Einjährig-Freiwilliger

[187] Herr Ristelhüber nahm mich wieder in seinem Geschäft auf, zahlte mir aber diesmal weniger Gehalt. Ich war eifrig. Auf Botengängen lernte ich neue Stadtteile Hamburgs kennen.

Weihnachtsgeschenke von den Eltern und Geschwistern trafen ein. Wie anders war mir dieser Heilige Abend als der im verflossenen Jahr. Mein Chef hatte mich zu sich eingeladen. Außer seiner Frau war auch noch die Tochter mit ihrem Bräutigam zugegen. Alles warme und rege Menschen. Ein Tisch voll reicher Gaben war für mich aufgebaut. Fräulein Ristelhüber sang schön, und mein Chef trank auf das Wohl meines »prächtigen« Vaters. Er war sehr lustig aufgelegt und unterbrach mich mit freundlichen Klapsen, wenn ich etwas von Dank äußern wollte.

Ich ging ins einundzwanzigste Jahr und mußte nach Kiel fahren, um mich dort auf Diensttauglichkeit untersuchen zu lassen. Anfangs zu meinem Schrecken, dann aber zu meiner Freude, auf jeden Fall aber zu meiner Verwunderung wurde ich angenommen und auch gleich dort behalten, durfte nicht erst noch einmal nach Hamburg zurück. Ich verabschiedete mich schriftlich von Herrn Ristelhüber.

Mit dreizehn anderen Einjährigen kam ich zur Zweiten Kompanie der Ersten Matrosendivision. Die meisten dieser Einjährigen waren wenig gebildete Leute. Sie hatten das Examen auf der Steuermannsschule gemacht. Dafür waren sie gute Seeleute.

Wochenlang sollten wir die Kaserne nicht verlassen. Wir badeten, wurden rasiert, eingekleidet und instruiert. Unsere Zivilsachen schickten wir heim.

Nun begann der stramme Dienst bei der Kaiserlichen Marine. Um sechs Uhr morgens weckten uns Tambour und Spielmann mit der laut tönenden Melodie »Freut euch des Lebens«. O Gott! Es war gar nicht Zeit, sich des Lebens zu freuen. Rasend schnell mußten wir uns waschen, rasend schnell anziehen, rasend schnell alles Weitere ausführen. Stiefel putzen, Strohsack in Ordnung bringen, Kaffee mit trockenem Brot hinunterschlingen, Wasser holen, Stube fegen usw. Dann Instruktionsstunde, zunächst über das Thema »Militärischer Gruß«. Dann Freiübungen, Kopfrollen, Rumpfbeuge. Dann exerzieren, daß die Knochen sich bogen und die Gelenke knackten. Mir[188] fiel das leichter als den anderen Dreizehn, weil ich der Jüngste war. Ich war auch der Kleinste und deshalb linker Flügelmann. Es gab sich leider so, daß ich alle Wochen einmal mit dem baumlangen rechten Flügelmann zusammen die großen und überfüllten Pißkübel, die nachts im Korridor aufgestellt waren, vier Treppen hinab auf den Hof tragen mußte. Ich kam dann nie mit trockenen Strümpfen zurück.

Mittags ein Gang, Steckrüben oder dergleichen, an glücklichen Tagen Erbsen. Dann Zeugwäsche, ordnen, die einzelnen Kleidungsstücke und Ausrüstungsgegenstände mit Stempeln versehen oder Namenläppchen hineinnähen usw. Zum Abendbrot Tee mit trockenem Brot. Mit dem Zapfenstreich neun Uhr zu Bett. Und dazwischen immer wieder Appell, Musterungen, Abzählen usw.

Für Geld erhielt man in der Kantine besondere Lebensmittel. Für Geld übernahmen die Feldwebelsfrauen das Einnähen der Namenläppchen. Wer Geld hatte, gab seine Wäsche an Waschfrauen, denn sonst mußten wir sie in kaltem Wasser waschen. Wir bekamen alle Dekaden ein paar Pfennig Löhnung. Damit war nicht auszukommen, obwohl wir weder eine Extra-Uniform tragen, noch eine Privatwohnung halten durften. Vater zahlte mir monatlich fünfzehn Mark, und Mutter sandte Freßkisten. Zivilschuhe wurden erlaubt, wenn ihre Bauart gewissen Vorschriften entsprach. Wir lernten eine Million Vorschriften auswendig.

Ich lag mit elf Einjährigen in einer Stube. Hinter einer Schrankwand hausten ein Obermatrose und ein Obermaat. Die erzogen uns und sammelten Geld von uns zum Einkauf von Gardinen, Spindtapeten u. dgl. Denn die Stuben wetteiferten miteinander in bezug auf Sauberkeit und Schmuck.

Mit der Zeit wurden wir geimpft, erhielten Gewehre, dann fand die feierliche Vereidigung statt. Wir durften nun abends allein die Kaserne verlassen.

Im militärischen Gewimmel in den Straßen Kiels gab's dann zunächst die komischen oder folgenschweren Verwechslungen beim Grüßen der Vorgesetzten. Wir hielten einen betreßten Hotelportier für einen Admiral und umgekehrt und ähnliches.

Zu Kaisers Geburtstag war großer Trubel. Man gab uns Kuchen und Schokolade und zu Mittag pro Mann ein Streifchen Renntierbraten sowie eine Flasche Bier. Die Hauptfeier fand abends in einem großen Etablissement statt, wozu der höchste Admiral und die Offiziere mit ihren Damen erschienen. Die Mannschaften[189] durften sich Köchinnen und andere Mädchen mitbringen. Theatervorstellung, lebende Bilder. Dann großer Ball. Alles in Gala, wir Matrosen in Paradeuniform. Ich fühlte mich aber sehr einsam. Weil ich nicht tanzen konnte, kehrte ich schon um elf Uhr in die Kaserne zurück.

Unsere Freude an unseren Uniformen war natürlich anfangs eine sehr stolze gewesen. Wir alle hatten uns bei der ersten, sich bietenden Gelegenheit photographieren lassen, mit fürchterlicher Seeschlacht im Hintergrund. Da aber in Kiel nur wenig Zivilisten, hingegen Tausende von Marinern waren, merkten wir bald, daß ein Matrose dort keine Rolle spielte. Die Mädchen nannten uns verächtlich »Kulis« und sahen nur nach den Offizieren. Und die Kaufleute, die doch von uns lebten, wußten, daß wir auf sie angewiesen waren und behandelten uns hochmütig. Andererseits war auch ein unbeschreiblich rohes Pack unter uns. Eine Dame durfte sich nachts nicht auf die Straße wagen, wo die Urlaubsboote anlegten.

Mir fiel der Dienst nicht schwer, zumal wir einen sehr netten Sergeanten hatten. Er redete uns zwar nur mit »dämliches Roß«, »Schwammnase« oder »Besoffene Lerche« an, aber das kam nicht von Herzen. Ich hoffte im stillen, nach meiner Ausbildung nach Südwestafrika abkommandiert zu werden, wo damals die Hereros aufständisch waren.

Meta Seidler sandte mir folgende Zeitungsnotiz zu:


»Einem Schiffsjungen namens (mein Name war entstellt) scheint das Seefahren im letzten Augenblick leid geworden zu sein. Er war im Oktober 1902 für das Schiff ›Ramses‹ angenommen worden, hatte auch seine Effekten bereits an Bord gebracht, trat aber die Reise nicht mit an, ließ seine Sachen im Stich und kümmerte sich auch später nicht darum, trotzdem er einige Zeit nach der Ausreise des Schiffes hier noch gesehen worden ist. Wer über ihn, der ein Süddeutscher sein soll, Auskunft geben kann, wird gebeten, dies im Stadthause, Zimmer 27, zu tun.«


Ich wußte, daß ich eine recht gute Ausrüstung an Kleidern und Wäsche, außerdem einen See-Atlas und sonstige praktische Gegenstände auf der »Ramses« zurückgelassen hatte. Das sollte ich nun wiederbekommen. Ich schrieb der Polizei meinen Aufenthalt und bat, meinen Kleidersack dem Heuerbas Krahl in Hamburg auszuliefern. Der bewahrte ihn dann ein paar Wochen auf und sandte ihn meiner Mutter zu. Die schrieb: Was ist mir da für ein[190] abscheulicher Sack zugesandt, für den ich viel Geld zahlen mußte und der nur entsetzliche Lumpen und stinkende Abfälle enthält?

Dienst – Appell – Musterungen. Jede Nähnadel hatte ihren bestimmten Platz. Jedes Wäschestück mußte zusammengerollt und mit einem blauen, manchmal mit einem weißen Läppchen umwickelt werden.

Heimlich mietete ich mir nun doch ein Privatzimmer im Christlichen Hospiz, wo ich abends dichtend meine Urlaubsstunden verbrachte oder mit dem netten Wirt Schach spielte.

Ich wurde auf den Kreuzer S.M.S. »Nymphe« kommandiert. Zu meiner infanteristischen Ausbildung kam nun noch die artilleristische und die bootsdienstliche. Da ich außerdem Signalgast wurde, mußte ich viele Signalsprachen nach geheimen oder internationalen Systemen erlernen. Meinen Augen wurden verantwortungsvolle Aufgaben gestellt. Doch standen mir die besten Fernrohre und Doppelgläser zur Verfügung.

Der Drill an Bord war noch weit strenger als an Land. Das Schlimmste war allen das Kohlen. In rasender Eile anstrengendste Arbeit. Schweiß gemischt mit Kohlendreck. Hinterher Belohnung: »Antreten zum Schnapsempfang.« »Nymphe« war ein Torpedoversuchsschiff. Und auch für funkentelegraphische Versuche bestimmt. Kommandant war der Korvettenkapitän Stahmer. Unsere Übungen in der Nordsee und in der Ostsee führten uns nach den meisten deutschen Häfen. Dann fuhren wir für eine Zeit nach Norwegen. In Arendal empfingen uns die Bewohner mit großer Begeisterung. Schöne Damen und Mädchen kamen an Bord. Man tanzte. An Land wurde abends weitergefeiert. Die Nationalhymnen stiegen. Beim Abschied winkten zarte Tücher.

Wir hatten einen Ersten Offizier, der nicht ganz richtig im Kopf war und uns arg zusetzte. Er gab Befehle wie: »Alle Mann antreten zum Durchfrieren auf der Back.« Dann mußten wir regungslos in der Kälte strammstehen. Zur Abhärtung. Es hagelte Strafen. Ich kam aber zunächst gut davon. Obwohl ich eines Abends, da ich angeheitert die Barbarossabrücke betrat, beinahe Prinz Heinrich umgerannt hätte.

Einmal fuhren wir den Prinzen Ludwig von Bayern von Bremen nach Helgoland. Ein Graf Zeppelin war unter seinen Begleitern. Der hat mir in späteren Jahren erzählt, daß es auf der »Nymphe« eine große Wuling gegeben hätte, weil der Prinz darauf bestand, daß die bayrische Standarte gehißt würde. Der Kommandant aber[191] wollte diese teure Flagge nicht extra für diese Fahrt anschaffen. Ich merkte damals davon nichts. Ich hatte nur die Ehre, als Signalgast dicht neben dem hohen Herrn zu stehen und ihm einmal eine Hanf matte unter die Füße zu schieben, wobei er mich »sehr ungeschickt« nannte. Von Helgoland fuhren wir nach Hamburg. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich, als der Kommandant uns Stadturlaub verweigerte. Daraufhin erhielt ein Teil der Mannschaft Urlaub. Von dem andern Teil entfernten sich viele heimlich, indem sie an der Ankerkette herunter in ein Zivilboot kletterten. Da sich sogar die Fälle von Desertionen mehrten, verließ das Schiff nach zwei Tagen Hamburg und fuhr nach Kiel.

Als Signalgast mußte ich auf der Brücke alles beobachten, was ringsum auf dem Wasser und an Land vorging. Das war sehr abwechslungsreich und spannend. Da sah ich morgens das Bäckerboot, das den vielen verankerten Schiffen die Semmeln brachte. Das Boot kenterte, und nun schwamm der Bäcker zwischen Hunderten von Semmeln. Andermal passierte ein Boot, das mit Huren besetzt war. Als es dicht an uns vorbeiruderte, hoben die Weiber ihre Röcke hoch und zeigten uns ihren Hintern.

Wenn sich nachts unser Routineboot von Land zurückkommend näherte, mußte ich es durchs Megaphon anrufen: »Boot ahoi!« Der Bootsführer rief dann zurück: »Nein! Nein!« Das hieß: Ich bringe nur Mannschaften. Oder er rief: »Ja! Ja!« Das hieß: Es ist ein Offizier im Boot. Oder: »Nymphe!« Das hieß: Wir bringen den Kommandanten. Wäre der Kaiser auf dem Boot gewesen, so hätte die Antwort »Standart« gelautet. Solche und hundert andere Dinge mußte ich beherrschen.

War die »Nymphe« Wachschiff im Hafen, so hatte sie mittags um zwölf Uhr einen blinden Schuß abzufeuern, nach dem sich alle Schiffsuhren richteten. Das mußte äußerst pünktlich geschehen. Manchmal verzögerten aber die Geschützführer den Schuß ein wenig, um ein ahnungslos vorbeifahrendes Zivilboot mit dem Knall zu erschrecken. Denn die Schnelladekanonen tönten gewaltig. Wenn die Kriegsschiffe im Hafen bei feierlichen Anlässen Salut schossen, bebten in ganz Kiel die Fensterscheiben.

Sehnlich wurde die tägliche Post erwartet. Grüße und Neues von daheim. Mein Bruder Dipl.-Ing. suchte eine Stellung als Bergdirektor. Ottilie studierte Musik am Konservatorium. Mutter sandte mir Butter aufs Brot und Putzpomade für mein Geschütz. – Ich las Auerbachs Spinoza und was mir sonst der Zufall in die[192] Hände spielte. Einmal besuchte mich mein Schulfreund Adam, der auch zur Marine gegangen war. Wir sprachen unter anderem von dem dritten Seemann aus unserer Klasse, dem genialen Mitschüler Harich. Als ich einmal auf einem Schiff in Hamburg ankam, erkannte ich ihn auf einem auslaufenden Schiff. Wir winkten einander zu und tauschten einen frohen Zuruf. Harichs Schiff ging dann unter, er ertrank.

Wir beschossen zu Versuchszwecken alte, ausrangierte Torpedoboote, die man mit Kork gefüllt hatte. Andermal war ein großes Scheibenfloß das Ziel. Der Sturm zerbrach es. Wir zimmerten die Balken am Strande der dänischen Insel Aroe wieder zurecht. In dem dänischen Ort Gjedser entfernte ich mich heimlich und unbemerkt und brachte meine Bluse voll schöner Äpfel zurück, die mir ein hübsches Landmädchen geschenkt hatte.

Zwischen den normalen Arbeiten auf »Nymphe« wurden immer wieder und ganz plötzlich die wichtigsten Bordmanöver geübt. »Feuerrolle«, »Klar zum Gefecht«, »Schotten dicht«. In der Kieler Bucht gewahrte ich weit draußen einen Menschen, der ganz unerklärlich hoch aus dem tiefen Wasser ragte. Ich rief sofort »Mann über Bord«. In wenigen Minuten wurde der Mann an Deck gebracht. Es war ein Student, der sich aus einem gekenterten Segelboot auf eine Life-Boje gerettet hatte. Er war sehr lange im Wasser herumgetrieben.

Zur Kieler Woche hatten wir Signalgäste heiße Stunden auf der Brücke. Der Hafen lag voll von Kriegsschiffen, die über die Toppen geflaggt hatten. Denn der Kaiser war anwesend, und man erwartete ein englisches Geschwader mit dem König von England. Jedes Schiff wollte die englische Königsjacht zuerst entdecken. Auch ein dänisches Geschwader hatte Kiel besucht. Die glaubten die englische Jacht zu sehen und schossen Salut, und einige von unseren Schiffen fielen ein. Aber die Meldung stimmte nicht, und so wurde ein halber Salut umsonst verpufft. Abends war ein Bankett im Jachthaus. Als der Kaiser seinen Toast auf den König von England ausbrachte, wurde der ganze Hafen und wurden sämtliche Schiffe durch einen einzigen Knips märchenhaft illuminiert. Ich hatte Wache auf der Brücke und öffnete in diesem Moment eine halbe Flasche Sekt. Die trank ich feierlich ohne Glas, nicht auf das Wohl des kings.

An den nächsten Tagen fanden die großen Ruderregatten statt, für die wir monatelang trainiert hatten.[193]

Es war stets ein Fest für mich, wenn ich einmal mit studierten oder künstlerisch orientierten Leuten zusammenkam. So besuchte mich Vaters Freund, Herr Gerlach, der Spezialzeichner der Leipziger Illustrierten Zeitung. Er traf mich an Bord, als ich gerade meine Hose ausgezogen hatte, um eine diskrete Stelle daran zu flicken. Komischerweise war mir das vor dem Gast sehr peinlich.

Andermal wurde »Nymphe« zur Verfügung des Flottenvereins nach dem Seebad Warnemünde kommandiert. Abends trieben sich die Matrosen zwischen den Strandkörben herum. Sie trugen weiße Paradehemden und siegten damit. Nur ich wanderte lange allein herum. Bis mich zwei Rostocker Studenten ansprachen und zum Bier einluden. Einer von ihnen schenkte mir beim Abschied eine Rose. Dieses Erlebnis erfüllte mich sehr.

Es fanden die großen Manöver statt. Weil der Kaiser zugegen war, herrschte eine fieberhafte Nervosität. Die wellte von den hohen Instanzen anschwellend nach den tieferen und brandete bei uns einfachen Soldaten.

Es folgte ein Landungsmanöver bei Wismar. Die Schiffe näherten sich, soweit es die Meerestiefe erlaubte, dem Lande. Dann fuhren die Boote, soweit sie konnten, und dann mußten wir durchs Wasser waten, zum erstenmal infanteristisch und feldmarschmäßig ausgerüstet, mit Tornister, Gewehr und leichten Geschützen. Die Offiziere ließen sich von Matrosen auf den Schultern an Land tragen. Ich bot mich einem Oberleutnant an, den ich nicht leiden konnte, weil er so liebedienerisch nach oben war. Wenn der Kronprinz in Kiel im Segelboot zehnmal an unserer Nymphe vorbeikreuzte, brüllte dieser Leutnant sich die Lunge aus dem Hals: »Oberdeck stillgestanden! Front nach Backbord!« Nur um beim Kronprinzen angenehm aufzufallen. Diesen Oberleutnant nahm ich auf die Schultern und ließ es sich ereignen, daß ich stolperte und wir beide der Länge nach ins Wasser fielen.

Nach Schluß der Manöver verlas man uns eine Kaiserliche Order, die Allerhöchste Anerkennung aussprach und jedem Unteroffizier eine Mark, jedem Matrosen fünfzig Pfennige bewilligte. Unser Kommandant hatte einen Orden mehr.

Im September stellte »Nymphe« außer Dienst. Nach siebenmonatigem Borddienst war ich froh, wieder einmal in die Kompanie zu kommen. Dort hauste ich gemütlich mit alten Soldaten zusammen. Dem langweiligen Kasernendienst entzogen wir uns mit allen Schikanen der Drückebergerei.[194]

Mein Vater schrieb mir, daß er sein Atelier aufgebe und daß er sich überhaupt künftig mehr der Schriftstellerei widmen wolle.

Nach wenigen Tagen wurde ich wieder an Bord kommandiert. Auf das Artillerie-Schulschiff »Carola«. Es war dasselbe Leben wie auf der »Nymphe«, in manchem besser, in manchem schlechter.

Ich erhielt meine erste Strafe, weil ich einen Befehl nicht schnell genug ausgeführt hatte. Dafür mußte ich nach dem Gutenacht-Kommando »Hängematten weg!« noch eine Stunde im Mondschein an Deck strammstehen und dabei meine zusammengezurrte Hängematte halten, die wie eine Riesenwurst aussah.

»Nur noch achtundvierzig Tage bis zur Entlassung!« sagten wir, wenn wir aufwachten, und am nächsten Morgen: »Nur noch siebenundvierzig Tage!« Reservistenlieder erklangen in der Kantine. »Reserve hat Ruhe!« und »Ach, wie wohl ist dem zumut, der die letzte Wache tut.«

Ich wurde zum Obermatrosen befördert, mußte mir noch einen gelben Winkel zu meinem schwarzweißroten Einjährigenwinkel auf den Oberärmel nähen. Aber jede solche Kleinigkeit schmeichelte einem doch.

Mir wurden ein Paar Schuhe gestohlen. Ich erwischte den Dieb und verprügelte ihn, verstauchte mir aber dabei den Daumen. Nachts brach die Leine am Kopfende meiner Hängematte. Ich fiel mit dem Ellbogen sehr hart auf die Ankerkette.

Einmal entdeckte ich erwachend eine tote Flunder, auf der ich geschlafen hatte. Ich ließ mir nichts anmerken, sondern packte den Fisch in eine andere Hängematte. Acht Tage später gab es einen Skandal. Ein Matrose hatte diese schon halb verweste Wanderflunder in seiner Hängematte entdeckt und stellte nun einen Verdächtigen zur Rede.

Aus dem eisernen Schiffsraum, wo unsere Schlafschaukeln hingen, wurde manchmal nachts mit Kanonen geschossen. Das kolossale Dröhnen vermochte mich nicht im Schlafe zu stören. Wenn aber ein leichtes Pfeifensignal ertönte, das mir galt, so war ich im Nu hoch. Derart müde waren wir, und derart dressiert.

Sturm und Kälte bei Übungsfahrten bei Helgoland. Zu Weihnachten auf Urlaub daheim, in der schmucken Uniform im Binnenland sehr angesehen.

Am 3. Januar 1905 wurde ich entlassen mit der Beförderung zum Bootsmannsmaat.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 6: Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S. 187-195.
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