Vorwort.

Der Roman folgt dem Fortgange der Geschichtschreibung; Novellistik und Historik einer Epoche erläutern sich gegenseitig. So macht sich jetzt der mächtige Zug zur Kulturgeschichte bereits in der Romandichtung bemerkbar. Der populärste Historiker unserer Zeit, Macaulay, dankt wohl die Hälfte seiner Volksbeliebtheit der Kunst, womit er die Gesittungszustände einer Periode in ihrem inneren Zusammenhange – unter sich, wie mit der Staatsgeschichte – erfaßt und doch zugleich in ihren bunten Einzelgebilden mit dem Pinsel des Genremalers auszuführen weiß. Darum sagt man etwa vom dritten Kapitel seiner »Geschichte Englands«: es liest sich wie ein Roman. Denn dieses Kapitel glänzt eben durch kulturgeschichtliche Genremalerei.

Der Novellist mag hier einen Fingerzeig sehen. Unser historisches Gefühl erträgt es nicht mehr, daß man uns große Staats- und Kriegsaktionen im Romane[5] genrehaft ausmalt, daß die Haupthelden der Geschichte, deren Charaktere seit unseren Knabenjahren festgeformt vor unserem Geiste stehen, von dem Romandichter frei umgebildet, oder in ihren Zügen klein ausgearbeitet werden. Der Dramatiker, der sich der idealeren Form des Verses bedient, den die Bühne zwingt, nicht auszumalen, sondern sein Gebilde breit, in großen Umrissen anzulegen, – der Dramatiker darf uns einen im Aeußeren ungeschichtlichen Wallenstein oder Egmont bieten. Der Novellist dagegen, in der realistischen Prosa schreibend, gibt unserer historischen Bildung eine Ohrfeige, wenn er mit dem Anscheine, als erzähle er wirkliche Geschichte, weltbekannte Thatsachen umkehrt, und, nach Bedarf der Komposition, große Männer klein zuschneidet und kleine in die Größe zieht.

In der Tragödie begehren wir Wahrheit der historischen Idee; im Roman und der Novelle neben dieser inneren Wahrheit auch noch eine äußere des geschichtlichen Kostüms.

Die alten historischen Romane, welche uns weltgeschichtliche Ereignisse, die sich allenfalls dramatisieren ließen, episch in Prosa erzählen, sind uns darum jetzt trocken und hohl geworden oder unwahr.[6]

Mir dünkt, die Aufgabe der historischen Novellistik liege nach dieser Seite darin, auf dein Grund der Gesittungszustände einer gegebenen Zeit freigeformte Charaktere in ihren Leidenschaften und Konflikten walten zu lassen. Die Scene ist historisch. Es sind dann aber – kurz gesagt – erfundene Personen, die in den Vordergrund treten, die mit feinem Pinsel ausgemalt werden sollen, – eine erfundene Handlung, die sich episch frei gestalten kann, keine geschichtliche, wenigstens keine weltgeschichtliche. Denn in den Winkeln der Spezialgeschichte können wir allerdings noch Intriguen und Helden aufspüren, die novellistisch bildsam sind, ohne daß wir durch die poetische Freiheit das historische Bewußtsein der Nation beleidigen. Weltgeschichtliche Geschicke mögen von ferne hereinragen, weltgeschichtliche Personen im Hintergrunde über die Bühne des historischen Romanes schreiten. Der Boden aber, worauf sich die erfundene Handlung bewegt, ruhe auf den Pfeilern der Zeitgeschichte; die Luft, worin die erdichteten Personen atmen, sei die Luft ihres Jahrhunderts; die Gedanken, davon sie bewegt werden, seien ein Spiegel der weltgeschichtlichen Ideen ihrer Tage.

Dies nenne ich kulturgeschichtliche Novellistik.[7]

Hier läßt sich die innere Wahrheit der historischen Idee und die genrehafte Treue des historischen Kostüms vereinigen; aber auch nur hier. Der Dichter kann ein durchgebildetes Kunstwerk hinstellen, dem das kulturgeschichtliche Detail eine handgreifliche Lebensfrische gibt, deren das Drama entbehren muß; ein Kunstwerk, welches nicht bloß geschichtliche Zustände schildert, sondern in seinem Kern jenes höchsten sittlichen Inhaltes voll ist, der uns in jeglichem Menschengeschick die Hand des gerechten Gottes erkennen läßt. In solch echtem kulturgeschichtlichem Roman hat die Geschichte keine wächserne Nase und die Poesie behält doch Hand und Fuß. Ich lebe der Ueberzeugung, daß die Zukunft der modernen Epik in dem kulturgeschichtlichen Roman gegründet werden muß.

In meinen »kulturgeschichtlichen Novellen« habe ich dieses neue Feld in einer vielleicht neuen Weise urbar zu machen versucht. Ein Kulturhistoriker hat diese Novellen geschrieben, dem sie aus seinen liebsten Studien, aus seinen traulichsten Jugenderinnerungen so unter der Hand hervorgewachsen sind: würde sich nun diese Hand zugleich als eine künstlerisch gestaltende erweisen, dann könnte man's ein glückliches Zusammentreffen nennen.[8]

Vielleicht begehrt man Näheres über die Fundgruben, woraus ich das Material der Novellen geschöpft.

In dem »Stadtpfeifer«, »Ovid bei Hofe« und »Meister Martin Hildebrand« sind eine große Menge von Familienüberlieferungen verarbeitet. Nicht was ich in Büchern gelesen, sondern was ich als Knabe im großväterlichen und väterlichen Hause erzählen hörte von der guten alten Zeit, wie sich dieselbe im kleinbürgerlichen Leben eines kleinen Fürstensitzes des vorigen Jahrhunderts abspann, die Hausmärchen meiner Jugend waren es, womit ich diesen Erzählungen individuelle Farbe gab. In solchen mündlichen Ueberlieferungen sind oft die feinsten Züge zur kulturgeschichtlichen Charakteristik einer Epoche erhalten und – begraben. Durch die Novelle können sie lebendig bewahrt bleiben; durch das Geschichtsbuch nicht. Denn es sind diese Züge meist so innig mit bestimmten Personen und zufälligen Ereignissen verknüpft, daß der Kulturhistoriker, auch wenn er noch so speziell und genrehaft arbeitet, doch nichts damit anfangen kann. Der kulturgeschichtliche Novellist dagegen wird in diesen persönlichen Anekdoten und Charakteristiken oft gerade die leisesten Atemzüge vergangener[9] Geschlechter belauschen und uns ihr geheimstes Seelenleben in einer Wärme und Unmittelbarkeit mitempfinden lassen, bis zu welcher die Darstellungsmittel der Geschichte nicht mehr reichen.

Das historische Genrebild »Gräfin Ursula« gründet sich im Thatsächlichen auf die Mitteilungen, wie sie C.F. Keller aus neu eröffneten archivalischen Quellen in seinem Buche über den dreißigjährigen Krieg in Nassau (Gotha 1854) gegeben. Dieser wertvollen, für den Kulturhistoriker äußerst ausgiebigen Schrift verdanke ich auch den Stoff oder Anregung zu manchem Detail in den »Werken der Barmherzigkeit«.

Die Novelle »Amphion« (die lediglich wie die leichten »Vorspielscherze« unserer modernen Dramatiker angesehen sein will) beruht auf einer historischen Anekdote, die unter dem Artikel »Ernst Gottlob Baron« in jedem Tonkünstlerlexikon zu lesen ist. Barons Schriften, unvergängliche Denkmale der aufgeblasenen Pedanterie der Zopfzeit, gaben die Züge zu seiner persönlichen Charakteristik. Für die mit der musikalischen Spezialgeschichte minder Vertrauten bemerke ich nur, daß die ästhetischen Grillen, Bizarrerien und Ungeheuerlichkeiten, wie ich sie hier gezeichnet,[10] keineswegs Karikatur sind. In den Tagen Handels und Bachs ist die Modemusik und das Virtuosentum wirklich bis zu dieser Stufe künstlerischen Wahnwitzes aufgestiegen, ja ich habe eher gemildert als karikiert. Uebrigens verwahre ich mich feierlich gegen die Unterstellung, daß »Amphion« eine Tendenznovelle sei, und als habe ich etwa in dem Virtuosen Baronius eine Satire auf Franz Liszt und in dem mit symbolischer Musik gedankenmalenden Komponisten Baronius eine Satire auf Richard Wagner schreiben wollen. Nur die Zöpfe des achtzehnten nicht des neunzehnten Jahrhunderts habe ich gezeichnet.

Zu der kleinen Erzählung »Im Jahr des Herrn« wurde ich durch die Fulder Annalen angeregt. Wenn man das bald strohdürre, bald alttestamentlich schwülstige Mönchslatein unserer alten Annalisten liest, dann fühlt man sich doch manchmal seltsam bewegt, durch einen frischen Hauch aus dem deutschen Urwald, der plötzlich in die schwüle Luft der Klosterzelle hereinweht. Das empfand ich recht lebhaft bei der in den Annalen kannibalisch rohen und dennoch anziehenden Anekdote, die meiner Erzählung zu Grunde liegt. Ich suchte menschlich und sittlich zu gestalten, was der Mönch von Fulda als[11] eine That fast der reinen Bestialität berichtet, und doch mich den Personen jenes Gepräge der Urfrische und Urkraft zu bewahren, das uns selbst in der Wüstenei der späteren karolingischen Zeit noch als das Vermächtnis einer edleren Vergangenheit und als die Verheißung einer besseren Zukunft erquickt.


München, am 18. März 1856.

W. H. R.[12]

Quelle:
Wilhelm Heinrich Riehl: Geschichten und Novellen. 7 Bände, Band 1, Stuttgart 1899.
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