Erster Auftritt.

[601] Aricia. Ismene.


ARICIA.

Er will mich sehen? Hippolyt? Und hier?

Er sucht mich und will Abschied von mir nehmen?

Ists wahr, Ismene? Täuschest du dich nicht?

ISMENE.

Das ist die erste Frucht von Theseus' Tod.

Bald siehst du alle Herzen, die die Scheu

Vor ihm entfernt hielt, dir entgegenfliegen.

Aricia hat endlich ihr Geschick

In ihrer Hand, und alles wird ihr huldgen.

ARICIA.

So wär es keine unverbürgte Sage,

Ich wäre frei und meines Feinds entledigt?

ISMENE.

So ists. Dir kämpft das Glück nicht mehr entgegen,

Theseus ist deinen Brüdern nachgefolgt.

ARICIA.

Weiß man, durch welch Geschick er umgekommen?

ISMENE.

Man spricht Unglaubliches von seinem Tod.

Das Meer, sagt man, verschlang den Ungetreuen,

Da er aufs neue Weiberraub verübt:

Ja, ein Gerücht verbreitet sich durchs Land,

Er sei hinabgestiegen zu den Toten

Mit seinem Freund Pirithous, er habe

Die schwarzen Ufer und den Styx gesehen[601]

Und sich den Schatten lebend dargestellt,

Doch keine Wiederkehr sei ihm geworden

Vom traurgen Strand, den man nur einmal sieht.

ARICIA.

Ists glaublich, daß ein Mensch, ein Sterblicher,

Ins tiefe Haus der Toten lebend dringe?

Was für ein Zauber denn zog ihn hinab

An dieses allgefürchtete Gestade?

ISMENE.

Theseus ist tot, Gebieterin! Du bists

Allein, die daran zweifelt. Den Verlust

Beseufzt Athen. Trözene hat bereits

Den Hippolyt als Herrscher schon erkannt.

Phädra, voll Angst für ihren Sohn, hält Rat

Hier im Palast mit den bestürzten Freunden.

ARICIA.

Und glaubst du wohl, daß Hippolyt an mir

Großmütger werde handeln als sein Vater?

Daß er die Knechtschaft mir erleichtern werde,

Von meinem Los gerührt?

ISMENE.

Ich glaub es, Fürstin.

ARICIA.

Den stolzen Jüngling, kennst du ihn auch wohl?

Und schmeichelst dir, er werde mich beklagen

Und ein Geschlecht, das er verachtet, ehren

In mir allein? Du siehst, wie er mich meidet.

ISMENE.

Man spricht von seinem Stolze viel, doch hab ich

Den Stolzen gegenüber dir gesehn,

Sein Ruf, gesteh ich, schärfte meine Neugier.

Doch schien er mir, als ich ihn wirklich sah,

Dem Ruf nicht zuzusagen. Sichtbar wars,

Wie er bei deinem Anblick sich verwirrte,

Wie er umsonst die Augen niederschlug,

Die zärtlich schmachtend an den deinen hingen.

Gesteht sein Stolz nicht ein, daß er dich liebe,

Sein Auge sprichts, wenn es sein Mund nicht sagt.

ARICIA.

O Freundin, wie begierig lauscht mein Herz

Der holden Rede, die vielleicht mich täuscht!

Dies Herz, du kennst es, stets von Gram genährt

Und Tränen, einem grausamen Geschick[602]

Zum Raub dahingegeben, sollt es sich

Der Liebe eitle Schmerzen noch erträumen?

Die Letzte bin ich übrig von dem Blut

Des hohen Königs, den die Erde zeugte,

Und ich allein entrann der Kriegeswut.

Sechs Brüder sah ich in der Blüte fallen,

Die Hoffnung meines fürstlichen Geschlechts.

Das Schwert vertilgte alle, und die Erde

Trank ungern ihrer Enkelsöhne Blut.

Du weißt, welch streng Gesetz der Griechen Söhnen

Seit jener Zeit verwehrt, um mich zu werben.

Man fürchtet, daß der Schwester Rachegeist

Der Brüder Asche neu beleben möchte.

Doch weißt du auch, wie dieses freie Herz

Die feige Vorsicht der Tyrannenfurcht

Verachtete. Der Liebe Feindin stets,

Wußt ich dem König Dank für eine Strenge,

Die meinem eignen Stolz zu Hülfe kam.

– Da hatt ich seinen Sohn noch nicht gesehn!

Nein, denke nicht, daß seine Wohlgestalt

Mein leicht betrognes Aug verführt, der Reiz,

Der ihn umgibt, den jeder an ihm preiset,

Die Gaben einer gütigen Natur,

Die er verschmäht und nicht zu kennen scheint.

Ganz andre herrlichere Gaben lieb ich,

Schätz ich in ihm! – die hohen Tugenden

Des Vaters, aber frei von seinen Schwächen.

Den edeln Stolz der großen Seele lieb ich,

Der unter Amors Macht sich nie gebeugt.

Sei Phädra stolz auf ihres Theseus Liebe,

Mir gnügt die leichte Ehre nicht, ein Herz

Zu fesseln, welches Tausende gewannen.

Den Mut zu brechen, welchen nichts gebeugt,

Ein Herz zu rühren, welches nie gefühlt,

Den stolzen Mann als Siegerin zu fesseln,

Der nicht begreift, wie ihm geschieht, umsonst[603]

Sich einem Joch entwindet, das er liebt –

Das lockt mich an und reizt mich. Mindern Ruhm

Bracht es, den großen Herkules zu rühren

Als Hippolyt – Viel öfter war der Held

Besiegt und leichtern Kampfes überwunden.

Doch ach! wie heg ich solchen eiteln Sinn!

Zu sehr nur, fürcht ich, widersteht man mir,

Und bald vielleicht siehst du mich, tief gebeugt,

Den Stolz beweinen, den ich jetzt bewundre.

Er sollte lieben! Hippolyt! Ich hätte

Sein Herz zu rühren – –

ISMENE.

Hör ihn selbst! Er kommt!


Quelle:
Schiller, Friedrich: Phädra. Trauerspiel von Racine, in: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Dritter Band: Übersetzungen, München 1960, S. 587–645, S. 601-604.
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