheidenheit; Nein, ich verlasse mich (hier wies er auf den Degen) allein auf Ihre Gütigkeit.

Der Diener des Hofrats blieb ihm selbstverständlich grade darum auf den Fersen, in Verblüfftheit und Ratlosigkeit immerfort den Ärmel um das rechte Faustgelenk auf- und abkrempelnd.

»Hui, i, i, i, uhuii«, summte der Schmied von Jüterbog. »Ganz die selige Mama, nur natürlich ein wenig mehr ins Geschmackvolle und ganz bedeutend ins Wissenschaftliche übertragen.«

Damit öffnete er die Tür, die in das nächste Gemach führte, als ob er den Weg seit Jahren kenne.

»Auch nicht übel«, sagte er. »Der Mensch versteht es wahrhaftig, und es ist eigentlich schade, ihn im Ausleben seiner Lebensbegabungen und Fähigkeiten nur auf den kürzesten Moment zu stören; aber – wer kann da helfen?«

Bei den ersten Worten hatte er vertraulich seinen Begleiter auf die Schulter geklopft, bei den letzten schlug er bereits frech den Vorhang von der nächsten Tür zurück.

»Aha«, nickte er, »hier gelangen wir denn wohl in das innerste Heiligtum. Es weht ein Schauer vom Gewölb herab – hier ist Charakter und Geist und edelster Menschheit Bild – richtig; hier entwickeln sich die Götterkinder. Sieh, sich, und mein braver, ungebildeter Schwartauer Knüppel da auf dem Schreibtisch quer über allem, was die edelste Menschheit zu ihrem Apparat feinster Kulturentwicklung rechnet. Nicht wahr, junger Mensch, hier pflegen der Hofrat ihren geheimsten Studien obzuliegen?«[340]

»Ja, dieses ist des Herrn Studierstube, und daneben liegt er im Schlafzimmer und war vorhin noch sehr der Ruhe bedürftig.«

Es hat sich wohl nur selten auf eine derartige Benachrichtigung hin ein guter Freund so rücksichtslos geräuspert und so kräftig ausgeschnoben, wie das in diesem Augenblick Peter Uhusen aus Lübeck und Untermeidling tat. Es war da unbedingt für jemand ein »gesunder Schnupfen« im Anzuge; und aus dem Gemach nebenan, dessen Pforte gleichfalls geöffnet stand, drang klagend gedämpft wie ein Echo auf den katarrhalischen Losbruch des allzu frühen und sehr gesunden Besuchers eine matte Stimme, die da seufzte:

»Rupfer!«

»Herr Hofrat?«

»Sind Sie verrückt, oder – sind Sie – nicht allein darinnen?«

»Hm.«

»Kommen Sie her, Rupfer! Was fällt Ihnen ein? Ist da jemand bei Ihnen?«

»Jawohl, Alter«, sagte Uhusen mit volltönigstem Nachdruck, gänzlich ohne alle eigenen katarrhalischen Affektionen und trotz einiger mangelnden Gliedmaßen sehr gesund an Leib und Seele und nur behaglich kühl angefeuchtet durch den naßkalten Vorwintertag draußen und durch den Degen des Leutnants Hegewisch unterm Arm etwas mehr als sonst angeregt, in das dumpfwarme Schlafgemach des Jugendgenossen hineinschreitend und durchaus nicht auf der Schwelle zögernd.

»Es war da jemand, Brokenkorb«, sprach er, an das Lager des Hofrats tretend, mit dem ganzen Pathos der Frau Wendeline Cruse. »Und zwar – ich! Einmal bin ich es noch, wenn du nichts dagegen hast, mein Sohn und Zeitgenosse. Peter Uhusen ist mein Name. Unter den Glocken von Sankt Marien in Lübeck bin ich mit dir jung geworden und gewesen. Den Schmied von Jüterbog habt ihr mir seinerzeit aufgehängt. Nun komme ich aus dem alten Eisen, und – freilich – ich habe dich lange nicht aus den Federn geholt!«

Mit einem Ruck saß Albin Brokenkorb im Bette aufrecht und starrte hohläugig auf den im Kampf ums Dasein so arg mitgenommenen[341] und doch so gesund gebliebenen Jugendfreund selber ein ganz anderer Mann sowohl in his night-gown als wie in complete steel, das heißt im Gesellschaftsanzuge. Er starrte, starrte, starrte und sank zurück auf die Kissen mit dem Winsellaut:

»Du – du – Uhusen?«

»Ich – der Sohn meines Vaters!« grinste der schwarze Peter und stieß zur Verstärkung des dramatischen Effekts das Schlachtschwert der Niederlagen von Bau, Fridericia, Idstedt und so weiter vor dem Lager des Freundes so fest durch den türkischen Teppich in den Boden, daß sicherlich drunten bei Kommerzienrats einer der Kronleuchter im Salon in ein längeres Schwanken geriet.

»Du – mein – lieber – Peter?«

»Ja, ich, dein geliebtester Peter! Sie können abtreten, Rupfer – vorausgesetzt, daß du bereits gefrühstückt hast, Albin. Andernfalls würde ich anraten, dir eine Tasse Bouillon, ein Beefsteak oder ein kaltes Huhn und ein Glas Madeira ans Bett bringen zu lassen, ehe – wir weitergehen. Ich habe nämlich dir etwas Unverdauliches mitzuteilen und die Absicht, dich, wenn es irgend möglich ist, vor dem Mittagessen mit mir zu nehmen. Wann pflegst du zu speisen, Brokenkorb?«

»Ganz – der alte!« stammelte der Mann in den Kissen. »Zwischen vier – und fünf Uhr.«

»Wo?«

»Im Hôtel de Rome.«

»Ganz der alte. Immer klassisch. Na, so esse ich diesmal mit dir im Hôtel de Rome. Also – jetzt rasch etwas Stärkendes, Nahrhaftes für den Herrn Hofrat, Rupfer.«

Der Herr Hofrat richtete sich von neuem und jetzt mit flehendbeschwörend erhobenen Händen auf.

»Aber mein Gott, was soll?... Ich brauche nichts Nahrhaftes – nichts Stärkendes. Uhusen – wenn du es wirklich bist, was ich immer noch bezweifle – ich bitte dich – ich fühle mich in der Tat nicht recht wohl – fühle mich wirklich ein wenig angegriffen.«[342]

»Und leider, leider komme ich, dich noch ein wenig fester anzugreifen. Na, ich war immer ein braver Naturarzt, lieber Junge, wie du noch wissen mußt, ob du an meine Methode glaubst oder nicht. Und recht häufig habe ich ziemlich genau gewußt, was dir am besten war, wie du dich erinnern wirst. Aber um jedes Mißverständnis wegzuräumen, so werde ich diesmal geschickt! Alt-Lübeck, dein seliger Vater und deine selige Mutter, mein seliger Vater, die Tante Gottliebe, der Leutnant Hegewisch und – Erdwine Hegewisch schicken mich mit der Zange, Albin; und Sie, lieber Rupfer, sorgen Sie für eine Herz- und Magenstärkung nebenan im Arbeitszimmer oder im Salon unter den mittelalterlichen, den chinesischen oder sonstigen Raritäten, Rupfer. Verstören Sie die Papiere nicht, aber beeilen Sie sich. Bei der Toilette werde ich heute dem Herrn Hofrat behülflich sein.«

Der Herr warf einen verzweiflungsvoll-hülflosen Blick auf den Diener; aber dieser stand schon allzusehr unter dem Bann und Zauber des gewalttätigen Fremden, als daß er seinem Herrn anders als durch ein außergewöhnlich stupides Lächeln hätte zu Hülfe kommen können.

»Du machst mir eine unendliche Freude, Uhusen«, stotterte der Hofrat. »Wir frühstücken natürlich zusammen – sorgen Sie dafür, Rupfer –, und ich bin ganz für den Tag zu deiner Verfügung, Peter. Mir meine Tasse Kakao, Rupfer. In meinem Bibliothekzimmer findest du die neueste Zeitung; wenn du mir nur fünf Minuten Zeit lassen willst, liebster, bester Freund, so bin ich sofort bei dir und selbstverständlich ganz dein mit Leib und Seele. Und ich hoffe, du hast deinen Aufenthalt bei uns nicht zu kurz abgemessen.«

Rupfer grinste noch einmal von der Tür aus zurück, dann hörte man ihn im Studierzimmer sein Vergnügen an dem Dinge in seinem Ärmel verbeißen und dann ein Gemach weiter mit Tellern, Tassen, Gläsern und sonstigem Tischgerät klappern. Herr Schmied aus Jüterbog aber machte noch keine Miene, dem Wunsche seines Freundes nachzukommen und sich für die nächsten »fünf Minuten« zu der neuesten Tageszeitung zurückzuziehen. Im Gegenteil, er nahm Platz in dem Sessel am Fußende des Bettes[343] seines Freundes. Er setzte sich fest hin, stellte den Degen des Leutnants Hegewisch zwischen die Knie und stützte beide Hände und das Kinn auf den Griff und besah unheimlich lange Zeit hindurch den Freund noch genauer, und zwar stumm.

Der Hofrat lächelte, wie man so unter Umständen oder unter solchen Umständen zu lächeln pflegt; – im Wartezimmer der Zahnärzte pflegt so gelächelt zu werden.

»Du gefällst mir nicht, Brokenkorb!« seufzte der lange Peter. »Offen gestanden, Albin, du gefällst mir ganz und gar nicht; oder vielmehr, du entsprichst meinen Erwartungen nur zu sehr. Ich lese von dir, ich höre von dir, und ich schüttle das Haupt und frage mich: Wie muß ein Mensch, der das alles zusammen- und den Leuten vorträgt, zuletzt aussehen?«

Halb geschmeichelt und halb erzürnt und jedenfalls in immer noch steigender Aufregung, erhob sich der Hofrat auf den Ellbogen.

»Aber auch du, Peter, bist nicht mehr der nämliche wie vor als ich zum letztenmal das Vergnügen hatte, mit dir zusammen zu sein. Gütiger Himmel, was hast denn du mit dir angefangen, außerdem, daß auch du nicht jünger im Laufe der Jahre geworden bist?«

»Gefreit habe ich und dabei das halbe Gesicht, ein Stück von der Nase und eine halbe Faust verloren. Meine Frau habe ich begraben; aber beruhige dich, oder besser, beunruhige dich deshalb nicht im geringsten. Das geht dich durchaus nichts an. Davon hätten wir vielleicht geplaudert, wenn dich gestern abend meine Visitenkarte zu Hause getroffen haben werde. Nicht wahr, du hast auch schon einen Vortrag über ›Zwischen Lipp' und Kelchesrand‹ gehalten, Brokenkorb? Uns, uns, Albin, alter Freund, ist etwas dazwischengekommen! Ein Stück altes Eisen aus dem Kehricht des Lebens! Und da die Zeit drängt, wollen wir über alles übrige unterwegs reden. Da!... Wie ich beim Durchgehen durch deine Zimmer bemerkt habe, sammelst du auch kuriose Waffenstücke. Da! Und vielleicht ist das Ding käuflich. Das wäre etwas für dich ganz im besonderen! In den Handel ist es wenigstens bereits geraten.«[344]

Er hatte dem wehrlosen armen Ästhetiker die gute Klinge des Leutnants Hegewisch auf die Bettdecke gelegt und ging und zog die stilgerechten Fenstervorhänge zurück, um das volle Tageslicht, so gut es der gegenwärtige Herbsttag zu geben hatte, auf den Jugendfreund und die Jugenderinnerung fallen zu lassen.

»Ich verstehe dich wirklich nicht«, seufzte der beliebte Gelehrte in das Kissen. »Ein bißchen weniger rätselhaft wäre freundschaftlicher, liebster Uhusen. Was soll das? Ein Offiziersdegen modernster Zeit! Was soll mir das sagen? Was willst du im besonderen mir damit sagen, bester Freund?«

Nun hatte er sich mit der Waffe gegen das heller in das Gemach strömende Tageslicht gewendet, und das scharfe Auge des sachverständigen Liebhabers fiel auf die eingegrabenen Schriftzeichen.

»Wie?... Mein Gott, woher hast du das? Wie kommt das in deine Hände?«

Der schwarze Peter zuckte nur die Achseln.

»Fridericia – Bau – Kolding! Hegewisch!« murmelte Hofrat Dr. Brokenkorb. »Der Leutnant Hegewisch!... Erdwine – Erdwine Hegewisch!«

»Wie das eigentlich in meine Hände kommt, was es uns heute will und bedeutet, weiß ich augenblicklich auch noch nicht recht anzugeben«, sagte Schmied aus Jüterbog ruhig. »Jedenfalls halte ich es für einen Wink des Schicksals an dich, wenigstens noch einmal aus der Welt deiner Ideale in die Hosen zu fahren. Und jetzt mache ich von deinem freundlichen Anerbieten Gebrauch und lese nebenan die Zeitung, während du Toilette machst. Ich schicke deinen Rupfer und deinen Kakao. Ich selber habe bereits gefrühstückt und bin zu allem, was der Tag bringen mag, mit dem, was das Leben von mir übriggelassen hat, aufgelegt und bereit. Beiläufig, von einer Frau Wendeline Cruse, ihrem Aufenthalt und ihrem Produktenkeller in hiesiger Stadt ist dir wohl nichts in die Erfahrung geraten?«[345]

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 335-346.
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