Bilderlingshof

[266] Ich wollte, ich mußte fort aus Halswigshof. Fanjka hatte mir ihr zweistöckiges Sommerhaus in Bilderlingshof zur Verfügung gestellt, das im Herbst und Winter sowieso leer stand. Sie wie Wanjka rieten mir zwar dringend davon ab, dort zu wohnen. Ich würde vor Kälte umkommen. Aber ich hatte darauf bestanden und führte nun schon die Schlüssel in der Tasche.

Der Abschied von Halswigshof war so, wie er ohne Seebach sein mußte. Das Gesinde hatte keine Gelegenheit, mir Zuneigung auszudrücken. Mit der Baronin speiste ich noch einmal an der Bahnstation. Sie war aufrichtig gütig bis zum letzten Moment. Sie war die Perle der Baronei und der Idee Halswigshof.

Auf der Fahrt nach Riga und von dort nach Bilderlingshof sprach ich ein Mädchen an und nahm es mit mir. Austria, eine komische, beschränkte Jüdin. Wir logen uns gegenseitig an, aber spürten dabei eine unraffinierte Sympathie füreinander.

In Bilderlingshof trug mir ein dunkler Mann meinen schweren Rohrplattenkoffer durch Dunkelheit und Dünensand nach dem Holzhaus. Ich fand alles von Fanjka mit liebevoller Fürsorge vorbereitet, packte aber vorläufig nur Frack und Waschutensilien[266] aus, weil ich mich Austria widmen und sie andererseits überwachen wollte. So, wie sie sich nach Laune mit umherliegenden Sachen kostümierte, sah sie reizend aus. Doch sie war märchenhaft dumm. Sie hatte falsches Haar. Ich bestand darauf, daß sie das in eine Tüte verpackte.

Am nächsten Morgen entließ ich Austria mit Geschenken, indem ich eine eifersüchtige Ehefrau vorschützte. Als sie fort war, genoß ich zum erstenmal voll und innig, daß ich allein ein ganzes Haus bewohnte, sozusagen besaß. Ich überheizte den Ofen mit schönen Klötzen von Buchenholz und lief hinaus auf die Straße, die aus Dünensand mit einem Trottoir aus Holzbrettern bestand, um mir »den Rauch meiner Hütte« anzusehen. Und wieder einmal genoß ich zutiefst das Robinsonglück einsamer Freiheit.

Ich packte meine Sachen aus und richtete mich ein. Von den letzten Rubeln kaufte ich mir Leberwurst, Brot und Feuerholz. Einige türkische Zigaretten besaß ich noch. Dann durchforstete ich mein neues Reich, fand eine Spieluhr, die den Faustwalzer spielte. In der Veranda, wo es so kalt war, daß ich meinen Hauch sah, schrieb ich an Biegemann und teilte ihm meine Adresse mit. Draußen regnete es. Ich hörte das Meer brausen und kämpfte vergeblich gegen eine wachsende Melancholie an.

Mitunter fuhr ich nach Riga, meistens um zunächst mal meinen Chapeau claque oder Kleidungsstücke zu versetzen, oder auch wieder einzulösen. Hinterher verlebte ich mit Fanjka und Wanjka frohe Stunden, einmal auch ein Fest in der »Kunstecke«. Das »Fest im Hut« hieß es. Eine Dame, à la directoire gekleidet, tat mir's an. Auf diesem Fest sah ich auch Peter von Osten-Sacken wieder.

Manchmal besuchten mich Fanjka und Wanjka in Bilderlingshof. Ich erwartete sie immer sehnsüchtig. Denn die Einsamkeit ertrug ich nicht lange. Es wohnten ja nur ungebildete und unfreundlich gesinnte Letten um mich, kein einziger Mensch, mit dem ich einmal ein Wort austauschen konnte.

Der Briefträger kam einmal am Tag von weither. Ich erwartete ihn, wie ein Tier im Zoo den fütternden Wärter erwartet. Es gelang mir nicht, mich zum Schreiben zu zwingen. Nur Briefe schrieb ich. Nach München und nach Leipzig und lange, herzliche Briefe an Ingeborg und Biegemann. Dann wartete ich wieder auf Antwort, auf Nachricht, auf Menschen. Ich ging in der Glasveranda wie ein gefangenes Tier auf und ab. Ich ließ die Spieluhr tönen, preßte[267] meine Stirn an die kalte Fensterscheibe und spähte auf die Straße, ob jemand käme.

So verging der November. Von Seebachs kam kein Brief. Ich kam mir oft ganz fern und verlassen vor. Und die Geldsorgen nahmen mir alle Ruhe.

Dezembertage vergingen. Als ich wieder einmal nach Riga fuhr, zeigte mir Fanjka einen Zeitungsausschnitt. »Etwas Trauriges«, sagte sie. Ich las, daß die Freifrau Ingeborg von Seebach, geborene Nolcken, in Königsberg verschieden sei. Ganz langsam kam eine tiefe Trauer über mich. Was war das für ein rätselhafter Tod. Lag da ein Unglücksfall vor, ein Selbstmord? Ich telephonierte an die Baronin Nolcken, ob ich zu ihr kommen dürfte.

Am nächsten Tag war nach deutscher Rechnung der Heilige Abend. Ich war von Schmerz erfüllt. Auch besaß ich gar kein Geld mehr.

Wanjka und Fanjka besuchten mich. Sie brachten mir liebevolle Überraschungen, auch einen Kiefernzweig als Christbaumersatz. Wir gingen an den Meeresstrand. Dort lag noch das Wrack, schon etwas zerfallen, und nun vereist. Wir lagerten uns in der Nähe, steckten brennende Lichter in den Schnee und sprachen Gutes. Als wir dann gingen, sahen wir uns noch oft nach diesen Lichtern um.

Fanjka lieh mir drei Rubel, daß ich nach Halswigshof fahren konnte. Von Plattform 59 aus benutzte ich einen Bauernschlitten, der mich bis Jungfernhof fuhr. Dort ließ ich mich über die Düna setzen und legte die letzte Strecke zu Fuß zurück. Durch dick verschneiten Wald. Weihnachten war es.

Ich traf den Kaufmann Abramowitsch. Er erzählte, der Sarg mit der toten Ingeborg sei soeben angelangt, mit Tannenreisern verziert. Der Sarg wäre aus doppeltem Zink, und Nolcken und Seebach hätten ihn in einem Boot von Königsberg bis Halswigshof gefahren. Dann begegnete ich dem Gärtnerspaar und drückte den guten Menschen die Hände. Sie waren damit beschäftigt, in der Kuhallee links und rechts Tannenbäume aufzustellen.

Im Musikzimmer saß die Baronin mit Seebach und Fräulein Dieckhoff. Seebach erwiderte meinen Händedruck »Sag' nichts«. Ich konnte auch nichts sagen. Dann kam die Krankenschwester mit dem Baron.

In dem Zimmer, wo noch vor kurzem ein Traualtar gestanden hatte, stand nun der Sarg. Mit einem weißen Damast bedeckt, der mit Tannenreisern und Nelken besteckt war. Auf einem Aufbau[268] dahinter brannten Kerzen in großen Leuchtern und leuchteten Blumen, die niemand freuten.

Alle Dienstboten begrüßten mich freundlich. Ich fragte Karling, wie Biegemann mit Ingeborg gelebt hätte. »O glücklich, o sehr glücklich!« sagte sie. Dann erzählte mir die Baronin ungefragt Näheres. Herzlähmung, nachts plötzlich Erbrechen, Kopf- und Brustschmerzen. Inges Augen fingen an zu flackern. Seebach holte einen Arzt, der aber nichts Bedenkliches fand. Biegemann mußte ihn aber bald nochmals holen und einen zweiten Arzt dazu. Ingeborg erkannte Seebach nicht mehr, verlor das Bewußtsein, war auf einmal tot. Seebach depeschierte an die Baronin »Ingeborg schwer erkrankt«. Und dann »Alles aus«, und dann nach Danzig an seine eigene Mutter »Mutter komme! Ingeborg eben gestorben.«

Die treue Karling saß mit Biegemann am Sarg, las im Gesangbuch. Seebach sagte: »Geh schlafen.«

Karling warf sich schluchzend über den Sarg. »Ich kein Schlaf.«

»Jetzt will ich es einmal umgekehrt machen«, sagte Biegemann und küßte der Dienerin die Hand. Dann schickte er sie fort. Er war selbst zum Umfallen erschöpft. Ich löste ihn ab, hielt die Totenwache von ein Uhr nachts bis acht Uhr früh, und ich steckte eine Nelke von dem Sarg zu mir.

Um acht Uhr gesellte sich mir wieder Seebach zu. Wir sprachen noch eine Weile zusammen. Ingeborg – von ihren Angehörigen streng behütet – war eine heimliche Trinkerin gewesen. Sie hatte, was niemand, auch Biegemann vor der Hochzeit nicht wußte, Eau de Cologne getrunken.

»Biegemann, warum habt ihr mir nicht einmal ein Wort geschrieben?« fragte ich nicht ohne Bitterkeit.

»Ich weiß nicht, wir lebten wohl zu sehr im Glück. Als Mangolds Teppich ankam, haben Inge und ich noch im Nachthemd darauf getanzt.«

»Biegemann, du hast ein gutes Herz. Aber es hat keine Flügel.«

»Ja, mir mußte alles mißlingen. Nun war ich in meinem Leben endlich einmal dazu gekommen, einen Beruf anzufangen.«

Mittags trafen Kampenhausen, Preston und andere Freunde ein, auch der Pastor.

Nach der Andacht wurde der Sarg vom Baron Nolcken, Seebach und anderen Freunden durch die verschneiten, mit Tannengirlanden verzierten Alleen nach dem Waldfriedhof getragen und dort bei Fackelschein versenkt. Ich warf ein grünes Zweiglein in die Grube[269] und ging zu Fuß mit den Letten hinter dem Schlitten her zurück.

Andern Tags nahm ich stillen Abschied von Seebach und den anderen. Der Baron Nolcken konnte zum Schluß noch eine häßliche Bemerkung nicht unterdrücken, die meine Totenwache betraf. Aber die Baronin gab mir ein Tannenbäumchen mit und hausschlachtene Wurst, und sie sagte noch: »Ich danke Ihnen für Ihr warmes Herz.«

Es war der Tag nach der Wasserweihe. In meinem Coupé saßen vier Soldaten in bauschigen, kamelbraunen Mänteln. Sie knackten wie Maschinen Haselnüsse im Mund und lachten roh übers ganze Gesicht. Daneben ein dick vermummtes, lettisches Weib mit runden Backen und einem großen, mißförmigen Bündel auf dem Schoß.

In Bilderlingshof brachte ich ein Zimmer durch starkes Einheizen auf dreizehn Grad Kälte. Ich hupfte währenddessen von einem Bein aufs andere und mußte von Zeit zu Zeit meine Hände in den Hosentaschen wärmen.

Ich fuhr nach Riga, besuchte Fanjka und bestieg dann den Vorortszug, um zurückzufahren. In meinem Coupé saß zwischen lettischen Arbeitern ein älteres Ehepaar, das ich an ihrer Sprache als reichsdeutsch erkannte. Als der Zug sich in Bewegung setzte, wußte ich, daß es nach deutschem Kalender die Silvesterstunde war. Ich sagte halblaut »Prosit Neujahr«. So lernte ich zwei nette Menschen namens Böttcher kennen, die in meiner Nähe wohnten.

Es wurde noch kälter. Nun verstand ich Fanjkas und Wanjkas Warnung, nicht in das kalte Holzhaus zu ziehen. Ich heizte den Ofen. Ich zündete einen Petroleumofen und alle Kerzen an, die ich fand. Ich heizte mein Bett, indem ich nachts alle aufzutreibenden Decken und Vorhänge über mich zog und erst einmal minutenlang luftabgeschlossen hauchte. Das Brot war wie Stein. Die Butter bröckelte wie Sand. Der artesische Brunnen im Hof war zugefroren. Wenn ich Kaffee oder Würstchen kochte, dann zunächst nicht in Wasser, sondern auf Eis. Eis hatte die Wasserflasche zersprengt. Morgens war die Ofentür festgefroren. Den Klosettdeckel mußte ich jedesmal mit dem Beilrücken losschlagen. Vom Petroleumofen war das einzige in Frage kommende Zimmer mit Rauch und Gestank angefüllt. Aber ich wagte nicht zu lüften.

Und immer mal wieder kein Geld. Ich wartete. Ich wartete. Auf Wanjka und Fanjka, die mir immer wieder aushalfen, so gut sie's vermochten. Und auf den Briefträger, der meist nicht das brachte,[270] worauf ich wartete. Kam dann ein Geld, von Seelchen, oder ein Honorar, dann fuhr ich eiligst nach Riga, löste meinen Chapeau claque oder die goldenen Manschettenknöpfe wieder ein und zahlte geliehene Gelder zurück. Dann genoß ich noch ein wenig das Leben unter gebildeten Menschen und kehrte mit dem letzten Zug in mein selbstgewähltes Exil zurück.

Es gab eine Wirtschaft in Bilderlingshof, aber im Winter verkehrten dort nur die ansässigen Letten, die gegen ihre deutschen und russischen Bedrücker feindselig eingestellt waren. Sonst nur ein paar unsaubere Handelsjuden.

Dem Schuster Pix brachte ich meine Schuhe zur Reparatur. Er bewohnte eine armselige, verqualmte Bude, in der tausend Gegenstände umherlagen und hingen, darunter eine Trommel, eine Gitarre, eine Mandoline. Während er meine Schuhe reparierte, spielte ich Mandoline, mit wildem Temperament. Nur um mich zu erwärmen.

Es wurde noch kälter. Mit Hammer und Kerzenflamme mußte ich morgens die angefrorene Ofenklappe freimachen. Ich war körperlich sehr zäh. Aber innerlich litt ich unter dem Warten auf Geld und dem Grübeln über die Zukunft.

Ein Haus in der Nachbarschaft brannte ab. Ich entnahm einem Gerede, daß es sich um Brandstiftung handelte. Zwei Rubel trafen ein. Ich fuhr nach Riga und sah mir im Russischen Theater »Der lebende Leichnam« an. Alle Mitwirkenden spielten gleich gut, so daß ich keinen Moment außer Bilde war, obwohl ich den Text nicht verstand.

Dann war ich wieder irgendwo mit Wanjka und Fanjka und deren Freunden zusammen. Es gab russische Fastengerichte, gebratene »Nigger« oder so ähnlich und »Baslick« oder so ähnlich und »Gurken-Nieren-Suppe« oder so ähnlich.

Der »März« akzeptierte »Gepolsterte Kutscher und Rettiche«. Das Gedicht »Freundschaft« wurde von allen Redaktionen abgelehnt.

In meinen derzeitigen, nicht täglichen, aber doch häufigen Aufzeichnungen steht folgende Notiz, die ich mir absolut nicht mehr ausdeuten kann: »Neues Haus. Blut auf der Treppe. Austern. Melitta eine Estin.«

Austern? Mir gar nicht aus der Zeit erinnerlich. Ich hatte einen Mäzen. Einen Metzgermeister, der einmal in der Woche aus Edingburg zum Markt herüberkam und ein Reichsdeutscher war.[271]

Wenn ich an dessen Stand trat, um eine Kleinigkeit zu kaufen, begrüßte er mich lebhaft deutsch, sagte aus weitem Herzen rauh: »Landsmann, willst du was Schweinernes? Ein Kotelett?« Und schon hieb er mit großen Beilschlägen fünf Rippen aus einer Schweinebrust. Reichte sie mir ohne Papier und reichte mir seine große, blutbefleckte Tatze. »Kostet nichts, Landsmann; auf Wiedersehen.«

Wie war ich manchmal reich in Armut.

Ich wartete dringend auf zweihundert Mark, die mir der Maler Seewald aus München schicken sollte und die meinen Honoraranteil für die »Schnupftabaksdose« darstellten.

Wieder einmal versetzte ich meine Manschettenknöpfe in Riga, um mit Fanjka und Wanjka und deren Freundin Säuberlich ein Maskenfest mitzumachen. Als Zigeunerin hatte ich mich verkleidet, trug eine schwarze Perücke und am Arm ein Körbchen mit Knöpfen, Zwirnsrollen und Nähnadeln. Davon hatte ich schon auf der Fahrt nach Riga einiges an lettische Arbeiter verkaufen müssen, weil sie mich für echt hielten und ich sie nicht enttäuschen mochte. Einigen mußte ich sogar wahrsagen. Ich tat das gern und gutgespielt, weil ich froher Stimmung war. Als ich aber am nächsten Morgen müde und in meinen dünnen Kleidern sehr frierend und durch allerlei Mißgeschick verärgert nach Bilderlingshof zurückkehrte und unter den lettischen Frühaufstehern Aufsehen erregte, belästigt und wiederum verteidigt wurde, da hatte das Maskenspiel ein häßliches Ende und erfüllte mich mit Abscheu und Reue.

Frau Dora Kurs in Eisenach kümmerte sich nach wie vor eifrigst um mein Schicksal. Nun schrieb sie, daß sie durch die Zeitung eine Stellung für mich als Privatbibliothekar ermittelt hätte. Sie hatte einem Grafen Yorck von Wartenburg meine Adresse mitgeteilt, damit er sich direkt an mich wenden könnte.

Auf dieses Schreiben wartete ich nun aufgeregt. Und es traf eines Tages ein, das heißt nur ein leerer Briefumschlag, aus dem gräflichen Fideikommiß. Ich fragte den Briefboten, wo der Inhalt des Kuverts wäre. Er zuckte die Achseln.

Wanjka lachte, als ich ihr die Geschichte erzählte. »Gib ihm fünfzig Kopeken«, sagte sie.

Am nächsten Tage zeigte ich dem Briefträger nochmals das leere Kuvert und schenkte ihm fünfzig Kopeken. Am übernächsten Tag hatte er den Brief zu dem Kuvert gefunden. Graf Yorck von Wartenburg fragte nach meinen Vorkenntnissen und erbat Zeugnisse.[272] Die ließ ich mir aus München zuschicken. Auch Seebach stellte mir ein Empfehlungsschreiben aus.

Ich hungerte und fror. Wanjka und Fanjka veranlaßten Freunde, mir diskret zu helfen. So kam ich in den Besitz eines kostbaren Schlittenpelzes aus Persianerfell. Du lieber Gott, ich zog ihn morgens zum Holzhacken und Heizen, zum Aufwaschen und Scheuern an. Er war so herrlich warm.

Ein Redakteur einer deutschen Zeitung in Riga forderte mich auf, doch einmal ein Feuilleton für sein Blatt zu schreiben, irgend etwas aus meinem Leben in Bilderlingshof. Das feuerte mich an. Ich verfaßte eine Skizze »Von Schuster Pix bis zum Nordpol«. Zwei Tage arbeitete ich daran. Der Redakteur schrieb mir, daß es ihm sehr leid täte, mir nur acht Rubel dafür zahlen zu können, denn er sehe wohl, daß ich seinen Auftrag viel zu schwer genommen und statt einer journalistischen Plauderei ein Dichtwerk geliefert hätte.

Acht Rubel waren viel für mich, aber sie schmolzen in meinen Schulden rasch dahin. Ich konnte die lettische Waschfrau noch immer nicht bezahlen. Auch nicht, als ich aus Deutschland einen Zwanzigmarkschein erhielt. Denn den Arzt, den einzigen Deutschen in der Gegend, der mir den Schein hätte umwechseln können, traf ich am Vormittag nicht an. Mittags schickte die Waschfrau fünf lettische Männer mit Knüppeln in mein Haus. Ich sah sie kommen, versteckte mich und öffnete nicht, solange sie auch läuteten. Sie aber ersahen aus den Schneespuren, daß ich ins Haus gegangen war und es nicht wieder verlassen hatte. Sie fluchten wild und versuchten, die Tür mit Fußtritten einzuschlagen. Ich hörte es zitternd in bösem Gewissen. Die Tür war solid, und die Letten zogen endlich ab.

Ich wartete auf die zweihundert Mark von Seewald, preßte die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe, spähte nach der Straße. Ließ den Faustwalzer spielen, ging stundenlang in der Veranda auf und ab und kam mit meinen Grübeleien auf mißtrauische Gedanken, die dem redlichen Seewald sehr unrecht taten.

Die Korrespondenz mit dem Grafen Yorck spann sich weiter. Wieder traf ein leeres Kuvert von ihm ein. Diesmal gab ich dem Briefträger sofort fünfzig Kopeken, und er zog sofort ganz schamlos den fehlenden Brief hervor. Ich nahm ihm das nicht einmal übel. Durch die Post nur konnte meine Rettung aus dieser tödlichen Einsamkeit kommen.

Sonntags wurde keine Post ausgetragen. Da ging ich zu Fuß an[273] den Eisenbahnschienen entlang, drei Werst weit bis Majorenhof. Vor dem Posthaus traf ich den jungen Postgehilfen an, wie er nasse Holzstückchen aus dem Schnee auflas. Da er deutsch sprach, fragte ich, was sein Tun bedeute. Holz war doch so billig im Baltenland, daß man sogar die Lokomotiven mit Buchenholz heizte. Der Gehilfe klärte mich auf. Selbstverständlich stand seinem höheren Chef ein Geldfonds für Heizmaterial zur Verfügung. Selbstverständlich unterschlug dieser Chef dieses Geld. Ich ging in Gedanken den Weg von oben nach unten bis zu dem leeren Kuvert.

Nichts hatte ich mehr zum Versetzen. Mit Mühe brachte ich so viel Geld zusammen, daß ich nach Riga fahren konnte, um Wanjka nochmals anzupumpen, was mir nachgerade sehr peinlich wurde. Ich traf sie nicht an. So irrte ich den ganzen Nachmittag trostlos in den Straßen umher. Abends begegnete mit Wanjka. Sie war in Begleitung ihres Freundes. Ich genierte mich, mein Anliegen vorzubringen und tat auch so, als wäre ich eben angekommen und gar nicht in Wanjkas Wohnung gewesen. Wanjka aber unterbrach mich erstaunt und sagte laut vor dem Baron: »Warum lügst du denn? Ich weiß doch, daß du bei mir warst. Wahrscheinlich brauchst du Geld. Das kannst du doch offen sagen.«

Wanjka war ein Mädchen, ist heute eine Frau und nach wie vor eine treue Freundin von mir, der ich nicht eine einzige Lüge nachweisen könnte, nicht mal eine Lüge aus Höflichkeit oder Rücksicht.

Ich wartete auf die zweihundert Mark, auf die ich doch ein ehrliches Anrecht hatte.

Ich depeschierte an Seewald, lustig, dann dringend, dann drohend.

Ein vorwurfsvoller und doch gütig beherrschter Brief meines Vaters traf ein. Fanjka, die selbst nichts mehr für mich tun konnte, hatte heimlich an ihn geschrieben, meine Lage geschildert und ihm nahegelegt, mir doch das Geld für die Rückfahrt nach Deutschland zu schicken. Vater teilte mir mit, daß er seinen Rigenser Freund, den Bankier und Dichter Julius Meyer, beauftragt hätte, mir das Reisegeld auszuzahlen. Fanjka hatte in bester Absicht gehandelt, aber ich war sehr aufgebracht darüber, daß sie das hinter meinem Rücken getan hatte. Ich sandte meinem Vater ausführliche Erklärungen über meine Lage, erwähnte die zweihundert Mark vom Piper-Verlag und meine sichere Aussicht auf eine Stellung als[274] Bibliothekar. Ich dankte ihm für das Geld und versprach, es ihm pünktlich zurückzuzahlen.

Dann suchte ich Herrn Meyer auf. »Der durstige Meyer« wurde er genannt, weil er einen guten Tropfen liebte. Er hatte auch gute Gedichte geschrieben. Sehr freundlich und wohltuend humorvoll nahm er mich auf und führte mich sogar abends in einen Klub ein, der sich Krakenbank nannte. Bei jeder Sitzung mußte ein Mitglied seinen Geburtstag feiern, ganz gleich, ob das zeitlich stimmte oder nicht, und bekam dann eine ehrenvolle Halskette leihweise umgehängt. Das Vereinslokal lag unter der Erde, die Wände waren mit Seeungeheuern bemalt. Auf einem hohen Bord standen heilig bewahrt die Stammkrüge verstorbener Mitglieder.

Die Briefe des Grafen Yorck waren von ausgewähltester Höflichkeit. Ich bemühte mich, es ihm gleichzutun und redete ihn in meinen Antworten mit Erlaucht und in der dritten Person an, obwohl ich herausgebracht hatte, daß ihm das gar nicht zukam.

Ich wurde als Bibliothekar au pair bei ihm engagiert.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 6: Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S. 266-275.
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