[61] Nicht so ungeduldig, mein Freund – ich weiß sehr wohl, daß es sich gehört, Briefe fertig zu schreiben, aber ›das Leben nahm mir die Feder aus der Hand‹, und ich war seither nicht in Teestimmung. So hab' ich ihn als Fragment abgeschickt, um Sie nicht länger warten zu lassen; und ich denke, für ein Fragment war er lang genug. Heute würde ich nun wohl schwerlich den Faden wiederfinden, wenn Sie ihn mir nicht so liebenswürdig zugereicht hätten. Das ›Thema‹ scheint Sie beinah mehr zu interessieren als mich selbst, ich möchte wissen warum. Es sieht fast so aus, als könnten Sie die Zeit nicht erwarten, wo Sie an meiner Seite Viere lang fahren werden. Es wäre auch sicher sehr hübsch, aber einstweilen gefällt es mir noch ganz gut, hier und da in ein fremdes Auto einzusteigen und so weit mitzufahren, wie ich gerade Lust habe. Ist keines da, so läuft man zu Fuß und flucht oder amüsiert sich darüber – je nachdem.
Gott ja – das berühmte Thema – teurer Doktor, bitte, verwechseln Sie den Mangel an kaufmännischem Talent nicht wieder mit innerem Wert. Nein, ich habe innerlich nichts, gar nichts gegen das ›Verkaufen‹ einzuwenden, weder für andere noch für mich. Nur müßten die Bedingungen angenehm und annehmbar sein. Und das ist selten, ach, so selten der Fall, vielleicht verfolgt auch gerade mich ein besonderer Unstern.
Erschrecken Sie nicht, ich möchte sogar gelassen aussprechen, daß für mein Gefühl der Handel in seiner direktesten Form immer noch die beste Möglichkeit wäre und eigentlich auch die anständigste. Ein fremder Herr (schon die Fremdheit... Sie wissen ja...), der spurlos[61] wieder in der Versenkung verschwindet – was für eine Ersparnis an Nervenkraft gegenüber dem festen Utilitätsverhältnis, das vorsichtig gehandhabt und geduldig ertragen werden muß. Aber auf diesem Gebiet ist ja leider alles so mangelhaft organisiert, so gesellschaftlich unmöglich gemacht... verlassen wir es lieber...
Der Sizilianer ist gerade zur rechten Zeit aufgetaucht, und sein Auto ist gut. Warum ist er Ihnen nicht ›ganz geheuer‹? Ein ›Rasta‹, mit dem ich arg hereinfallen werde, meinen Sie – sicher ist er ein Rasta, aber das ist ja gerade sein Hauptcharme, ich habe immer ein Faible dafür gehabt. Und vermutlich fällt er eher mit mir herein, denn er scheint es wenigstens bisher bitter ernst zu nehmen. Und ich weiß nicht recht, was ich mit seinem Herzen anfangen soll.
Es kann ein Dilemma sein, ob man jemand glücklich oder unglücklich machen soll. Manche haben mehr davon, wenn sie unglücklich sind – sie wollen gerne alle Tiefen der Leidenschaft durchmessen – und sind dann auch traitabler. In diesem Falle bin ich mir noch nicht klar darüber.
Pedro – so heißt er – ist in seinem ganzen Wesen etwas ungestüm, und wenn er zu glücklich ist, werde ich einen schweren Stand haben. Aber die direkte Werbung steht noch aus – ich finde diesen Zwischenzustand sehr reizvoll und möchte ihn noch eine Zeitlang festhalten. Er umwandelt mich einstweilen auf Freiersfüßen und demonstriert mir vor, wie angenehm das Leben sich an seiner Seite leben läßt.
Wenn ich zum Frühstück komme, sitzt er schon da, eine Blume im Knopfloch, dieselbe Blume als Strauß an meinem Platz – etwas ungeduldig, denn ich komme immer[62] eine Stunde zu spät, und sein Chauffeur tyrannisiert ihn.
Madame... – Handkuß – ces fleurs... dann kommt, was die Blumen des heutigen Tages mir sagen sollen. Darin ist er erfinderisch. Gott, muß es anstrengend sein, sich jeden Morgen etwas anderes auszudenken!
Dann fahren wir in die Umgegend oder treiben uns in der Stadt herum, er macht die Honneurs, jagt mich durch Altertum, Renaissance und römisches Volksleben der Gegenwart – immer mit demselben Feuer, der Beredsamkeit des Südländers und vielen Gesten. Er findet mich blasiert (sagen Sie mir bitte – bin ich es wirklich?), wenn ich nicht über jede alte Kaiserbüste und jede Osteria, wo ein paar Arbeiter Wein trinken und Musik machen, in Ekstase gerate. Ich kann mir nun einmal nicht helfen, es kommt mir ganz selbstverständlich vor, daß in Rom alles römisch oder in Griechenland alles griechisch ist, und daß es eben daselbst früher alte Römer und alte Griechen gegeben hat. Warum muß man das so aufregend finden? Und macht mir irgend etwas besonderen Eindruck, warum soll ich dann eine Rede darüber halten?
Unterbrechung... drei Tage später...
Nein, ich glaube, man darf diesen Mann nicht unbedingt glücklich machen, er ist zu erdrückend intensiv. Den ganzen Tag über habe ich das Gefühl, als ob ich mit dem Vesuv spazierenginge.
Der letzte Montag, an dem ich dieses Handschreiben begann, war der Vorabend großer Ereignisse. Soll ich Ihnen ›alles‹ erzählen? – Nein, ich erzähle nie alles, und Sie verdienen noch Strafe für den Rasta und für Ihre[63] Zweifel – also bekommen Sie heute nur einen Auszug...
Ein Situationsbild... wir sitzen spät abends am Kolosseum. Ich habe eine glühende Schilderung der Gladiatorenkämpfe ohne Zucken über mich ergehen lassen. Der Chauffeur wandert grollend in irgendeinem Stockwerk des ›immortale Amfiteatro‹ auf und ab, er haßt diese Art von Unternehmungen, er haßt überhaupt die Romantik seines Herrn, haßt mich. – Ich leide darunter, ich kann es durchaus nicht vertragen, wenn ein männliches Wesen mich mit Abneigung betrachtet, sei es auch nur ein Eisenbahnschaffner oder ein Chauffeur.
Wir haben das Altertum verlassen, unser Gespräch dreht sich jetzt um andere Dinge – um Liebe. Wenn man zu zweien im Dunkeln sitzt, ist es wohl immer das Nächstliegende. Wir sprechen alle Abende um diese Zeit über Liebe, auch wenn wir im Restaurant sitzen, und die persönliche Nuance wird von Abend zu Abend stärker betont.
Er geht allmählich in einen Hymnus auf die Frauen über – im allgemeinen – im besonderen – die Frauen im Süden – die aus dem Norden – die blonden – die eine blonde Frau, mit der man eben jetzt in Rom unvergeßliche Frühlingstage verlebt. Etwas zuviel echtes Gefühl – das kann unter Umständen leise beklemmend wirken. Mit seinem Rastatum ist es doch nicht weit her. Aber er spricht ein entzückendes Durcheinander von Deutsch, Französisch, Italienisch – das hab' ich so gern, mein Herz schlägt doch etwas für ihn... meine Hand ruht zwischen seinen beiden Händen... sehr gute Hände mit schönen Nägeln und einem breiten, sonderbaren Ring.[64]
Es scheint also, daß wir einig sind... aber auf ein mal wird er sehr merkwürdig... schweigt... verfinstert sich... Stumm, gewaltsam drückt er mir die Hand, beide Hände, steht auf, pfeift dem Chauffeur. Wir steigen ein und fahren langsam, sehr langsam noch ein Stück aus der Stadt hinaus.
Ganz plötzlich, ganz unvorhergesehen, kniet er neben mir – vor mir ist nicht Platz genug – beinah beschwörend: »Ich bin ein schlechter Mensch... schlecht... sehr schlecht.«
Ich: »...???«
Ja, er ist verlobt – dort in Sizilien, und doch – und Rom – und eine blonde Frau...
Ich atme auf. Wenn's weiter nichts ist...
Die Blumen am nächsten Morgen waren viele dunkelrote Rosen, und er ist sehr glücklich – eben etwas zu glücklich.
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»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.
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