|
[305] »Großer Gott!« rief Frau Wendeline Cruse mit dem tiefsten Mitgefühl auf dem wetterfesten, wahrlich nicht häßlichen Altweibergesicht. »Bei uns geblieben der Gelehrte, der Kriegsmann und auch das Stück Hofmann, das in ihm steckte, in ihm, dem[305] Schmied aus Jüterbog, der zu der Direktorin Cruse kam, weil sie ihn sonst nirgends in der Welt zu irgend etwas hatten gebrauchen können! Guter Gott, wie gut er seine Rolle begreift!«
»So ist es!« sprach Peter Uhusen. »Der Junge, der vor Ihren Lampen im Lübecker Stadttheater nur zu oft den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen weg verlor, der desertierte Kriegsknecht, den Sie als Herrn Schmied aus Jüterbog in Celle und auf dem Hamburger Berg unter Ihre Fittiche nahmen, der Dichter der Blankeneser Seeräuber, der Dramaturg, Regisseur, Inspizient von Mrs. Robinson Crusoes vereinigtem Drurylane- und Globetheater auf Brooklyn, sie sind sämtlich beim Handwerk geblieben, sind ganz im besondern bei Ihnen, in Ihrer Welt geblieben, Sie alte wundervolle Mutter Cruse! Wir spielen unsere Rollen gut und lassen den Pöbel nicht in unsere persönlichen Gefühls- und Privatangelegenheiten. Wir wissen unsere Gesichter zu schneiden.«
»Hören Sie, Schmied«, sagte die alte Dame in Rührung, Ratlosigkeit und stolzer Genugtuung, »es ist ein frostiger Morgen; wir wollen näher an den Ofen rücken, und ich will Ihnen ein Glas Wein zu trinken geben, als säßen wir wieder zu Sankt Pauli hinter der Kulisse.«
»Und uns einbilden, das Kind in Untermeidling, die Emerenz, sitze derweilen noch bei ihrer Papparbeit und sei fest versichert, daß ihr Peter ihr nur deshalb in die winterliche, graue nordische Fremde durchgebrannt sei, um im nächsten Sommer jede Praterkonkurrenz durch wissenschaftlichen Verkehr mit den höchsten pyrotechnischen Autoritäten der norddeutschen Brüderschaft gründlichst zu ruinieren!« sagte seufzend der Mann, der gestern abend seinem Jugendfreunde sein Wahrzeichen dagelassen hatte.
»Hätte ich ihr müdes Köpfchen im Schoße gehalten, ich könnte nicht mehr von ihr wissen, als ich jetzt schon von ihr weiß«, murmelte die Frau Wendeline, in der dunkelsten Tiefe ihrer Geschäftshöhle, in dem unheimlichsten Winkel allerlei fragliche Handelsartikel aus dem Wege räumend und nachher mit einem[306] Schlüsselbund an einem Schranke rasselnd. Und dann kam sie mit einer Flasche wirklich echten alten spanischen Weines und zwei seltenen venezianischen Flügelgläsern zurück und sagte:
»Es ist die Meinung der Welt, daß wir am Fuße der Leiter uns alle dem Trunk ergeben, Uhusen. Aber wie Sie sehen, Schmied von Jüterbog, habe ich auch dies unabwendbare Schicksal nach Möglichkeit veridealisiert. Es ist nicht das erstemal, daß wir so mit dem Glase auf dem Knie hinter dem Spiegel, hinter der Kulisse hocken und von der Menschen Illusionen jenseits der Lampen und des Vorhangs plaudern. Also verheiratet haben Sie sich, Kind? Und am Zehnten vorigen Monats ist Ihre Frau gestorben. Wie ein anderer, ein Großer oder Größester aus Ismael, haben Sie auch den Versuch gemacht, es so gut haben zu wollen wie andere. Wo könnten Sie Ihr Herz besser ausschütten als hier bei uns im alten Eisen?«
»Vortrefflich!« murmelte Peter. »Mit Vergnügen, Mama Cruse, aber – wissen Sie wohl, daß Sie mich im Laufe unserer Bekanntschaft eigentlich recht oft und genau ausgeholt haben, daß Sie im Grunde längst von mir mehr wissen als ich von Ihnen? Wir haben uns nun lange nicht gesehen, und ich finde Sie, wie Sie selber, gottlob gelassen, sagen, am Fuße der Leiter, im alten Eisen: wie wär's, wenn Sie zum erstenmal mir wirklich von sich selber sprächen, ehe ich Ihnen eingehenderen Bericht, nicht noch einmal von mir, sondern diesmal von meiner Frau gebe?«
»Eine Sache, die in drei Worten abgemacht werden kann und an der ich bis an meines Lebens Ende wiederkäuen könnte«, murmelte die alte Dame. »Wären Sie bei den schreibenden Ständen geblieben, Uhusen, so würde ich Ihnen heute vielleicht den Vorschlag machen, meine Memoiren zu redigieren. Da sitzt noch ein früherer Bekannter von uns hier in der Stadt – ein feiner Mann, ein berühmter Mensch und trotz aller Vielbeschäftigung ein Mann ohne Zweck und Ziel. Den Herrn Hofrat Brokenkorb meine ich –«
»Und ich war eben auf dem Wege zu ihm, als Sie vor der Treppe da mich anhielten.«
»Sieh, sieh! So kehrt das Schicksal seine Haufen zusammen,[307] wenn es ihm Zeit scheint. Nun machen Sie für mich ihm meinen Vorschlag, und fordern Sie ihn auf, mich bei Gelegenheit auch wieder einmal zu besuchen und wie Sie alte lübische Jugenderinnerungen von neuem aufzufrischen.«
»Mit Vergnügen, gnädige Frau! Aber nun für mich zu den drei Worten über Ihre Lebensläufe in auf- und absteigender Richtung. Sie wußten Ihre Leute sehen vor und hinter dem Vorhang auszufragen. Mich selber haben Sie allewege wie einen Handschuh um und um gewendet; aber Sie selber blieben uns stets die große Unbekannte. Da bin ich nie auf die Kosten meiner Verehrung für Sie gekommen oder, wenn Sie lieber wollen – meiner Neugier. Und ich habe doch nach Möglichkeit in Lübeck, in Sankt Pauli, in Celle und in Brooklyn in das Gewölk geblasen und an Ihrem Schleier gezupft.«
Das Wort »gnädige Frau« klang wohl ein wenig sonderbar an diesem Orte; aber als die wunderliche Althändlerin jetzt sich aufrichtete, das Haupt hob und mit der Hand den Gast zum Sitzenbleiben nötigte, hätte jedermann sagen müssen, daß es vollkommen auch in diese Höhle gehöre, da die passende Trägerin dazu vorhanden war. Ruhig und gelassen, als ob sie etwas ganz Selbstverständliches erzähle, sagte sie: »Sie haben recht, Uhusen. Man soll sich, wenn es Zeit wird, einen ehrlichen Gesellen und keinen Narren aussuchen, dem man das Konzept zu seiner Grabrede läßt. Ich bin die Tochter meiner Eltern. Mein Vater war der Sohn eines rheinischen Regierungsrats und lief ohne Talent zur Bühne. Meiner Mutter Lieblingsbuch war ›Goethes Briefwechsel mit einem Kinde‹, und sie war die Tochter eines Bonner Professors der Mathematik und eine Dichterin, die im geheimen Tragödien schrieb und einen Schauspielerroman veröffentlicht hatte. Sie fanden sich zusammen, wie Vögel von denselben Federn sich zusammenzufinden pflegen. Und zu meinem Glück! Denn jedes hat mir von sich das Beste gegeben an Intellekt und Temperament; – es lebe die Unverwüstlichkeit der Menschheit, Peter Uhusen! – Sie hatten eine Erbschaft getan oder in der Lotterie gewonnen oder einen vermöglichen Narren aus den erwerbenden Ständen zu sich herübergezogen – was[308] weiß ich –, sie hatten, was ich sicher weiß, eben mich auf den Hals bekommen, als sie zu Gelde kamen. Wie aus einer Theaterversenkung bin ich, ein nacktes Kind, auf dem Sturmwind reitend, in die Luft und ins Leben geworfen, und zwar unter der Regie von Papa und Mama – auf ihrer eigenen Bühne in einer schwäbischen Provinzialstadt. Nach Marbach haben sie mich zur Taufe gebracht –«
»Wie sie mit dem frommen Kind Eulenspiegel von Kneitlingen nach Ampleben gingen«, brummte der schwarze Peter, aber:
»Nein!« rief nachdrucksvoll, und die Hand im vollen Pathos erhebend, Mutter Cruse. »Nein! ... wie närrische Leute, die nicht wissen, was sie tun, aber bis in die letzte Lebensfiber hinein die Überzeugung haben, daß sie auf dem rechten Wege sind und Pharisäer, Schriftgelehrte und Philister schwatzen und die Nasen rümpfen lassen können! Wollen Sie mich noch weiter hören, Herr Schmied aus Jüterbog?«
»Ich bitte um Verzeihung, daß ich unterbrach, schöne Frau«, sagte recht kleinlaut Peter Uhusen.
»Die armen Kinder«, seufzte die alte Frau, den Kopf schüttelnd; und es klang recht wunderlich, sie über ihre Eltern als arme Kinder seufzen zu hören. »Sie hatten für alles Hübsche und Schöne, für alles, was glänzt und wohl duftet und fein klingt und zum Lachen und zum Weinen reizt, Sinn und Verständnis. Ach nur zu viel Sinn, wenn vielleicht auch nicht im gleichen Maße Verständnis! Mama zog ihre Schleppen nicht nur über ihre Bühne, sondern auch durch ihren Salon. Wir hatten einen Salon – im ersten Stock, im zweiten – im dritten. In einem vierten Stockwerk hörte dies Vergnügen auf in einer Mittelstadt in Mitteldeutschland, grad als ich ungefähr sechzehn Jahre alt geworden war. Schmied von Jüterbog, in jenem Lebensalter bin ich schon die Vormünderin meiner Eltern gewesen und habe ihr Lachen und Weinen, ihr Kinderlachen und Kinderweinen, zu Ruhe sprechen müssen mit Vernunft und Verstand. Und die Geschäfte mit dem Pfandhause habe ich ganz geschickt besorgt. Die Hausfreunde, die in jenen Jahren mir persönlich dabei mit ihrem Geldbeutel und mit ihrer Lebenserfahrung unter die Arme greifen[309] wollten, die warf die Tochter meiner Mutter am besten vor die Tür und verriegelte dieselbe fest hinter ihnen. Nun, Sie kennen das ja, alter Freund.«
»Damals noch nicht. Polierte in jenen holden Tagen noch die Schulbänke im Lübecker Katharinenkloster, in Gesellschaft mit Freund Brokenkorb«, brummte Peter Uhusen.
»Und schwärmte verstohlen von der obersten Galerie herunter für die junge, hübsche Madame Cruse, die erste Liebhaberin und Frau Direktorin, he? Jaja, Gott hab ihn selig, meinen guten alten Vater Cruse. Ich sehe noch heute sein Grinsen, mit welchem er Sie, in sein Meerkaterfell eingenäht, mir als meinen glühendsten Verehrer vorstellte. Mein alter, lieber Vormund, Vater und Gatte! Er hatte mich auf den Armen getragen, und er trug mich nach Papas und Mamas Tode auf den Händen. Er bezahlte ihnen die Särge, und ich bin ihm eine gute kleine Frau gewesen und habe es ihm in dieser läppischen Narrenwelt wahrlich nicht durch Dummheiten quittiert-«
»Sie sollen leben, teure Frau!« rief Uhusen, doch die alte Freundin wehrte ab, und zwar wiederum mit einer bezeichnenden Handbewegung. Der alte Bekannte stellte sein venedisch Glas denn auch neben sich auf den schwarzen, schmutzigen Boden und küßte nur seiner vornehmsten, wenn auch nicht liebsten weiblichen Bekanntschaft im Leben die Hand. Das war wahrlich schicklicher so, und die Herrin im alten Eisen ließ es sich denn auch gefallen und gab weiter Bericht von sich, ohne sich zu überheben.
»Welch eine wundervolle Kinderzeit habe ich bei meinen Eltern und ihrem genauesten Umgang gehabt. Im plattierten Glanz unserer Jubeljahre und beim Lichtstümpchen in der Dachstube. Die zwei lächerlichen Krabben sind mit ihren Idealen im Herzen und hochtönenden Worten auf der Zunge gestorben, und ich – ich bin ihre rechte Tochter gewesen und bin es gottlob geblieben bis hierherunter zu den Lumpen und ins alte Eisen. Und mein greisköpfiger Hanswurst von Mann! Mein melancholischer Komikus Papa Cruse! Er hatte natürlich wie wir alle seinen Beruf verfehlt, und so kam er, zeigte uns nach abgelegtem Pachter Feldkümmel,[310] wie der König Lear auf der Heide rase und der General Wallenstein den Max mit seinen Pappenheimern abziehen lasse. O Uhusen, wie groß waren Papa, Mama und unser Freund Cruse unter sich allein, und wie wenig spielten wir Komödie, wenn wir unter uns allein waren, so nach Mitternacht, wenn alles, was Komödiant und Philister zu gleicher Zeit ist, zu Bett war!... Und er war doch ein guter Geschäftsmann, mein lieber Alter. Ich kam zu ihm wie Fitchers Vogel im Kindermärchen, nackt in einem Fischnetze, nicht gefahren und nicht gegangen. Ich habe es gut bei ihm gehabt, solange er lebte, und in seinem Sinne habe ich nach seinem Tode ein tapferes und vergnügtes Leben weiterführen können. Als Sie auf dem Hamburger Berg zu mir kamen als Herr Schmied aus Jüterbog, da stand ich schon seit Jahren in seinen Schuhen, und Sie wissen, wie ich lag und wie ich meine Klinge führte als Frau Direktor Cruse, als Mrs. Crusoe, als Mutter Robinson, auf beiden Hemisphären fest im Sattel.«
»Jedwedem armseligen Lebenskomödiantengesindel vor und hinter dem Vorhang doppelt und dreifach gewachsen!« rief der schwarze Peter, in heller Begeisterung lachend und mit einer Träne in seinem einzigen Auge.
»Ich hatte es ihm – meinem seligen Mann versprochen, mich wacker zu halten«, sagte die alte Dame, nachdenklich den Kopf wiegend, ohne viel auf den Enthusiasmus ihres gegenwärtigen Gastes zu achten. »Ich höre ihn noch in seiner letzten Stunde auf dem Gasthausbett: ›Lütt Dirn, denke immer dran, daß du es gewesen bist, die einen grauköpfigen Hanswurst am Hängen gehindert hat! Kleine Frau, lieb Kind, tue mir den einzigen Gefallen und kümmere dich um nichts, aber horche auf alles und sieh um dich wie der Vogel auf dem Zweige: für einen Menschen, der um sich her in der Welt Achtung gibt, kann immer noch was zwischen den Nagel an der Wand und den Strick in der Hand kommen.‹ – Nachher lachte er noch einmal so, wie er lachte, wenn man ihm als großem Komiker eine Liebenswürdigkeit sagte, und sah mich mit Augen an, die ich niemals vergesse, und dann – ab! Und ich mit seiner krampfigen Hand um mein Handgelenk – allein im Geschäft. Ja, lieber Schmied aus Jüterbog,[311] bis dato ist mir immer noch was zwischen den Nagel und den Strick gekommen, und mit der Lebensverdienstmedaille unterm Hemde und unter der Haut sitzt die Mutter Cruse – glücklich unten angekommen, am Fuß der Leiter im alten Eisen. Und nun erzählen Sie mir von Ihrem jungen Weibe in Sicherheit und im Frieden zu Untermeidling.«
Ausgewählte Ausgaben von
Im alten Eisen
|
Buchempfehlung
Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro