[263] Aus lauter Verzweiflung habe ich angefangen, Bekanntschaften zu machen. Man erzählt sich seine Leiden, räsoniert über die Behandlung, vergleicht die jedem zugemessene Anzahl von Bädern und Packungen, kurz, man fachsimpelt auf Tod und Leben. Ich komme mir zwar immer noch sehr dilettantisch vor. Angstzustände, nervöse Herzgeschichten, Idiosynkrasien, Neurosen und Psychosen, die in diesem Milieu zum guten Ton gehören, sind mir bisher böhmische Dörfer gewesen, aber ich lerne doch allmählich, mich sachverständig darüber zu unterhalten.
Wir haben da einen achtzehnjährigen Pastorensohn, der sich zum Atheismus durchgekämpft und darüber eine Psychose bekommen hat. Nun gibt es einen entlegenen Teil des Gartens mit einem kleinen Holzpavillon, und in dem Pavillon steht – ich weiß nicht, warum – eine Spieluhr. Ebendort geht der jugendliche Atheist ganze Nachmittage im glühendsten Sonnenschein tiefsinnig[263] und barhäuptig auf und ab. Jedesmal, wenn er zum Pavillon zurückkommt, zieht er die Spieluhr wieder auf. Ich habe ihm ein paarmal schweigend zugesehen und ihm dann klarzumachen versucht, daß diese Betätigung unmöglich heilsam auf seine Nerven wirken könne. Er sollte lieber mit mir ins Dorf hinuntergehen und ein Glas Wein trinken – hier oben sind geistige Getränke verpönt. Wir gingen also Wein trinken, unterhielten uns über Religion, verständnislose Eltern, Vorrechte der Jugend und andere einschlägige Fragen, und es wurde ihm entschieden etwas besser. Darüber versäumten wir irgendwelche abendlichen Duschen, und der Professor bemerkte am nächsten Morgen etwas ironisch, meine Menschenscheu scheine sich ja auffallend zu bessern. Trotzdem setzen wir unsere Spaziergänge fort, und ich sehe, daß es dem Jungen gut anschlägt. Dann ist da ein blonder Landwirt, der behauptet, er sei schon von Jugend auf Melancholiker – in lichten Momenten schwärmt er von einer Reise um die Welt, die ihn vielleicht auf frohere Gedanken bringen könne, unter anderem möchte er gerne die kalifornische Schweinezucht aus eigener Anschauung kennenlernen. Ferner eine dicke Baumeisterswitwe, die nervenkrank geworden ist, weil ihr Mann Bankerott gemacht und sich dann erschossen hat. Sie hat uns die Geschichte gewiß schon fünf-, sechsmal mit allen Details vorgetragen, und man hat aufrichtiges Mitgefühl. Mehr als alles andere, mehr als Tod und Bankerott ist es ihr nachgegangen, daß in einer Zeitung gesagt wurde, ihr Mann sei ein ›unverbesserlicher Baulöwe‹ gewesen und habe sich damit zugrunde gerichtet. Über diese Beschimpfung kann sie absolut nicht wegkommen.[264]
Ja und so weiter. Du siehst, es ist keine besonders lustige Umgebung – aber wenn man so dazwischen sitzt, gibt sie einem doch allerhand zu denken.
Nach meinem Gefühl wären fast alle Psychosen in erster Linie mit Geld zu heilen. Hätte der rebellische Pfarrerssohn Geld, so brauchte er weder zu seiner Familie zurück noch eine neue Weltanschauung, sondern würde sich nach Herzenslust amüsieren und, da schon ein Glas Wein und ein bißchen Geschwätz ihn aufleben läßt, bald geheilt sein. – Der Landmann könnte um die Welt reisen und über den Wundern der kalifornischen Schweinezucht seinen Trübsinn vergessen. Auch die Witwe möchte sich sicher über den unverbesserlichen Baulöwen trösten, wenn er ihr ein anständiges Vermögen hinterlassen hätte. Aber das sieht wohl kein Nervenarzt ein, und es nützt ja auch nichts, wenn er es einsähe. Man kann nicht von ihm verlangen, daß er seine Patienten auch noch finanziert.
Mein Tischnachbar, der Privatdozent Lukas, ist Gott sei Dank nur überarbeitet. Ich unterhalte mich gern mit ihm, nur ist er mir zu sehr Reformmann und hat extravagante Ideen über die Erwerbsfähigkeit der Frau – er ist Nationalökonom. Gegenüber sitzt eine Medizinstudentin, die ihm natürlich sekundiert, ihr Steckenpferd ist das weibliche Gehirn, das trotz irgendwelcher Unterschiede ebenso brauchbar sein soll wie das männliche. Über dieses Gehirn wären wir neulich beinah hart aneinandergekommen. Das verblendete Mädchen trat aufs lebhafteste dafür ein, daß möglichst viele Frauen sich den wissenschaftlichen Berufen zuwenden sollten und dabei bessere Chancen hätten als in anderen. Dr. Lukas hielt das Erwerbsleben für noch geeigneter, und[265] ich meinte aus tiefster Überzeugung, daß wir überhaupt zu keiner ernstlichen Tätigkeit taugten, nicht einmal zum Schneidern und Kochen, denn jeder Schneider oder Koch macht es immer noch besser. Und die sogenannte geistige Arbeit ist vollends ruinös und schrecklich. (Ich war den Tag gerade schlechter Laune, und es tat mir wohl, meinen Empfindungen freien Lauf zu lassen, um so mehr, wenn ich jemanden damit ärgern konnte.) Die Medizinerin setzte ihren Zwicker auf und sah mich fast erschrocken an:
»Aber Sie sind doch selbst Schriftstellerin...«
Ach Barmherzigkeit, wie kommt sie zu dieser Kenntnis? Du weißt ja, Maria, ich kann das nun einmal nicht vertragen und habe gegen das bloße Wort eine förmliche Idiosynkrasie. So fuhr ich denn auch diesmal auf wie von sechs Taranteln gestochen und sagte: Nein, ich sei gar nichts. Aber ich müsse hier und da Geld verdienen, und dann schriebe ich eben, weil ich nichts anderes gelernt hätte. Gerade wie die Arbeitslosen im Winter Schnee schaufeln – sie sollte nur einen davon fragen, ob er sich mit dieser Tätigkeit identifizieren und sein Leben lang mit »Ah, Sie sind Schneeschaufler« angeödet werden möchte.
Das verstand sie nicht und sagte etwas von der Befriedigung, die alles geistige Schaffen gewähre.
»Nein, die kenne ich nicht, aber ich habe manchmal davon gehört«, wagte ich hier zu bemerken, »was mich selbst in solchen Fällen aufrechterhält, ist ausschließlich der Gedanke an das Honorar.«
Daraufhin ließ sie mich, nicht aber das weibliche Gehirn fallen und behauptete, immerhin müsse doch auch meines so organisiert sein, daß ich etwas damit leisten[266] könne. »Aber ganz im Gegenteil, es leidet unendlich darunter. Es gibt doch so etwas wie Gehirnwindungen, und ich fühle tatsächlich bei jeder geistigen Anstrengung, wie mein Gehirn sich darunter windet. Nein – ich glaube unbedingt an den Schwachsinn des Weibes, und zwar aus eigener schmerzlicher Erfahrung. Seien wir nur ehrlich, liebes Fräulein Doktor«, fügte ich versöhnlich hinzu, »wenn unsere Gehirne wirklich so viel taugten, wären wir doch alle beide nicht hier.«
Das aber nahm sie sehr übel und beteuerte, ihr Nervenleiden beruhe nur auf erblicher Belastung.
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