[284] Nein, ich weiß immer noch nichts Näheres. Die Testamentseröffnung soll erst nächste Woche stattfinden. Inzwischen hat der Miterbe wenigstens Mittel und Wege gefunden, um selbst hinzufahren und gleichzeitig die sterblichen Überreste des alten Herren zu überführen. Einstweilen war er immer noch im Bahnhof deponiert. Henry hielt das für sehr bedenklich, weil es immerhin einen Anstrich von Rücksichtslosigkeit hatte, aber es war beim besten Willen nicht zu ändern.
Daß Ihr die Sache äußerst spannend findet, begreife ich, kann aber Eure Empfindungen nicht teilen. Ich lasse mich grundsätzlich auf keine Spannung mehr ein, sie schadet mir und beeinflußt die Dinge immer nur ungünstig.
Es war eine glückliche Fügung, daß ich hierherkam. Ich muß die Segnungen dieses Aufenthalts immer mehr anerkennen und kann nur sagen, ein Sanatorium ist doch der einzige geeignete Ort, um auf Erbschaften zu warten. Von der Kur habe ich mich ziemlich emanzipiert, es war nicht mehr zum Aushalten. So habe ich dem Professor auseinandergesetzt, meine Schlaflosigkeit hätte sich in das Gegenteil verkehrt und ich litte jetzt vielmehr an einer veritablen Schlafsucht... damit er mich nur mit seinen Wickeln und Duschen verschont. Außerdem möchte er mir etwas mehr Bewegungsfreiheit gewähren, denn ich hätte einen verwickelten Erbschaftsprozeß und müsse deshalb öfter in die Stadt, um mit einem Anwalt zu beraten. Er gab schließlich nach, aber seine Sympathie für mich, die wohl nie sehr heftig war, nimmt immer mehr ab. Ich glaube sogar, er möchte[284] mich fort haben, denn er machte ziemlich brutale Anspielungen, ob ich nicht zur Nachkur noch in ein Seebad gehen wollte. Henry meint, er hielte mich am Ende für eine Schwindlerin... Es ist schon möglich, denn daß meine Nerven völlig intakt sind, hat er längst durchschaut, vielleicht auch, daß es mit meinen Geldverhältnissen nicht der Fall ist. Der Freudianer hat ihn ja damals brieflich darauf vorbereitet, daß ich erst am Ende meines Aufenthalts zahlen würde... Erbschaftsprozesse und dergleichen klingt immer etwas nach Schwindel, kein Mensch glaubt an Erbschaften, die noch in der Luft hängen, kurz, er wird in meiner Vorstellung immer mehr zum Gläubiger, und das ist ungemütlich. Vielleicht ist es auch ein Fehler, daß ich nie die Rechnung beanstande, sie wird einem jede Woche ins Zimmer gelegt, und ich sehe, daß andere Patienten, die regelmäßig zahlen, jeden Augenblick Krakeel machen. Das ist eine Gewohnheit aus schlechten Zeiten. Ist man selbst überzeugt, daß man doch nicht wird zahlen können, so kommt es nicht in Betracht, wie hoch die Rechnung wird. Ich kann ihm also sein Mißtrauen nicht übelnehmen... wie oft war man schon in ähnlicher Lage und brannte dann irgendwie durch, das mag in Sanatorien ebenso oft vorkommen wie in Hotels.
Um wenigstens etwas glaubhafter dazustehen, habe ich mir einen Rechtsanwalt von ihm empfehlen lassen und bin auch wirklich hingegangen. Was er für mich tun soll, ist vorläufig noch ganz unklar, aber ich bereite ihn darauf vor, daß es eventuell etwas zu tun geben wird, und befrage ihn um tausend Dinge, die ich entweder schon weiß oder gar nicht zu wissen brauche. Im Anschluß daran kann man sich wenigstens etwas herumtreiben,[285] ins Café gehen und dergleichen längst entbehrte Freuden genießen. – Mittlerweile ist auch der schon erwähnte russische Fürst hier aufgetaucht, das heißt, zur allgemeinen Enttäuschung ist er kein Fürst, sondern nur Großgrundbesitzer und heißt Balailoff. Den erhofften Spleen aber hat er im höchsten Maße, und so kommt es auf eins heraus. Wir haben ihn gleich in unseren Kreis gezogen und sind durchaus zufrieden mit ihm. Der Spleen zerfällt in zwei Teile, einmal will er sich den Alkohol abgewöhnen lassen, zweitens hat er eine Braut mit und will hier heiraten.
Dieser Balailoff ist eine gute Ablenkung, denn er erzählt beständig von seinen Angelegenheiten, und wenigstens in seiner Gegenwart müssen wir unsere Geldgespräche suspendieren, schon weil er augenscheinlich über schwindelhafte Mittel verfügt und unsere Komplexe nicht verstehen würde. Statt dessen drehen wir uns mit um seine Heiratsangelegenheiten und seinen Alkoholismus. Mit der Braut dagegen haben wir vergebens versucht uns in Fühlung zu setzen. Sie bewohnt einen Extrapavillon, zieht sich sehr zurück und weiß uns nicht zu schätzen. Es macht den Eindruck, als ob sie ihn zu dieser Entziehungskur veranlaßt hätte und beständig mit dem Professor komplottiert. Er selbst schimpft bei jeder Gelegenheit darüber, daß er hier so überwacht wird, und für die Momente, wo er es nicht mehr aushalten kann, hat er sich schon eine Art Weinkeller in Henrys Büro eingerichtet. Die beiden haben sich nämlich in einem großen Spekulationsobjekt gefunden. Balailoff hat, wie so viele Russen, auf irgendwelche Weise sein Anrecht auf einen Platz verwirkt, kann deshalb nicht mehr nach Rußland zurück und möchte seine dortigen[286] Ländereien verkaufen. Da, wie er erzählt, ergiebige Petroleumquellen in der Gegend sind, riet Henry ihm, statt dessen eine Aktiengesellschaft zu gründen, und er ist Feuer und Flamme dafür. Sie sitzen beständig im Büro, machen Kostenanschläge und rechnen. Kommen sie dabei zu einem Resultat, das sie besonders begeistert, so wird es auf Balailoffs Verlangen ›begossen‹, und wir haben dann unsere liebe Not, ihn so weit zu zähmen, daß der Professor und die Braut nichts merken. Sie begleitet ihn nur selten bei seinen Ausgängen, sondern sitzt in ihrem Pavillon, spielt Klavier und verachtet uns alle miteinander.
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