Die Bücher zum wirklichen Leben

[Zuschrift an den Buchhändler Hugo Heller]


Der kurzen Beantwortung Ihrer Rundfrage muß ich, um nicht unverständlich zu sein, eine Anmerkung von ganz persönlicher Art voranstellen.

Eine Reihe von Umständen ließ mich nie zu jener Leichtigkeit im Umgang mit Büchern kommen, die junge Leute sich in einer gewissen Zeit mühelos und fast wider ihren Willen aneignen. Noch jetzt sind meine Beziehungen zu Büchern nicht ohne Befangenheit und es kann geschehen, daß ich mich in großen Bibliotheken geradezu einer feindlichen Übermacht[1020] ausgeliefert fühle, gegen welche jede Gegenwehr eines einzelnen sinnlos wäre.

Jedenfalls hatte ich nur wenig und schlecht gelesen, als Jakob Wassermann mir im Jahre 1897 von »Niels Lyhne« sprach. Ich glaube, er nannte mir damals auch Turgenieff und Dostojewski. Letzterer ist mir später sehr wichtig geworden, als ich, durch sein Land und seine Sprache bis zum äußersten auf ihn vorbereitet, die »Armen Leute« las und wiederlas und schließlich einen Teil dieses ahnungslos genialen Buches übersetzte.

Aber das war zu einer Zeit, da ich schon »Niels Lyhne« gelesen hatte und alles, was von Jacobsen besteht. Ich weiß nicht zu sagen, woran ich diese Bücher erkannte; aber ich war entschlossen, mit ihnen zu leben, und nun, da Sie fragen, habe ich die Antwort leicht: Jacobsens schöne und unerschöpfliche Bücher sind es, die bestimmend auf mich gewirkt haben.

Natürlich sind unter den vielen, zum Teil anonym bleibenden Einflüssen, die ununterbrochen an uns arbeiten, auch andere Bücher gewesen. Ich nenne sie nicht, denn in demselben Maße, in dem sie auf mich wirkten, wiesen sie mich auch schon, über sich fort, an die Natur, seit die Dichtungen des großen Dänen mir diesen Weg eröffnet hatten. Um so mehr Grund habe ich, sie allein hier anzuführen. Denn ihnen zuerst verdanke ich die Bereitschaft zu unwählerischem Schauen und die Entschlossenheit, zu bewundern; und sie stützen in mir, seit ich sie liebe, die innere Gewißheit, daß es auch noch für das Leiseste und Unfaßbarste[1021] in uns in der Natur sinnliche Äquivalente giebt, die sich müssen finden lassen. Die Bibel hat erst später auf mich gewirkt und eines Tages, plötzlich: Ibsen.[1022]

Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 6, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 1017-1018,1020-1023.
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