Zweites Kapitel.

Nach einer Weile trat ein mächtig großer, breitschulteriger junger Mann in die Schenkstube, wohl ein angehender Dreißiger und seiner Kleidung nach doch noch ein Student. Denn eine Schar wohlgesetzter Männer, darunter auch verheiratete Leute, bildete damals noch immer wie in alten Zeiten den Adel der bemoosten Häupter, und von halbreifen Jünglingen, wie sie jetzt die Hörsäle füllen, war noch wenig zu sehen auf deutschen Hochschulen. Der Student trug sein natürliches Haar, bis auf die Schultern niederwallend, dazu einen stattlichen Schnurrbart und Kinnbart, und wie er so stolz hereinschritt, die linke Hand auf das Gefäß des Stoßdegens gestemmt, sah man's ihm gleich an, daß er kein gewöhnlicher Student und Obskurant sein könne, sondern ein Mann von burschikosen Ehren und Würden. Er war in der That Senior des Faßbinderordens, der herrschergewaltigste Student der ganzen Hochschule.

Als er den feinen Mann im roten Sammetrock erblickte, eilt er auf ihn zu, umarmte ihn, küßte ihn, schrie laut auf vor Freuden und wollte ihn kaum wieder loslassen. »Ich gratuliere, Freund Baronius! Das war ein Sieg, ein Triumph! Wie mich jeder Beifallruf freute, als gälte er mir, jeder Lorbeerkranz, als sei er mir hingeworfen! Aber ich habe auch redlich mitgearbeitet, Freund! Sämtliche Mitglieder des Faßbinderordens hatte ich ins Konzert geschafft; da standen wir im geschlossenen Treffen, und nach jeder Nummer[230] schlugen wir frisch zuerst an mit einem wahren Rottenfeuer des Klatschens und Jubelns; und uns gegenüber in der anderen Ecke des Saales war der ganze Lilienorden aufgepflanzt, den habe ich auch halb in der Tasche, und sowie ich nickend das Signal gab, fuhren die braven Burschen von den Lilien gleichfalls drein wie wütend. Zuletzt, nimm mir's nicht übel, hatten meine Leute fast mehr Freude daran, sich selber klatschen, als dich spielen zu hören. Ach, du bist ein gemachter Mann, überschüttet mit Geld und Ehren, berühmt durchs ganze Reich – ich habe mit dir meine Studien begonnen, ich bin nichts und werde nichts, ich bleibe der ewige Student!«

»Beneide mich nicht allzusehr,« erwiderte Baronius, den Arm auf die Schulter des Freundes legend. »Du bist wohl glücklicher als ich. Der Erfolg in der Kunst macht unersättlich. Das nagt an mir, das verzehrt mich, daß ich weiter, weiter, immer weiter will. Ich genieße meine Triumphe nicht, denn für mich sind es längst keine Triumphe mehr. Es gab Meister, die Größeres leisteten, unendlich Größeres; es martert mich zu Tode, daß ich's ihnen nicht nachmachen kann. Ich schreibe eben an einer Geschichte des Lautenspiels. Jedes Blatt, welches ich in den Geschichtsbüchern umwende, verstimmt mich, daß ich heulen möchte vor ungesättigtem Ehrgeiz. Amphion bewegte Steine mit seinem Lautenspiel, er bezauberte Bäume und Felsen. Jetzt mag sich einer die Finger abspielen, er wird darum noch keinen Stein um einen Zoll von seiner Stelle rücken. Doch das mögen Fabeln[231] sein und die Geschichte ist auch schon sehr lange her. Orpheus hielt gar den Wind auf mit den Tönen seiner Laute. Auch diese Kunst will ich gern verloren geben; man könnte durch sie leicht als Wettermacher und Hexenmeister zu bösen Geschichten kommen. Aber daß beide, Amphion und Orpheus, durch ihr Spiel die wilden Tiere gebändigt und gezähmt haben, das ist doch wohl keine Fabel. Wie erbärmliche Stümper sind wir da gegen diese Meister. Nicht einen Hund, nicht eine Katze mag unser Lautenspiel noch fesseln, geschweige denn einen Hirsch, Wolf oder Bären. Hund und Katze laufen davon, wenn ich nur drei Accorde anschlage, und zwingt man die Bestien zu bleiben, dann heulen sie immer höher, je schöner und heftiger man spielt. Was ist unsere ganze gepriesene Malerkunst, bevor es nicht wieder gelingt, jene Traube zu malen, nach denen die Spatzen geflogen sind? Doch die Wunderwerke der klassischen Zeit will ich alle noch verschmerzen; wer will überhaupt in Wettkampf treten mit Griechenland und Rom? Aber auch in den finsteren mittleren Zeiten, ja in ganz naheliegenden Jahrhunderten sind Wunderdinge auf der Laute geleistet worden, für uns so unerreichbar, daß wir uns beschämt verkriechen, daß wir unsere Lauten an der Wand zerschlagen müssen angesichts jener obskuren Meister, deren Namen man nicht einmal recht kennt. Sieh, Freund, das frißt an mir, das macht mir schlaflose Nächte, das läßt mich in Zorn und Wut die Laute üben in ihren höchsten Schwierigkeiten, bis mir das Instrument aus der Hand gleitet vor Ermattung.[232] Nicht eher gewinne ich Ruhe und Zufriedenheit, bis ich diese namenlosen Zauberer besiegt habe.«

»Und worin bestand denn deren Kunst?« unterbrach der Senior. »Aber halt! Rede nicht weiter, bevor wir uns gesetzt haben, bevor Eva mir eine Kanne Rheinwein kredenzt, und bevor wir angestoßen und einen guten Trunk gethan. Denn deine Rede tönt süß wie deine Laute, aber sie baut sich breit und groß, wie deine Musik, wenn du das jüngste Gericht spielst, und ist so festgefugt, daß man nirgends ein Loch hineinbrechen kann. Nichts für ungut, Freund! Glück auf! Also auf die Ueberwindung des Orpheus und Amphion und aller namenlosen mittelalterlichen Lautenspieler!«

Da stießen sie an und tranken. Dann fuhr Baronius also fort:

»Es wird uns von glaubwürdigen Chronisten berichtet, daß am Hofe König Erichs von Dänemark ein Lautenspieler gewesen von so großer Kraft des Ausdrucks, daß er durch sein Spiel die Zuhörer zu jeder Leidenschaft stimmen und hinreißen konnte. Der König, der davon vernommen, wollte diesen Triumph der Kunst mit Augen sehen und befahl darum dem Musiker, vor seinen Rittern und Hofleuten kriegerische Weisen so zu spielen, daß alle zum Kampf entflammt würden. Der Lautenspieler war seiner Sache dermaßen gewiß, daß er bat, alle Waffen fortzuschaffen und Wächter vor dem Saale aufzustellen, welche die Streitenden sofort auseinanderreißen könnten. Damit die Wache aber nicht auch in den allgemeinen Taumel[233] hineingezogen würde, sollte sie rechtzeitig dem Meister die Laute wegnehmen und so der bestrickenden Musik ein Ende machen. Der Lautenspieler begann ein weiches Adagio; da wurden alle Zuhörer tief betrübt, daß ihnen fast das Weinen ankam. Dann ging er über in ein fröhlich bewegtes Allegro; da glänzte Heiterkeit auf allen Gesichtern, und kaum konnten sich die Jüngeren des Tanzes enthalten. Nun erschallte ein kriegerischer Marsch, der sich allmählich zu einer so heftigen, stürmischen, wildaufregenden Kriegsmusik erweiterte, daß alle wie von Sinnen kamen. Zorn und Wut erfüllte die sonst freundlichen Gemüter. Vergebens suchte man, rief man nach den Waffen. Da begann in der äußersten Wut der ganze Hof mit Fäusten sich zu schlagen, bis die Wachen mit Schwertern und Hellebarden hereindrangen, um Frieden zu schaffen. Aber beim Anblick des ungeheuren Tumultes vergaßen sie dem selbst wie wahnsinnig rasenden Musiker die Laute hinwegzunehmen. König Erich riß einem der Wächter das Schwert von der Seite, rannte damit ins Getümmel hinein und stieß vier seiner Getreuen nieder. Nun erst schlug einer der Wächter dem Lautenisten mit der Hellebarde sein Instrument in Stücke, und plötzlich, da es still geworden, beruhigten sich die Gemüter. Der König wollte verzweifeln vor Reue und Kummer über den vierfachen Mord. Zur Sühne unternahm er eine Wallfahrt nach Jerusalem; auf der Rückreise ereilte ihn der Tod auf Cypern. Sieh, Freund, das war ein Triumph der Kunst; und solange ich nicht vermag, was jener Lautenspieler vermocht, bin ich ein Stümper.«[234]

Der Senior erwiderte trocken: »Also du meinst, wenn man eine so verzweifelte Musik macht, daß sich die Leute darüber totschlagen, dann hat man den Gipfel der Kunst erreicht? Nein, lieber Baronius, rechtfertige dich nicht; verstehe Scherz; ich will jetzt auch im Ernste reden. Sieh, du hast mir diese Geschichte von König Erich und seinem Lautenspieler früher schon öfters erzählt und immer das gleiche Leid geklagt. Ich habe inzwischen fleißig darüber nachgedacht und möchte dir nur eine Frage vorlegen: Hast du denn schon den Versuch gemacht, ob du nicht auch so unmittelbar die Leidenschaften der Menschen erregen könntest durch dein Spiel und ist dir der Versuch mißglückt?«

Baronius gestand, daß er's noch nicht versucht habe. Zugleich begann sein Auge zu leuchten und zu blitzen, seine Wangen röteten sich, sein ganzes Gesicht ward von Begeisterung überstrahlt. »Ja, daran liegt's,« rief er, »daß ich's noch nicht versucht habe; wenn ich's versuchte, es würde mir gelingen. Das fühle ich auf einmal mit einer inneren Gewißheit, die nicht trügt! Wahrlich, Freund, du hast mir den rechten Weg gezeigt.«

»So laß deine Laute holen,« rief der Senior in einem seltsam sarkastischen Ton, der aber dem schwärmerisch begeisterten Musiker ganz entging. »Flugs an die Probe.«

»An die Probe? Aber vor wem? Mit wem? Vor dir, Freund, ja, vor dir allein, das ist genug. Gleich jenem Tragiker, der nur einen Zuhörer zum Vorlesen seines Trauerspieles fand und ausrief: dieser[235] einzige sei ihm eine glänzendere Hörerschaft als das ganze Volk von Athen, denn es war Plato – gleich jenem Tragiker will ich in dir allein das entscheidende Auditorium finden, denn du warst es, der mir mit seiner Klugheit das rechte Licht angezündet in dieser Angstfrage meines Ehrgeizes, wo ich schon so lang im Dunklen tappte.«

»Ich bin nicht Plato, Freund,« erwiderte der Senior, »und für unsere Probe würde doch auch ein einzelner kaum genügen und wäre er selbst Plato in eigener Person. Sieh, da kommen Zuhörer. Der ganze Orden der Faßbinder wird hier aufziehen, fünfundzwanzig auserlesene Studenten, zu jeder Leidenschaft meist über das Maß aufgelegt, da kannst du erproben, wie weit der Zauber deiner Laute reicht.«

Quelle:
Wilhelm Heinrich Riehl: Geschichten und Novellen. 7 Bände, Band 1, Stuttgart 1899, S. 230-236.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Kulturgeschichtliche Novellen
Kulturgeschichtliche Novellen (German Edition)

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon