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[134] 10. Januar


Ich werde wohl doch anfangen einen Roman zu schreiben. Als erstes Kapitel könnte ich gleich den gestrigen Abend nehmen.

Der junge Mann im Pelzmantel ist Herr Dame. Etwas müde und nachdenklich geht er durch die Straßen. Chamotte, sein Diener, folgt ihm, mit Maskenkostümen beladen. Er ist verurteilt, heute abend auf ein Fest zu gehen – eine Frau hat ihn dazu verurteilt.

Große Schneeflocken fallen vom Himmel – der heimliche Traum seines Lebens ist, nur einmal der Frau zu begegnen, die ihn – ach Gott, wie soll man das sagen – die ihn mit Liebe und zur Liebe verurteilt – gütig und doch... Nein, das geht nicht, das muß noch anders gesagt werden.

Sie kommen in eine Nebenstraße, an der Ecke steht ein altes Haus mit großem grünem Tor und einer altmodischen Glocke. Chamotte zieht die Glocke – dreimal –, denn nur auf dieses Zeichen wird man eingelassen. Man geht durch einen Laubengang und über einen gepflasterten Hof – wieder eine Tür und wieder dasselbe Glockenzeichen. Die Tür wird von innen aufgerissen. Der Herr im Pelzmantel fährt zurück, Chamotte schreit laut auf, vor ihnen im Schein einer trüben Laterne steht ein Henkersknecht aus dem Mittelalter – oder Gott weiß woher. Er trägt ein eisernes Schuppenhemd, eine verrostete Sturmhaube, unter der die Augen unheimlich hervorblicken, im Ledergürtel steckt ein langes, handbreites Dolchmesser, baumelt geraubtes Altargerät. Quer über die Stirn läuft eine blutrote Narbe.[134]

Die unheimliche Gestalt verbeugt sich in tiefem Ernst;

»von Orlonsky.«

»Dame – Dame – ja, ich heiße so.«

»Freut mich sehr, Susanne wartet schon.«

Der Henker mit seiner Laterne geht voran, durch einen dunklen Flur, eine Treppe hinauf, in einen großen hellerleuchteten Raum, eine Art Küche, wie man sie in Bauernhäusern findet. In der einen Ecke ist der Herd, in der anderen ein gewaltiger Tisch mit ledergepolsterten Bänken und Stühlen – an den Wänden altes Kupferzeug und Fayencegeschirr, ein ganzes Museum.

Susanna steht am Tisch in einem weißen Gewand und schminkt einen untersetzten jungen Herrn, der mit runden schwarzen Augen gefühlvoll zu ihr aufblickt. Ein zweiter, mit dem Zwicker auf der Nase, hält die Lampe, spricht und gestikuliert aufs lebhafteste. Dazwischen läuft ein fünf- bis sechsjähriges Kind herum. Begrüßung – Vorstellung – der Fremde, in dieser Umgebung wieder völlig Fremde, küßt ihr die Hand. Der Henker stürzt an den Herd und rührt in einem Gericht, das anzubrennen droht – Chamotte reißt Augen und Mund auf und steht wie verzückt.

»Wir haben Eile, Eile«, sagt Susanna – »Haben Sie Ihr Kostüm? – Chamotte, mach das Paket auf – und Ihr Schnurrbart?«

Sie sieht mir ins Gesicht...


Anmerkung

Herr Dame geht manchmal unvermittelt in die erste Person über – aber falls er seinen Roman wirklich jemals geschrieben hätte, würde er es sicher korrigiert haben.[135]


»Ach Susanna, ich habe nie einen Schnurrbart getragen.«

Der Herr mit dem Zwicker fixiert erst mich und dann Susanna. Damit ist die Frage vorläufig erledigt.

»Also rasch, ziehen Sie sich an, Herr Dame.«

»Hier?« Ich sehe mich hilflos um.

»Aber Susja«, ruft der Henker schockiert vom Herd herüber, »ist zum erstenmal hier Herr – Herr – Dame –«

(Susja – das klang so hübsch und ermahnend – ich fasse Sympathie für den Henker.)

»Ach, Willy, wir tun ihn in Ihr Schlafzimmer...«, sagt sie zu dem mit runden Augen und schiebt mich in einen anstoßenden Raum.

Auch dort ist Licht, und von einem Diwan fährt erschrocken ein Mädchen mit offenen blonden Haaren empor.

»Was machen Sie denn, Susanna?« schreit Willy, und sie schiebt mich rasch noch ein Zimmer weiter.

»Ich wußte wirklich nicht, daß du hier bist, Maria«, sagte sie dann zu der Blonden, Erschrockenen.

»Oh, ich war so müde, und Willy sagte, ich könne hier etwas schlafen – ich bin schon seit fünf Uhr da.«

»Kind, dann eil dich jetzt und hilf diesem jungen Mann hier, wenn er mit seinem Kostüm nicht zurechtkommt. Ach so«, sie stellte uns durch die halboffene Tür einander vor.

»Chamotte kann mir ja helfen.«

»Chamotte?« fragt die Blonde dazwischen, »um Gottes willen, wer ist das?«

»Nein, Chamotte, den müssen wir jetzt herrichten, ich weiß noch gar nicht, was wir ihm anziehen.«[136]

Und fort war sie.

Herr Dame bemüht sich, der Situation gerecht zu werden, zu der er sich verurteilt sieht, er unterhält sich mit dem jungen Mädchen von nebenan, läßt sich dann auch von ihr helfen, denn er kann durchaus nicht mit seinem Kostüm zurechtkommen. Sie tut es mit großem Ernst – sie scheint noch halb verschlafen und etwas melancholisch.

Dann möchte er sich etwas über die verschiedenen Persönlichkeiten orientieren. Der Henkersknecht ist von polnischem Adel und ohne ausgesprochenen Beruf – der mit dem Zwicker ein strebsamer Schriftsteller, namens Adrian, und der dritte ist Willy – man nennt ihn niemals anders.

»Wir haben alle so langweilige Nachnamen«, fügte sie hinzu, »und es ist auch bequemer, sie einfach zu kassieren.«

»Wollte Gott«, sagte Herr Dame mit einem tiefen Seufzer, »wollte Gott, man könnte seinen Nachnamen für alle Zeiten kassieren...«

»Ich habe Ihren vorhin gar nicht verstanden.«

»Ich heiße Dame, gnädiges Fräulein – hören Sie, wie das klingt.«

»Dame?«

»Ja, Dame – Herr Dame – stellen Sie sich vor, wenn ich nun einmal die Frau finden würde...«

Sie hat sich auf dem Sofa niedergelassen, von dem sie vorhin so erschrocken emporfuhr – er setzt sich neben sie. In ihren Augen liegt so viel wirkliche Güte; er spricht von seiner Biographie, sagt ihr, daß er ein Verurteilter ist – sie hört zu und scheint tief nachzudenken, die blonden Haare fallen ihr ins Gesicht. Nebenan wird[137] es immer lauter. »Dame!« ruft Susanna und schaut zur Tür herein. »Herr Dame, bitte, kommen Sie.« Er zuckt zusammen. »Ach, Susanna...«

Sie gehen in die Küche hinüber – da steht Chamotte auf einem Tisch, nur mit einer roten Badehose bekleidet, und der Henker ist damit beschäftigt, ihn von oben bis unten schwarz anzustreichen. Nur das eine Bein ist noch weiß, der arme Junge bietet einen merkwürdigen Anblick und wird etwas verlegen, als er seinen Gebieter sieht.

»Wenn ihm nur die Farbe nicht schadet«, meint Susanna mütterlich besorgt, »wir haben ihm ein anderes Kostüm vorgeschlagen, aber er wollte durchaus ein richtiger Sklave sein.«

»Das ist meine Biographie«, bemerkt Chamotte bescheiden.

»O Chamotte, du bist zum Wahnmochinger geboren«, sagt Susanna.

»Adrian, Sie schauen ihn so verzückt an, als ob Sie ein Gedicht machen wollten – vielleicht das Gedicht, das Ihnen endlich den Eintritt zum Tempel verschafft.«

Adrian, der Herr mit dem Zwicker, der sich in eine Toga hüllt und trotzdem aussieht, als ob er eigentlich in den Frack gehörte – lächelt arrogant und beginnt sofort in feierlich getragenem Ton zu improvisieren:


Der schwarze Sklave, der den Becher trug,

Empfing die Farbe aus des Henkers Hand;

Er hieß Chamotte – – –


Das Weitere habe ich nicht behalten – man erzählte mir, daß Adrian an einem Gedichtband arbeitet und danach strebt, unter die Auserwählten des Hofmannschen Kreises aufgenommen zu werden. Aber bisher habe er[138] sich seine Chancen immer wieder durch irgendeine Unvorsichtigkeit verdorben.

Ich fand ihn sehr liebenswürdig – munter und gesprächig. Und er hat wohl auch Herz. Auf dem Wege zum Fest saß ich mit ihm und Maria im Fiaker. Sie dachte noch über meinen Namen nach, und wir sprachen darüber. Ich sagte, daß ich Chamotte beneide – wie fröhlich und selbstverständlich kann einer durch die Welt gehen, wenn er so gerufen wird; er tut sich leicht mit seiner Biographie. Chamotte, das klingt so, als ob ihm die reifen Früchte von selbst aus den Bäumen herabfallen müßten – und obendrein ist es nicht einmal sein wirklicher Name.

Adrian nahm den Zwicker ab und sann nach, dann schlug er vor, mich ›Monsieur Dame‹ zu nennen. Er selbst wolle den Anfang machen, und es würde sich dann gewiß rasch einbürgern. – Wir schüttelten uns herzlich die Hände.

An dem Abend allerdings nützte es nicht viel, denn wir gerieten unter lauter Bekannte, und die kappadozische Dame, die sich meiner vom Jour her erinnerte, fing gleich an zu fragen. Ich machte ihr rasch einige Komplimente über ihr kappadozisches Aussehen, und dann ließ sie mich gar nicht mehr los – ob ich das auch fände – und wie ich darauf käme – es sei wirklich wunderbar.

Ach Gott, was geht mich die kappadozische Dame an – ich möchte meinen Roman schreiben, und es ist doch nicht so einfach, wie ich dachte. Das bunte Treiben im Eckhaus – der Kreis – die Enormen – aber mir fehlt einstweilen noch der Faden, die durchgehende Handlung, oder wie man das nennt. Und ob es angeht, einen ganzen Roman so zu schreiben, wie ich das erste Kapitel[139] angefangen habe – ich fürchte, es gibt ein zu rasches Tempo. Man müßte wohl für jede Gruppe einen besonderen Stil anwenden. Darüber werde ich Doktor Gerhard oder Adrian noch zu Rate ziehen. Und vieles wird mir der Philosoph erklären müssen.


Das Fest an sich wäre wohl besonders schwierig zu schildern, denn für mich war es ein unbeschreibliches Durcheinander von Menschen, Kostümen, Musik, Lärm, einzelnen Vorfällen, Gesprächen und so weiter. Ich bin auch kein Karnevalmensch, wie man hier sagt. Ich trinke wenig, tanze nicht und bin froh, wenn man mich möglichst in Ruhe läßt.

Durch die kappadozische Dame kam ich an den Hofmannschen Tisch. Ab und zu erschien Susanna und setzte sich neben mich. Das war mir ein Trost – ich hätte mich sonst wieder recht ratlos gefühlt. Ich dachte, man würde sich gemessen und weihevoll benehmen, und es machte mich stutzig, daß der Professor als Teufel verkleidet war und in wilden Sprüngen tanzte. Gott, das ist wohl begreiflich, ich hatte noch nie einen Professor in rotem Trikot gesehen. Eine Anzahl Jünglinge bildete einen Kreis um ihn – ich glaube, es wurde ein Walzer gespielt, aber niemand kümmerte sich darum, sie sprangen auf ihre eigene Weise, und die kappadozische Dame war ganz entzückt und sagte, das sei dionysisch. Adrian teilte ihre Begeisterung und erklärte, er würde nächstens auf seinem Atelier eine Satansmesse veranstalten, ob ich nicht kommen wollte. Ich meinte etwas kleinlaut, daß ich noch nicht genug von Magie verstände... »Oh, ich kann Ihnen ein Buch darüber leihen... Ja – übrigens weiß ich doch nicht recht, ob eine Satansmesse[140] das Richtige wäre, aber eine Orgie – eine panerotische Orgie. Was meinen Sie dazu, gnädiges Fräulein?«

Susanna trat mich so energisch auf den Fuß, daß ich unwillkürlich stöhnte – ich hatte nur Sandalen an. Und Adrian wandte sich rasch nach mir um: »Sie scheinen das nicht recht zu billigen, Monsieur Dame – aber warum nicht? Sind wir nicht ebenso berechtigt, Orgien zu feiern, wie die alten Römer und Griechen? Ich dachte, gerade Sie mit Ihrem jungen Sklaven müßten Sinn dafür haben.« Dabei warf er mir einen verständnisvollen Blick zu, über dessen Bedeutung ich mir nicht recht klar war. (Chamotte stand den ganzen Abend hinter mir oder Susanna und bediente uns.)

Wieder trat Susanna mich auf den Fuß und sagte:

»Der Meister ist auch da – sehen Sie, dort geht er mit einem seiner Adoranten; daß er auf ein Fest geht, ist ein Ereignis.«

Sie hatte leise gesprochen, aber Frau Hofmann mußte es doch aufgefangen haben, denn sie sagte lächelnd:

»Liebe Susanna, Sie irren sich – er ist nicht hier. Der Herr, den Sie meinen, hat nur seine Maske gemacht – aber wirklich täuschend, nicht wahr?«

»Frau Professor«, antwortete Susanna, und ich bewunderte ihren Mut, »ich bin beim Theater gewesen und gehe jede Wette ein, daß es keine Maske ist...«

»Ach, was ist Theater?« beharrte Frau Hofmann immer noch lächelnd, aber wie Märtyrer unter Foltern lächeln, »ich kann Sie versichern, daß er es nicht ist.«

Der so Umstrittene befand sich ziemlich in unserer Nähe, und ich mußte Susanna recht geben – das konnte keine Maske sein. Und es lag etwas in seiner Erscheinung, was mir großen Eindruck machte.[141]

»Warum will man denn nicht zugeben, daß er es ist?« fragte ich nachher, als wir eine Weile allein saßen.

»Weil gewöhnliche Sterbliche nicht wissen dürfen, daß er wirklich vorhanden ist.«

Der Professor kam mit einer Dame, zog sie auf einen Stuhl nieder und sagte bewundernd:

»Ist sie nicht unglaublich schön?«

Susanna flüsterte ihm ins Ohr: »Um Gottes willen – sie ist furchtbar.« Er erschrak, betrachtete sie von der Seite und fragte leise zurück: »Wirklich?«

Das wiederholte sich noch ein paarmal im Laufe des Abends – er brachte immer neue Wesen und wollte, daß man sie schön fände. (Manchmal waren sie auch ganz nett.) Später mischte ich mich in das Gewühl, ich traf Willy, der nach Maria suchte. Schließlich sahen wir sie mit Heinz und seinen Freunden.

»Ja, dann ist es umsonst«, sagte Willy betrübt. »Die Enormen geben sie nicht her – sehen Sie, der dort ist Hallwig, er ist entschieden ein ungewöhnlicher Mensch; ich möchte ihn schon lange kennenlernen, aber er hält sich vollständig zurück und verkehrt nicht mit belanglosen Leuten, wie ich und Sie es sind – nehmen Sie es nicht übel, Herr Dame...«

»O gewiß nicht, und Maria?«

»Maria ist eben ›enorm‹ – sie ist heidnisch, und Götter wohnen in ihrer Brust. Damit haben sie ganz recht, und wir finden es ja auch, aber man kann sich nicht darüber verständigen. Maria liebt die Enormen, und sie liebt uns – sie liebt überhaupt alles, aber man sieht es nicht gerne, daß sie so universell ist, und vor allem ihr Verkehr im Eckhaus – wir ziehen sie herunter, wir sind Schmarotzer und Vampire an ihrer Seele.«[142]

Er war ganz traurig. Ich betrachtete den genannten Hallwig genauer – ich hatte ja auch schon gemerkt, daß Heinz es vermeidet, mich mit ihm bekannt zu machen. (Woher wissen sie denn so genau, daß ich ›belanglos‹ bin?) – Ein auffallend schöner Mensch, und Maria scheint ihn sehr zu lieben. Vielleicht war sie deshalb heute abend im Eckhaus so melancholisch und verstand mich so gut.

»Und wer ist der kleine Brünette, der so zärtlich den Arm um sie legt?«

»Das ist Konstantin, der Sonnenknabe, er ist auch enorm, und deshalb darf er alles – er darf sogar Maria lieben. Bei ihm ist es eben das Enorme, daß er alle Frauen liebt, auch wenn er sie eigentlich gar nicht mag – dann läßt er sich wenigstens lieben – die Mädchen sind alle hinter ihm her. Sehen Sie, lieber Dame, ich habe gar nichts gegen die Enormen, ich verehre sie sogar aus der Ferne, und ziemlich hoffnungslos – denn sie schätzen meine Rasse nicht – sie lassen nur blonde Langschädel gelten, und ich sehe so äthiopisch aus – aber wenn sie die Mädchen gegen uns beeinflussen...«

Ich sagte ihm, daß ich das wieder nicht verstände:

»Überall sind mysteriöse Gemeinschaften, man hört von Satansmessen, Orgien, Magie und Heidentum sprechen wie von ganz alltäglichen Dingen, dann wird wieder getanzt und Tee getrunken, aber selbst beim Tee gibt es Geheimnisse und verschlossene Türen, hinter denen vielleicht ein Magier sein Wesen treibt.«

»Ja, so ist es wohl«, seufzte Willy, »und es gab eine Zeit, wo auch ich gerne Zauberlehrling werden wollte, man hatte mich schon halb und halb akzeptiert. – Aber schauen Sie einmal dorthin!«[143]

Wir sahen, wie Orlonsky, der Henker, Maria mit Gewalt zum Tanzen fortzog – den Sonnenknaben schob er einfach beiseite, und der schien es auch gar nicht übelzunehmen. Aber der Henker war sichtlich gereizt, und als dann beim Tanzen irgendein junger Mensch aus der Menge Maria ansprach, ließ er sie stehen und warf ihn buchstäblich an die Wand, fuhr dabei mit der Hand in sein eigenes Dolchmesser, das offen am Gürtel hing, und verletzte sich ziemlich erheblich. Nun gab es erregte Auseinandersetzungen – dieser Orlonsky scheint ein rabiater Herr zu sein. Plötzlich stand auch der Indianer daneben – Orlonsky und er maßen sich nur mit den Blicken, dann folgte Maria dem Indianer, und Susanna beschwichtigte Orlonsky mit Zärtlichkeit. Man sah sie nachher beständig zusammen. Am Hofmannschen Tisch wurde noch viel über diese Szene gesprochen. Es lag sicher wieder eine mysteriöse Bedeutung darin, die ich nicht durchschauen konnte. Adrian wollte den Henker zu seiner Orgie einladen, und die kappadozische Dame fragte:

»Haben Sie gesehen, wie seltsam er sich benahm«, sie meinte den Indianer.

»Nein – wieso?«

»Er sagte kein Wort, aber er erbleichte, als er Blut fließen sah – Sie wissen doch, Blut...«

Nun wurde es mir zuviel, ich stand auf und irrte verlassen durch die festliche Menge. Wie eine unaussprechliche Erleichterung empfand ich es, als der Philosoph neben mir auftauchte.

»Wie geht es Ihnen, Herr Dame? Wozu hat man Sie heute verurteilt?«

»Ich fürchte zum Wahnsinn, cher philosophe, ich weiß[144] nicht, was in diesem rätselhaften Stadtteil aus mir werden soll, und doch läßt es mir keine Ruhe, dahinterzukommen.«

»Mirobuk!« sagte er gütig, »kommen Sie doch morgen nachmittag etwas zu mir.«


Ja, ich frage ganz im Ernst, ob es nicht ein bedenkliches Symptom für meinen inneren Zustand ist, daß das bloße Wort – Mirobuk – so beruhigend auf mich wirkt – wie eine Zauberformel, die den Bann zu lösen vermag; denn es ist wohl eine Art Bann, der mich hier immer wieder umfängt. Ich weiß nicht, was Mirobuk bedeutet, wo er es her hat, und was es eigentlich heißen soll, ich will es auch gar nicht wissen, es ist nur die Art, wie er es anwendet – man ahnt gleichsam, daß hinter den verworrensten Widersprüchen doch noch irgendwo Klarheit zu finden sein könnte.

Quelle:
Franziska Gräfin zu Reventlow: Romane. München 1976, S. 134-145.
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