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[178] 10. Februar


Ich habe heute wieder durchgelesen, was ich zuletzt aufgeschrieben, und ich fühle Sehnsucht nach den Tagen im Eckhaus. Wie eine Reihe stets wechselnder Bilder gleiten sie noch einmal an mir vorüber – bunt, bewegt,[178] geräuschvoll und dann wieder müde und verträumt in schläfrigem Halbdunkel – wie jener Winternachmittag, wo alle schliefen und wir drei in dem großen Zimmer um den Ofen lagerten. Bis dann Chamotte mit dem kleinen Mädel heimkam, das ich mit ganz neuem Interesse betrachtete – ich kann wohl sagen, daß ich es zum erstenmal ›erlebte‹. Ich habe im allgemeinen nicht viel Sinn für Kinder und weiß nicht viel an ihnen zu erleben, aber das Gefühl, daß es das Kind dieser Frau ist, die ich so tief und stumm verehre – und daß es ihr vielleicht später einmal gleichen wird. Und wie wir dann noch später leise aus dem Hause schlichen, um wieder auf einen Ball zu gehen – wie wir erst in dem Licht und Lärm mitten unter tobenden und tanzenden Menschen wieder richtig wach wurden und uns ganz verwirrt und erstaunt ansahen – das liegt schon alles etwas traumhaft hinter mir.

In meiner Wohnung kam ich mir zuerst beinah wie ein Fremder vor. Chamotte schlich trübselig herum und meinte, diesmal hätte ich mich selbst verurteilt, wir hätten doch ebensogut noch länger im Eckhaus bleiben können. Aber ich brauchte zur Abwechslung einmal etwas Ruhe. Äußerlich vermag ich mich schon zeitweise einem solchen Wirbel anzupassen, aber mein inneres Leben kann ich nicht überstürzen, das will ein stilleres Tempo und konnte nicht mehr mit.

Allerhand Briefe vorgefunden, meinem Stiefvater hatte ich noch im Eckhaus ausführlich geschrieben. Er antwortete herzlich und eingehend, wie das seine Art ist. Es freue ihn aufrichtig, daß ich so viel mitmache und in ein etwas intensiveres Fahrwasser zu geraten scheine, man sei schließlich doch nur einmal jung.[179]

Das sagen die älteren Leute ja mit Vorliebe – gerade solche, die sich selbst noch immer weiter amüsieren, als ob sie zwanzig Jahre alt wären – und es kann mich leise nervös machen. Immer wieder die alte Geschichte – es gibt Menschen, die überhaupt jung sind, ohne Rücksicht auf die Zahl ihrer Jahre, und andere, die es niemals sind, auch während der vorgeschriebenen Zeit nicht. Und wie es sich bei mir damit verhält, müßte mein väterlicher Berater wohl am besten wissen, aber er hofft wohl immer, es käme noch. Mit meinen literarischen Absichten ist er sehr einverstanden und ermahnt mich, den geplanten Roman nun auch wirklich zu schreiben. Wo sich hier von allen Seiten so viel Anregung biete, müsse es doch ein leichtes sein.

Ich aber fürchte wieder, es wird damit nicht so schnell gehen. Es gilt, vor allem erst das Material zu sammeln und sich einen Stil zu bilden.

Ich denke, darin wird mein ›Tagebuch‹, wie Susanna es etwas ironisch nennt, mir gute Dienste leisten. Man gewöhnt sich daran, alles Erlebte doppelt in sich aufzunehmen und bei allem, was man schreibt, auf den Stil zu achten. Auch dazu hat ja mein Stiefvater mich von jeher ermuntert – er wies bei solchen Gelegenheiten gerne darauf hin, daß Goethe stets Tagebücher geführt habe, und äußerte die Ansicht, Goethe sei und bleibe doch immer das beste Vorbild für jeden jungen Deutschen.

Ähnliches hört man wohl öfter sagen, und ich kann mir nicht helfen – ich sehe darin eine gewisse Arroganz der älteren Generation. Man hilft uns nicht zu leben, sondern begnügt sich damit, uns auf große Vorbilder hinzuweisen und dann zu hoffen, daß etwas Außerordentliches[180] aus uns wird. Was sollen mir derartige Hinweise? Ich habe gar keine Anlage zum Größenwahn, ich bin nur ein »belangloser« junger Mensch und heiße Dame und kann nicht aus meiner Biographie heraus.

Und das Material, das ich bisher zusammengetragen habe – es macht mir eigentlich erst fühlbar, wie sehr mir noch die Zusammenhänge fehlen. Sie müssen ja da sein, und ich muß sie noch finden – nicht um eines etwaigen Romans, aber um meiner selbst willen. Die ganze fremdartige und intensiv bewegte Atmosphäre dieses Stadtteils mit ihren Rätseln, Geheimnissen und, ich möchte wohl sagen, auch Erleuchtungen umfängt mich immer noch – ja, eigentlich immer mehr – wie ein Traum. Anfangs sehnte ich mich nur nach Klarheit, nach Verstehen und Begreifen – jetzt weiß ich, daß es hier mit dem Begreifen allein nicht getan ist, sondern daß sie – die Atmosphäre – innerlich erlebt werden muß. Oder geträumt – manchmal tut es mir förmlich weh, wenn die wache Stimme des Philosophen an mein Ohr klingt. Er weiß mir alles zu erklären – man könnte sagen: er beherrscht das Material vollkommen, aber er findet es nicht gut und nicht tauglich, um etwas Rechtes daraus zu bilden. Er nennt diese Menschen Romantiker, die allen Erkenntnissen der klaren Vernunft die instinktive Weisheit früherer Völker entgegenstellen und sich an dem Pathos dieser Dinge und an ihrem eignen Pathos berauschen. Und logisch muß ich ihm oft recht geben, aber mein Empfinden und meine Sehnsucht neigen sich doch immer wieder ihnen zu.


(Meine Selbstkritik macht bei nochmaligem Durchlesen die Wahrnehmung, daß ich hier wohl nahe daran war,[181] in einen romantisch pathetischen Ton zu verfallen, und sie warnt mich davor. Ich will in diesen Blättern nur Chronist sein, und dem Chronisten ziemt es nicht, mit seinen eigenen Empfindungen zu stark in den Vordergrund zu treten. Sollten sie etwa in späteren Tagen oder Jahren in jemandes Hände geraten, der mit Staunen Kenntnis davon nimmt, was Wahnmoching war und bedeutete, was hier lebte, gelebt wurde und gelebt werden sollte, so wird dieser jemand – ich stelle ihn mir etwa als versonnenen Gelehrten oder ernsten Forscher vor – vielleicht mäßiges Interesse an meiner Person nehmen und nur so nebenbei in stiller Anerkennung den Hut ziehen, wenn er erfährt, daß es bloß ein junger Mann aus Berlin war, welcher Dame hieß und sich verurteilt fühlte, das Wichtigste über diesen bemerkenswerten Stadtteil aufzuzeichnen.

Und doch kann der Chronist wiederum nicht ganz sein Ich eliminieren, in dem die Umwelt sich widerspiegelt. Mag der Spiegel noch so anspruchslos und schlicht gerahmt sein – wenn man ihn verhängt oder aus dem Zimmer trägt, wirft er kein Bild mehr zurück.)


Anmerkung

Sie finden hier, verehrter Gönner und Freund, aus Herrn Dames eigenem Munde die Bestätigung unserer Wir-Theorie, auf die wir auch in unserem Begleitschreiben Bezug nahmen. Wäre dieser liebenswerte junge Mann in der Lage gewesen, im Plural zu denken und zu erleben, so möchte vielleicht seine Biographie sich leichter und freundlicher gestaltet und weniger auf ihm gelastet haben. Im Unterbewußtsein hat er das wohl auch dunkel gefühlt; das scheint uns wenigstens aus seiner Beziehung zu dem Diener Chamotte hervorzugehen.[182]

Quelle:
Franziska Gräfin zu Reventlow: Romane. München 1976, S. 178-183.
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