Fünfter Auftritt.

[600] Phädra. Oenone.


OENONE.

Gebieterin, ich drang nicht mehr in dich,

Zu leben – selbst entschlossen, dir zu folgen,

Bestritt ich deinen tödlichen Entschluß

Nicht länger – Dieser neue Schlag des Unglücks

Gebietet anders und verändert alles.

Der König ist tot, an seinen Platz trittst du,

Dem Sohn, den er dir läßt, bist du dich schuldig.

Dein Sohn ist König oder Sklav, wie du

Lebst oder stirbst. Verliert er auch noch dich,

Wer soll den ganz Verlassenen beschützen?

Drum lebe! – Aller Schuld bist du jetzt ledig,

Gemeine Schwäche nur ists, was du fühlst.

Zerrissen sind mit Theseus' Tod die Bande,

Die deine Liebe zum Verbrechen machten.

Nicht mehr so furchtbar ist dir Hippolyt,

Du kannst fortan ihn ohne Vorwurf sehn.

Er glaubt sich jetzt von dir gehaßt und stellt

Vielleicht sich an die Spitze der Empörer.

Reiß ihn aus seinem Wahn, such ihn zu rühren,

Sein Erbteil ist das glückliche Trözen,[600]

Hier ist er König; deinem Sohn gehören

Die stolzen Mauern der Minervenstadt,

Euch beiden droht derselbe Feind Gefahr,

Verbindet euch, Aricia zu bekämpfen.

PHÄDRA.

Wohlan, ich gebe deinen Gründen nach:

Wenn Leben möglich ist, so will ich leben,

Wenn Liebe zu dem hülfberaubten Sohn

Mir die verlorne Kraft kann wiedergeben.

Quelle:
Schiller, Friedrich: Phädra. Trauerspiel von Racine, in: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Dritter Band: Übersetzungen, München 1960, S. 587–645, S. 600-601.
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