Neuntes Kapitel

[321] Der lange Peter trat fehltretend von den Stufen der Kellertreppe, die er des bessern Lichtes wegen bestiegen hatte, herab in das Dunkel des Gewölbes. Er faßte, die Waffe des ersten schleswig-holsteinschen Freiheitskrieges mit dem Rest der verstümmelten Hand haltend, mit der gesunden den Arm der Freundin, und zwar nicht bloß, um sich im Stolpern auf den Füßen zu erhalten.

»Jetzt sagen Sie, woher Sie das Ding haben, alte Zauberin! In welche Wunderhöhle bin ich geraten? In was für ein Traum- und Märchendüster soll ich noch versinken? Ich bin nicht nach Lübeck gegangen aus Furcht vor aller vorweltlichen Süßlichkeit und Verdrießlichkeit, und da – hier kommt Lübeck zu mir, und wieder einmal könnte der zweite Betrug ärger werden denn der erste. Wie gerät dieser tragikomische oder vielmehr komisch-tragische Säbel jetzt zu mir und meinem Stock, und zwar bei dieser schon so wundervollen Zufallsbegegnung?«

»Wissen Sie gewiß, Freund, daß das nur eine Zufallsbegegnung war? Ich wußte wohl, wie das Sie in die Höhe jagen würde, obgleich mir selbst der Name auf diesem Stück alten Eisen natürlich nur eine dunkle, undeutliche Erinnerung ist. Jaja, Schmied aus Jüterbog, wie machen es die Toten, um noch einmal ein Wort im Verkehr der Lebenden mitsprechen zu können? Ich habe Sie jungen Narren nicht umsonst auf meines Mannes Bühne als Meerkater zu Gast gehabt und habe nicht umsonst als Gast der Soireen der Frau Senator Brokenkorb ›Heraus in eure Schatten, rege Wipfel!‹ rezitiert. Hegewisch? Ich hatte eben mit Mühe mit meinen alten Augen den Namen auf der Klinge entziffert und[321] mich gefragt: ›Ist dir nicht einmal ein Träger solches Namens über den Weg gelaufen?‹, als Sie die Gasse herunter kamen. Das Kind, der Junge, der diesen guten Degen für eine Düte Sargnägel bei mir, unter dem alten Eisen der alten Wendeline Cruse, zum Pfand lassen wollte –«

»Das Kind? Der Junge? Was für ein Junge? – Um Gottes willen!«

»Nun, ein Knirps von ungefähr zwölf Jahren. Einer von der Art, wie ich sie alle Tage vor meiner Tür am Schopf oder am Ohr zu nehmen habe, um mir die notdürftigste Ruhe und einige Sicherheit vor dem Pfeifen, Zischen und Werfen mit faulen Eiern zu verschaffen. An dieses Publikum vor den Lampen habe ich wohl nicht gedacht, als ich, meiner armen Eltern Kind, in das Ideal durchging; aber das Schicksal lehrte es uns, auch mit ihm den Kampf weiterzuführen. Am Fuße der Leiter, Uhusen! Im alten Eisen, Schmied von Jüterbog! Der Gasse da draußen dann und wann eine zu gute Komödie, eine fast ans Tragische streifende Komödie, mein tapferer Kamerad aus dem Sklavenkrieg ums Dasein! Meinen Sie nicht?«

»Geht sie nicht gutwillig, nehme ich sie mit Gewalt mit nach Untermeidling«, murmelte Peter Uhusen; doch das andere Interesse überwog augenblicklich zu sehr. Mit vor Aufregung zitternder Stimme rief er:

»Der Junge? Der Junge mit dem Degen des Leutnants Hegewisch, Mama, liebste, beste, tapferste alte Mama?!«

»Jawohl. So dachte ich natürlich zuerst, das ist auch einer aus deiner jetzigen Nachbarschaft im Erdenkriege, und nahm ihn also schon auf der Treppe am Kragen und führte ihn mit mir herunter, wie ich so manche andere, junge und alte – als ich noch meine jungen Locken schüttelte – mit hinter die Kulissen genommen habe, um ihnen meinen und ihren Standpunkt klarzumachen. Wie ich auch euch, Sie Hansnarr, und Ihren Freund, den großen Herrn Hofrat Brokenkorb, kurz euch beide dummen Jungen aus dem Gassenpublikum, hinter dem Vorhang gehabt habe zu einem vernünftigen Zwiegespräch.«

»Ich bitte Sie um alles in der Welt, lassen Sie jetzt den großen[322] Brokenkorb und den abgeschmackten, lächerlichen Knieschlotterer Uhusen!« murmelte der Schmied aus Jüterbog.

»Sie gehören doch wohl dazu«, sagte Frau Wendeline. »Ich hatte da im Hintergrund des trüben Morgens wegen beim Lumpensortieren mein Lämpchen noch brennen; und bei dessen Schein sieht mich der Junge an und sagt: ›Ich habe keinen Unsinn im Kopfe; ich möchte nur für einen Groschen Nägel, aber ich habe auch kein Geld.‹ – ›Und das soll kein Unsinn sein, du Schlingel?‹ meine ich und schüttele das arme Geschöpf weiter. ›Euch kenne ich! Ein Nagel zu meinem Sarge möchte jeder von euch werden. Es steht wohl deutlich genug draußen geschrieben, daß hier nur mit altem Eisen gehandelt wird.‹ – ›So geben Sie mir den Groschen hier für meines Großvaters Offiziersdegen, und wenn Sie ihn mir aufheben können, bis ich ihn wieder abholen kann, so sollen Sie, so sollen‹ – ich lasse jetzt das Schütteln und ziehe das Kind näher an die Lampe: ›Was soll, was soll ich dann?‹ – ›Mir die Erste und Liebste auf Erden sein; aber ich habe nichts mehr weiter auf der Erde als den Degen hier, und ich brauche für einen Groschen Nägel!‹ – ›Wozu? Für wen?‹ – ›Für meine Mutter.‹ – ›Und deine Mutter schickt dich?‹ – ›Nein, meine Mutter ist tot, und sie haben uns den Sarg geschickt, aber die Nägel vergessen; und ich bin der letzte Erbe, und der Degen ist nicht gestohlen, und ich habe Sie niemals mit geneckt, Madam, und wenn Sie mir ihn aufheben wollten, so würde ich ihn wiederholen und das Geld zurückbringen, sobald ich kann.‹«

»Und Sie fragten den Knaben nach seinem Namen, nach der Wohnung seiner Mutter?« rief Peter Uhusen; aber die alte Komödienmutter ließ sich in ihrer Weise der Darstellung nicht irren. Sie erzählte gut, und das Ding lebte in jedem ihrer Worte, in jeder ihrer Handbewegungen und sonstigen Gebärden.

»›Ich würde das Geld wiederbringen, sobald ich es habe‹, sagte der Junge, ›und wenn Sie dazu einen Groschen für Milch für meine kleine Schwester und für Brot für uns beide leihen wollten, so wollte ich mich schön bedanken und, wenn Sie mich nach der Schule wozu brauchen können, es gern abverdienen hier im Keller.‹«[323]

»Der Name – die Wohnung des Knaben – der Frau – der Kinder!« rief Uhusen, mit dem Fuße aufstampfend, in zitternder Faust das in so seltsamer Weise ihm in den Pfad geworfene Memento seiner Jugendzeit, dies wundervolle Erinnerungszeichen der besten, sonnigsten, phantasienreichsten Tage seiner Kindheit und Jugend.

»Schulzenstraße Numero zehn – fünf Treppen hoch. Nur Ruhe, Schmied aus Jüterbog! Ja, der Name, der Name? Ob sich wohl Ihr Freund Albin mit Hülfe Ihrer Visitenkarte des Namens Erdwine Hegewisch wieder erinnert hat? O ihr Mondscheinnächte von Travemünde, ihr Segelfahrten mit Zither und Waldhorn auf der Lübischen Bucht. Jaja, Herr Schmied aus Jüterbog, der Erde Lust, Zierlichkeit, Lieblichkeit, Glanz und Fülle mag noch in grimmigerer Dunkelheit zu Ende kommen als wie hier in meiner Versenkung, im düstern Keller, im alten Eisen, unter den Knochen, abgetragenen Kleidern, Lumpen, Lappen, und was man sonst so Abfälle des Lebens zu nennen pflegt.«

Dem Firmainhaber von Hausrucker und Kompanie in Untermeidling war es zumute – nicht wie am stillen Sterbebette seines Weibes, sondern wie im ärgsten Lärm einer seiner amerikanischen Schlachten, oder noch besser wie damals, als ihm seines Schwieger Vaters Laboratorium um die Ohren flog und ihm das halbe Gesicht und das beste Stück von der einen Faust an die Wände und gegen die Decke mitnahm. Es waren aber auch nicht des Daseins Mondscheinnächte, wie sie ihm Frau Wendeline in die Erinnerung zurückrufen wollte: es war der Sonnenschein über den Nachbargärten, die grüne, lebendige Hecke, die dieselben voneinander schied, welche in dieser Stunde, in diesem Augenblicke die alte Waffe in seiner Hand gespenstisch vor ihm aus dem Dunkel aufsteigen ließ. Es ging ein Leuchten von der Klinge aus – das Blitzen, wie es in einer Gewitternacht den fernsten Horizont zeigen kann.

»Da lag die Welt einst in der Sonne!« sagt dann der Wanderer auf der Landstraße, der Schiffer auf hohem Meer, der Fahrgast im Eisenbahnzuge oder der Mann und die Frau, die einsam um Mitternacht die Stirn an die Fensterscheibe drücken und nur die[324] regentriefende Gasse, das spiegelnde Pflaster im Laternenschein und den dunkeln Himmel über den Dächern zur Aussicht haben. Der starke, gute Mann in dem trostlosen Alterszufluchtsort der starken, guten, weisen Frau, der großen Frau Wendeline Cruse, murmelte:

»Dies träume ich, oder es hat mich jemand am Kragen von Wien her in diese jetzige Stunde hinein vor sich her geschoben! Madam, ich wiederhole es Ihnen, ich habe gestern abend meinen Stock bei meinem Freunde Albin als Visitenkarte abgegeben!«

»Und ich will Ihnen helfen, durch den heutigen Tag zu kommen, Uhusen, und ihn wo möglich zu einem guten Ende zu bringen. Gehen Sie bei Ihrem Freunde, unserm Herrn Hofrat, nach Ihrem Stock jetzt den Degen des Leutnants Hegewisch ab. Nehmen Sie eine Droschke, holen Sie den Mann, wo möglich in aller Güte, möglichst rasch hierher zu mir. Das beste wird freilich sein, wir drei alten guten Bekannten gehen zusammen zu den Kindern der schönen Erdwine Hegewisch, eurer Prinzessin aus Traumland. Jaja, wir stehen unter einer seltsamen Regie, Freund Schmied aus Jüterbog, alias Peter Uhusen aus Lübeck. Und dieser Direktion gegenüber ist noch niemand kontraktbrüchig geworden.«

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 321-325.
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