Sechster Auftritt.

[639] Theseus. Theramen.


THESEUS.

Bist du es, Theramen? Wo bleibt mein Sohn?

Dir hab ich ihn als zartes Kind vertraut!

Doch was bedeuten diese Tränen, sprich,

Die ich dich weinen sehe? – Was macht mein Sohn?

THERAMEN.

O allzuspäte überflüßge Sorgfalt!

Fruchtlose Vaterliebe! Hippolyt

– Ist nicht mehr!

THESEUS.

Götter!

THERAMEN.

Sterben sah ich ihn,

Den holdesten der Sterblichen und auch

Den minder schuldigsten, ich darf es sagen!

THESEUS.

Mein Sohn ist tot! Weh mir! Jetzt, da ich ihm

Die Arme öffnen will, beschleunigen

Die Götter ungeduldig sein Verderben!

Welch Unglück hat ihn, welcher Blitz entrafft?

THERAMEN.

Kaum sahen wir Trözene hinter uns,

Er war auf seinem Wagen, um ihn her

Still, wie er selbst, die traurenden Begleiter.

Tief in sich selbst gekehrt folgt' er der Straße,

Die nach Mycenä führt, die schlaffen Zügel

Nachlässig seinen Pferden überlassend.

Die stolzen Tiere, die man seinem Rufe

Mit edler Hitze sonst gehorchen sah,

Sie schienen jetzt, starr blickend und das Haupt

Gesenkt, in seine Schwermut einzustimmen.

Plötzlich zerriß ein schreckenvoller Schrei,

Der aus dem Meer aufstieg, der Lüfte Stille,

Und schwer aufseufzend aus der Erde Schoß

Antwortet eine fürchterliche Stimme

Dem grausenvollen Schrei. Es trat uns allen

Eiskalt bis an das Herz hinan, aufhorchten

Die Rosse, und es sträubt' sich ihre Mähne.

Indem erhebt sich aus der flüßgen Ebne[640]

Mit großem Wallen hoch ein Wasserberg,

Die Woge naht sich, öffnet sich und speit

Vor unsern Augen, unter Fluten Schaums,

Ein wütend Untier aus. Furchtbare Hörner

Bewaffnen seine breite Stirne, ganz

Bedeckt mit gelben Schuppen ist sein Leib,

Ein grimmger Stier, ein wilder Drache ists,

In Schlangenwindungen krümmt sich sein Rücken.

Sein hohles Brüllen macht das Ufer zittern,

Das Scheusal sieht der Himmel mit Entsetzen,

Aufbebt die Erde, weit verpestet ist

Von seinem Hauch die Luft, die Woge selbst,

Die es herantrug, springt zurück mit Grausen.

Alles entflieht und sucht, weil Gegenwehr

Umsonst, im nächsten Tempel sich zu retten.

Nur Hippolyt, ein würdger Heldensohn,

Hält seine Pferde an, faßt sein Geschoß,

Zielt auf das Untier, und aus sichrer Hand

Den mächtgen Wurfspieß schleudernd, schlägt er ihm

Tief in den Weichen eine weite Wunde.

Aufspringt das Ungetüm für Wut und Schmerz,

Stürzt vor den Pferden brüllend hin, wälzt sich

Und gähnt sie an mit weitem flammenden Rachen,

Der Rauch und Blut und Feuer auf sie speit.

Sie rennen scheu davon, nicht mehr dem Ruf

Der Stimme, nicht dem Zügel mehr gehorchend.

Umsonst strengt sich der Führer an, sie röten

Mit blutgem Geifer das Gebiß, man will

Sogar in dieser schrecklichen Verwirrung

Einen Gott gesehen haben, der den Stachel

In ihre staubbedeckten Lenden schlug.

Quer durch die Felsen reißt die Furcht sie hin,

Die Achse kracht, sie bricht, dein kühner Sohn

Sieht seinen Wagen morsch in Stücken fliegen,

Er selbst stürzt und verwirrt sich in den Zügeln.

O Herr, verzeihe meinen Schmerz. Was ich[641]

Jetzt sah, wird ewge Tränen mir entlocken.

Ich sahe deinen heldenmütgen Sohn,

Sah ihn geschleift, o Herr, von diesen Rossen,

Die er gefüttert mit der eignen Hand.

Er will sie stehen machen, seine Stimme

Erschreckt sie nur, sie rennen um so mehr,

Bald ist sein ganzer Leib nur eine Wunde.

Die Ebne hallt von unserm Klaggeschrei;

Ihr wütend Ungestüm läßt endlich nach,

Sie halten still, unfern den alten Gräbern,

Wo seine königlichen Ahnen ruhn.

Ich eile seufzend hin, die andern folgen,

Der Spur nachgehend seines edeln Bluts;

Die Felsen sind davon gefärbt, es tragen

Die Dornen seiner Haare blutgen Raub.

Ich lange bei ihm an, ruf ihn mit Namen,

Er streckt mir seine Hand entgegen, öffnet

Ein sterbend Aug und schließt es alsbald wieder:

»Der Himmel«, spricht er, »entreißt mir mit Gewalt

Ein schuldlos Leben. O wenn ich dahin,

Nimm, teurer Freund, der ganz verlassenen

Aricia dich an – Und kommt dereinst

Mein Vater zur Erkenntnis, jammert er

Um seinen fälschlich angeklagten Sohn,

Sag ihm, um meinen Schatten zu versöhnen,

Mög er an der Gefangnen gütig handeln,

Ihr wiedergeben, was –« Hier hauchte er

Die Heldenseele aus; in meinen Armen

Blieb ein entstellter Leichnam nur zurück,

Ein traurig Denkmal von der Götter Zorn,

Unkenntlich selbst für eines Vaters Auge!

THESEUS.

O süße Hoffnung, die ich selbst mir raubte,

Mein Sohn! Mein Sohn! Ihr unerweichten Götter,

Mir habt ihr nur zu gut gedient! – Mein Leben

Hab ich dem ewgen Jammer aufgespart!

THERAMEN.

Aricia kam jetzt, entschlossen kam sie,[642]

Vor deinem Zorn zu fliehn, im Angesicht

Der Götter ihn zum Gatten zu empfangen.

Sie nähert sich, sie sieht das Gras gerötet

Und rauchend noch, sie sieht – sieht Hippolyt –

O welch ein Anblick für die Liebende! –

Dahingestreckt, gestaltlos, ohne Leben.

Sie will noch jetzt an ihrem Unglück zweifeln,

Ihr Aug erkennt nicht mehr die teuern Züge,

Sie sieht ihn vor sich, und sie sucht ihn noch.

Doch als es endlich schrecklich sich erklärt,

Da klagt ihr Schmerzensblick die Götter an,

Und mit gebrochnem Seufzer, halb entseelt,

Entsinkt sie bleich zu des Geliebten Füßen.

Ismene ist bei ihr und ruft sie weinend

Zum Leben, ach! zum Schmerz vielmehr, zurück.

Und ich, das Licht der Sonne hassend, kam,

Den letzten Willen dieser Heldenseele

Dir kundzutun, o Herr, und mich des Amts,

Das er mir sterbend auftrug, zu entladen.

– Doch hier erblick ich seine blutge Feindin.


Quelle:
Schiller, Friedrich: Phädra. Trauerspiel von Racine, in: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Dritter Band: Übersetzungen, München 1960, S. 587–645, S. 639-643.
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