Zweites Kapitel

[269] In der Nacht nun von Montag auf den Dienstag waren in einem höchst anständigen bürgerlichen Hause viele Leute beieinander, das heißt, es war große Gesellschaft dort. Ihren jour fixe nannte die Hausfrau den abendlichen Zusammenlauf und war nicht ohne Grund stolz darauf; denn es kam viel Volk zu ihr, Männlein und Fräulein, paarweise und auch einzeln, zumeist auserlesene, und zwar zum Zweck auserlesene Leute, die sich meistens wenig zum Volk, noch weniger zu den Leuten, aber sehr beträchtlich zur Welt rechneten. Wie könnte in der letzteren Beziehung die ausgiebigste Märchenphantasie dahin nachsteigen, wohin gerade der phantasiefreieste, der solideste, vernünftigste, verständigste Teil der Erdenbürger und Erdenbürgerinnen in seinen Einbildungen von seinem Verhältnis zu dem Volk und zu den Leuten und – der Welt sich verklettern kann!

Es war in einer hochachtbaren Geschäftsgegend der Stadt, wo[269] Gastgeber und Gastgeberin sich höher als gewöhnlich und diesmal ins Ästhetische verklettert hatten und die Gäste natürlich zum größten Teil – danach waren.

Die Straßen sind dort noch breit und ungemein reinlich. Es können die nobelsten Menschen in den er sten Stockwerken der Häuser da wohnen und Gesellschaften geben, in denen man sich sehen und hören lassen kann. Der bürgerliche Lebensbetrieb ist hier in dieser Hinsicht noch nicht hinderlich und verhindert vor allen Dingen noch durchaus nicht das Vorfahren in »eigener Equipage«. Letzteres freilich ist das Hauptargument fürs »Wohnenbleiben«, das dem Herrn der augenblicklich so glänzend erleuchteten und gefüllten Salons im ersten Stock über Runne & Plate seiner und ihrer Herrin gegenüber zur Verfügung steht. Ohne es würde man doch wohl schon längst in noch anständigerer Gegend die Leute aus seiner Gesellschaftssphäre bei sich sehen und nicht über den Geschäftsstuben und Familienwohnräumen der zwar sehr bekannten, sehr ehrbaren und soliden, aber durchaus nicht geist- und geldaristokratischen Firma Runne & Plate.

Gottlob, das Haus hat außer seinem Geschäftstor für das Volk, die Leute und den Werkeltagslebensverkehr auch seine stattliche Privatpforte für – uns! Wir aber, wo blieben wir mit unserem Beruf auf Erden, wenn wir uns nicht das Recht nähmen, ungeladen durch alle Türen einzugehen und uns ungerufen überall einzufinden, bei dem Volk, bei den Leuten und bei uns? Und zwar nicht bloß beim Feste!

Und was würde dabei zutage kommen, wenn wir es nicht verstünden, unsere Zeit abzupassen und stets im richtigen Augenblick mit da zu sein?

Nichts von Bedeutung selbstverständlich. –

Wenn wir nun diesmal ungeladen, ungesehen, unbelauscht von unserem Rechte Gebrauch machen, befindet sich die »Soiree« auf ihrem Höhepunkt und Hofrat Dr. Brokenkorb, einer der geladenen Gäste – und zwar aus dem Hause selbst –, in denkbar kläglichster Laune und flauester Stimmung inmitten des Glanzes und der Fülle, der feinfühligsten Freundlichkeiten der Hausfrau,[270] der achtungsvollen Zutunlichkeiten des Kommenzienrates und der schmeichelhaften Liebenswürdigkeiten der Töchter des Hauses. Er, der sonst unter diesen Lichtern und Tönen, bei diesem Fächerrauschen und diesen Redensarten, im Fließen dieser Genüsse aus allen Künsten und im sanften Geflüster aus mehr als einer Wissenschaft heraus ganz an seiner Stelle und eine Zierde unter uns ist, hat an diesem Abend genug von sich und also auch von der Gesellschaft, von – uns. Er fühlt sich nicht bei sich heute abend und schiebt es auf ein körperliches Unwohlsein, worin er sich irrt. Er fühlt sich niedergedrückt, gelangweilt und eigentlich recht überflüssig, nicht bloß in den Kissen seiner Causeuse, unter den Fächerpalmen des Salongartens, sondern auch ein wenig sonst. Und das letztere ist uns besonders erwünscht. Haben wir uns doch nur deshalb ungeladen, ungesehen, unbelauscht bei uns eingefunden, um den Herrn abzuholen und mit ihm innerhalb seiner eigenen vier Wände, eine Treppe hoch über der gegenwärtigen Lust und Unlust am Dasein, noch eine stille Stunde zuzubringen. Ob wir ihn noch einmal so wie jetzt in tadelloser Gesellschaftstoilette finden werden, ist zum mindesten zweifelhaft. Benutzen wir also die günstige Gelegenheit und reden ein wenig von den Äußerlichkeiten seiner Existenz. Die Samtrobe und das Fächergeknarr seiner Nachbarin im Diwan und ihr schmeichelhaftes Dreinreden sind uns durchaus nicht hinderlich dabei.

Er bekommt viele Komplimente, nicht bloß von der gnädigen Frau und Hausherrin, sondern auch von vielen andern Damen der Gesellschaft, jungen und alten, zu hören. Sagen wir ihm gleichfalls einige; er hat, wie man das nennt, Sinn dafür.

Wie man das nennt, ist Hofrat Dr. Albin Brokenkorb ein schöner Mann. Ein schöner Mann in den besten Jahren, so um die Vierzig herum; zwar mit etwas hoher Stirn und auch sonst gelichtetem Haupthaar, aber mit einem weichlockigen blonden Vollbart und blauen, weichblickenden Augen, deren Aufschlag oder Aufgeschlagenwerden vorzüglich etwas Sympathisches haben soll, wie von Autoritäten holdester Kompetenz häufig versichert wird! Mit knarrenden Stiefeln ist seine Erscheinung nimmer in Verbindung zu bringen; er tritt auf, wie er redet, und die[271] Lider hebt und senkt er nicht geräuschloser, um seinen Reden an der rechten Stelle den herzfesselnden Nachdruck zu geben. Er redet leise, oder vielmehr gedämpft, doch er kann sonor reden und tut es, wo er sich Erfolg davon verspricht; und gestern abend hat er im Saal der Singakademie einen Vortrag über das Schwert und die Myrte in der Weltliteratur gehalten, und er hat die tiefsten Fasern der Empfindung mit dem letzteren Gewächs aus der Tiefe seiner Seele symbolisch aufgezogen. Morgen wird er (wenn nichts dazwischenkommt) über dasselbe Thema in Potsdam vor dem gewähltesten Publikum reden, und er glaubt an seinen Beruf, die besten Stände zu sich emporzuheben: er ist wirklich gar kein übler Mensch. Daß er es böse mit sich und seinem geselligen Kreise meine, hat ihm noch niemand nachgesagt, und, wahrhaftig, wir tun's auch nicht!

Wenn es ein Glück ist, seinen Fähigkeiten, Liebhabereien und so weiter ungestört sich überlassen zu dürfen, so ist dieses Glück dem Hofrat Dr. Brokenkorb durch Gunst und Gnade der Götter im höchsten Maße zuteil geworden. Er ist gesund und ein verhältnismäßig noch junger Hofrat. Dieser sein Titel schreibt sich aus den Verpflichtungen, der Gnade und Gunst eines der kleinern Fürstenhöfe unseres deutschen Vaterlandes her. Sein auskömmliches Vermögen stammt weniger von eigenem Verdienst als von ungemein geachteten Vorfahren aus der Freien und Hansestadt Lübeck ab.

Ja, sie mögen ihn alle gern, die Götter wie die sterblichen Menschen! Und er verdient es; denn wenig andere wissen so fließend, so glatt, so lieblich von ihnen und – zu ihnen zu reden wie er. Die Götter haben das Ihrige an ihm getan, und die Menschen tun es noch. Wir wiederholen: die älteren Damen lächeln ihm und machen ihm lieber als irgendeinem anderen Platz an ihrer Seite. – Die Hausherren klopfen ihm vertraulich und doch respektvoll auf die Schulter und nennen ihn: bester Hofrat – die jüngeren, die unverheirateten Damen haben noch nicht das mindeste gegen ihn einzuwenden. Es ist in der letzteren Hinsicht in mehr als einem Hause immer noch dann und wann in einer Weise von ihm die Rede, von der man annimmt, daß er – gar[272] keine Ahnung davon habe. Die Töchter des Hauses, welches heute seinen jour fixe hat, werden von den schönen Freundinnen und Bekanntinnen zwischen dem vierundzwanzigsten und neunundzwanzigsten Lebensjahre auf den liebenswürdigen Hausgenossen in einer Art angesehen, die nicht bloß Neid, sondern hie und da auch Schadenfreude ist. Wir aber hätten viel zu tun, wenn wir von allem, was geredet werden kann, singen und sagen müßten. –

Hofrat Dr. Albin Brokenkorb hatte auch im Glanz und Lärm des heutigen Abends einen der bevorzugtesten Plätze eingenommen. Gleichweit entfernt von dem Piano wie von den Kartentischen und jenem Tischchen mit den beiden Lichtern, hinter welchem der Herr mit dem roten Maroquinheft (diesmal nicht er!) Platz zu nehmen pflegt. Er hatte von allem Angenehmen abgekriegt, wie gestern, wie vorgestern und so rückwärts durch manches liebe, lange Jahr. Und er war selber auch heute wie gestern angenehm gewesen – »bezaubernd« im höchsten Maße, beredt fast zu sehr. Letzteres lag ihm seltsamerweise augenblicklich auf den Nerven. Er hatte Nerven – Nerven, Nerven! Er gehörte nicht zu den Leuten, denen der Rock, welchen sie tragen, ebenso gleichgültig ist wie das, was man über sie denkt, von ihnen spricht, wenn sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat. Wie alle, denen der Weg durch das Leben ein wenig zu leicht gemacht wurde, hielt er etwas sowohl auf seinen Rock wie auf seinen Ruf. Daß einem Menschen durch das Schicksal auch aus Bosheit die Pfade eben gemacht werden können, ist eine Tatsache, die von solchen, welche sich nicht über allzu großes Glück im Leben zu beklagen haben, lange nicht genug mit in die letzte Abrechnung gezogen wird.

»Sie wollen uns doch nicht schon verlassen, lieber Freund?« hatte die Herrin des Hauses gefragt; er aber durfte eigentlich schon seit längerer Zeit diese Absicht nicht verbergen und suchte nur immer noch nach der höflichsten und wohltuendsten Begründung derselben gegenüber der stattlichen, schönen Frau in bordeauxrotem Sammet. Was ihn an diesem Abend so früh aus diesem seinem Daseinselemente von dannen scheuchte, ließ sich[273] schwer ausdrücken in der Sprache des ihn umgehenden Gesellschaftskreises und auch – in seiner gewohnten eigenen.

Daß die Gnädige hinzufügte: »Aber Hofrätchen, die Kinder, Aglae und Josepha, werden dies sogar unartig finden; sie hatten noch so sehr auf Ihre wundervolle ägyptologische Erfahrung in betreff ihres Kostüms für das Künstlerfest im nächsten Monat gerechnet!«, konnte ihn diesmal nicht zum Bleiben bewegen und wie sonst zu einem interessanten Exkurse über die Damentoiletten am Hofe der Königin Kleopatra anreizen.

Er hatte wie ein anderer ganz gewöhnlicher Sterblicher trotz Josepha und Aglae einfach Kopfweh als Entschuldigungsgrund seines vorzeitigen Aufbruchs vorzugehen. Er hatte sich ganz wie jemand, der nicht der gesuchte Ratgeber in solchen ästhetischgeselligen Angelegenheiten oder gar der geliebteste Salonvorträgler der Stadt war, aus dem Programm der »Soiree« selber zu streichen, das heißt sich mit dem Taschentuch vor der Stirn an den Wänden hin wegzuschleichen. Er, der geistreichste Mann des Abends, quälte sich in der Überzeugung, eben diesen ganzen Abend durch Sottise auf Sottise gehäuft zu haben, und verbeugte sich jetzt nach rechts und links lächelnd und bis zum äußersten den Schein der Unbefangenheit aufrechterhaltend, in der Gewißheit, demnächst ruhelos auf heißem Kopfkissen mit heißer Stirn zu liegen und weiter darüber nachzugrübeln, was es eigentlich war, das ihm so sehr und für diesmal unwiederbringlich die Stimmung, das leichte, angenehm melancholisch angehauchte gewohnte Behagen am Dasein und den in seinem Kreise Mitdaseienden nahm.

Wir aber haben unseren Mann draußen! Der Türvorhang ist hinter ihm zugefallen und die Tür auch. Wir haben ihn abgeholt und folgen ihm die Treppe hinauf zu seinem eigenen Reich. Auf jeder dritten Stufe drückt er das Taschentuch an die wirklich etwas »eingenommene« Stirn und murmelt: »Ich habe mein Teil.«

Hofrat Albin Brokenkorb ist ein sehr belesener Mann, und so sind auch seine unwillkürlichsten Ausrufe nicht selten Erinnerungen aus Gelesenem. Diesmal stammte die Reminiszenz aus einer anderen sehr merkwürdigen Geschichte, in der ein anderer, im[274] Erdentreiben nicht recht feststehender Mann die Treppe hinaufstieg und auf jeder dritten Stufe: »Ich habe mein Teil!« ächzte.

»I promessi sposi«, die Verlobten, heißt das Buch, und der darin so seufzt, war nicht Doktor der Philosophie und ***scher Hofrat, sondern Leutpfarrer in einem kleinen Dorfe am Comer See, nicht weit von der Stadt Lecco gelegen. Als Don Abbondio geht er durch die Weltliteratur. Letzteres eine Ehre, die wir unserem Freunde, Hofrat Dr. Brokenkorb, weder wünschen können noch wollen. Letzterer ist aber auch nicht auf seinem abendlichen Wege nach seiner Wohnung auf die beiden Sbirren des Don Rodrigo gestoßen, sondern hat in seiner Sofaecke im vollsten ästhetischen und gesellschaftlichen Behagen des Abends eine merklich andere Erscheinung gehabt.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 269-275.
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