5

[78] Der Hauslehrer Andex hatte, einen ernsten Vorsatz umstoßend, wieder einmal eine Geschichte aus seinem Leben, diesmal dem Pfarrer, dem Doktor und dem Oberlehrer vorgetragen, und obwohl sie bei diesen aufmerksamen Zuhörern eine lebhafte Behaglichkeit erwärmt hatte und ungeachtet der rundkörperliche Geistliche noch ein artiges Weinchen in Aussicht stellte, erhob sich doch der Hauslehrer und nahm großen Abschied, derart, wie man ihn nimmt, wenn man ein Nimmerwiedersehen für möglich hält. Dann schlug er einen ausgiebigen Weg durch das besonnte Städtchen ein, besuchte Frau Konditor Kürzel, Hans Dannenberg, den Bibliothekar Huckebein, auch dessen Eichhörnchen und andere angewöhnte Persönlichkeiten. Und weil ihm die Menschen überall mit kleinleutlicher Umständlichkeit etwas Langes einredeten, was die kurze oder vielleicht ebenfalls lange Bedeutung barg: Wir haben dich liebgewonnen; weil auch die Giebel und die durchdenkbaren Fenstergardinen der Häuser oder Häuschen, die Gassenkinder, die Linden und einige wedelnde Hundeschwänzchen dasselbe kundzugeben schienen, geriet Andex bald in die heiterste Laune. So behielt er gutmütige Geduld, überall von neuem des längeren und breiteren Auskunft zu er teilen über Ursachen und Stunde seines Scheidens, ferner über seine Pläne in bezug auf die Spessartmühle, die er so unerwartet von dem kaum bekannten Onkel geerbt hatte, und über Sonstiges. Schließlich lenkte er die Schritte – und sang dabei seine vorzügliche Stimmung in einem mehrmals wiederholten, sinnlos fragmentarischen Refrain heraus – nach dem herzoglichen Forsthaus, wo er sich, da der Oberförster nicht zugegen war, ein Gewehr borgte, ein letztes Mal im oftbeschrittenen Revier zu pirschen.

Aber ziellos, kreuz und quer den Wald durchstreifend, dessen[78] Bäume, Wege, Lichtungen und Futterschober liebe Bekannte waren, verlor Michel Andex wohl seine Absicht; denn es geschah nur ein einziges Mal, daß er die Büchse anlegte, auf eine sitzende Eule, welche sich verführerisch von der spätmatten Himmelsbläue abhob. Doch er schoß nicht; er brachte es an diesem Tage nicht übers Herz, etwas zu töten. Unerwägt, wie weit die mancherlei schmackhaften Getränke mitwirkten, welche er bei den vorangegangenen Visiten nicht hatte abschlagen können, so durchströmte ihn nun eine weiche Begeisterung, die ihn mit vornehmen und weitspannenden Gedanken beschäftigte. Auch eine Wenigkeit von Wehmut färbte seine Betrachtungen, als er sich bei Sonnenuntergang ermüdet am Wiesenhang lagerte und mit halber Aufmerksamkeit verfolgte, wie der Widerschein fernwandelnder Wölkchen den Lauf seiner Flinte rot überzog. – Herr Andex befand sich in der Meinung, daß eine Mühle, deren Gesamtwert von einem Großbäcker nach bezahlter Besichtigung auf 40000 Mark taxiert war, eben dasselbe wie 40000 Mark Barvermögen bedeute. Indem er neben anderem seine Unfähigkeit zur Führung eines Mühlenbetriebes unterschätzte, dünkte er sich auf einmal vom armen, wie man sagt, aus der Hand in den Mund lebenden, zum wohlhabenden Manne geworden.

Und nun ein Strahl seines Blickes die grüne Wiese mit dem rührenden Volke der kleinen rotbetüpften Gänseblümchen überlief, während von weither die Armutslieder einer Ziehharmonika herüberbrandeten, öffnete sich dieses Mannes grundgütige Seele, und er begann sich mit groß ausholenden und tief eindringenden Ideen zu beschäftigen: Wie er hinfort mit seinem Reichtum, seiner Macht gar viel vergelten und erfreuen wollte.

Neben ihm schrillte eine schneidende Kinderstimme auf: »Herr Andex, ich habe ein Kaninchen!«

Daja, blühend in Glückseligkeit, kauerte sich neben ihrem Hauslehrer nieder. Bedachtsam hielt sie ihr Röckchen im Schoße zusammengefaltet, wodurch die weißen Höschen über den nackten prallen Beinchen sichtbar wurden, und ihr Blondhaar hing lose vornüber. Dem Hauslehrer, obwohl er nur flüchtig hinschaute, entging nicht, wie niedlich sie aussah. Er vergaß darüber, zu fragen, wo sie herkäme, oder zu schelten, weil sie Mademoiselles Klavierunterricht entlaufen sei; er vergaß überhaupt zu sprechen. Das Bild dieser prallen Kinderwaden mit dem Spitzensaum von Hosen darüber hielt er fest, vervielfältigte es, führte es fort, mit[79] einem verhältnismäßig unbedeutenden Teil von 40000 Mark in der Tasche, fort in einem heißen, ratternden Wagen durch Nacht an Laternen vorbei, die in regenpoliertem Pflaster widerblitzten und dann auf Teppichen zu rhythmischer Musik, Duft und geheimnisvoller Abgeschlossenheit. Und genoß schrankenlos, gehorchte, kniete nieder, küßte Fleisch und fühlte tief erniedrigende Schläge mit Birken – –

»Herr Andex, wann gehst du fort?«

Die Antwort ließ lange auf sich warten und klang unfreundlich: »Morgen, übermorgen.«

»Ist es wahr, daß du Abenteuer machst?« Daja sah völlig naiv aus. Diesem rührenden Blicke konnte man nicht böse sein. Der Lehrer lächelte bitter.

»Abenteuer? Wieso denn?« Und in einer Art Schamgefühl bezwang er sich, um Dajas weiche Ärmchen jetzt nicht zu streicheln, die vorsichtig das weiche lebendige Spielzeug bedeckten. »Wieso, Daja?«

»Mutti hat's gesagt.«

Der Geist des Herrn Andex wiederholte mehrere Male: Ja ja, Abenteuer, ja ja, Abenteuer. Und mit dem Sinne dieser Worte beleuchtete er, was wie kinematographisch und grammophonisch in sechsunddreißigjähriger Länge nun vorüberraste, vorüberlautete.

Es war sein gewesenes Ich, es war der Geometer Andex, der im Boote stand, von braunen Kerlen nilabwärts gerudert.

Die dicke Tante Gerold gab ihm mit Blicken voll betrübter Nachgiebigkeit die Hand, da er Abschied nahm von ihr, die ihm seine Verwaisung entschädigt hatte.

Und er saß im Kupee des Hamburger Zuges mit phantastischen, unzerstörbaren Hoffnungen aufgeblasen neben dem redseligen Koch aus Halle und lachte innerlich in himmelhoher Überlegenheit, weil besagter Reisebekannter von »Bereuen« gesprochen hatte.

Er, Andex, ward hin und her gerollt, und das rote, rote, heiße Loch, in das er schweißtriefend schwarzes Futter schaufelte, schwankte hin und her, daß die heißen Kohlen darin sprühend durcheinanderrüttelten. In die furchtbare Musik schurrenden Eisenbleches, zusammenfallender Kohlenhaufen und vieler einander durchbrechenden Stimmen von Meer und Sturm schrak von oben das aufregende Kommando herein: »Forcierte Kraft!« und[80] dann schrie jemand so gräßlich, so gräßlich –. Andex sah unbeirrt, geschäftlich auf das blutige Zahnfleisch. Er spürte kein Mitleid angesichts dieser vorübergehenden heilsamen Schmerzen, sondern drückte den Unterkiefer des Schreienden fest und gleichgültig nieder wie eine Türklinke. Aber er litt unter den quäkenden, quälenden Worten des neben ihm stehenden Chefs: Hörr Andöx, göfälligst dö Zungö runtördrücken. Hörr Andöx göfälligst dö drittö Feilö. Oh, sind So ungöschickt! Andörö Zangö! – Dieser schiefköpfige Zahntechniker, dieser bodenlos eitle, erbärmliche Wurm.

Da war es, als schritte, mit schöner hoher Stirn, ganz langsam, sanft und schweigsam die Mutter vorüber, und Michel, der in Erinnerung an die Sprechweise des Herrn Kästner noch unwillkürlich die Lippen komisch häßlich verzogen hielt, ward jählings von peinlicher Sehnsucht nach der früh Verstorbenen übermannt. Auch ein kleines Aquarellbild über einem orangefarbenen, spitzenbehangenen Sofa tauchte auf und wies das Porträt eines schwermütigen Mannes. Und als Tante Gerold darauf hindeutete und seufzend sagte: Dein guter, schlichter Vater; sein letzter, besorgter Wunsch galt dir, Michel. Da rief der Geist des Herrn Andex vor Mitgefühl überschäumend: Vater, sei unbekümmert; ich blieb immer ehrlich, so hart mir's oft ging, und nun bin ich ja glücklich. Ich habe eine Mühle geerbt, die 40000 Mark wert ist – und Tante Gerold trug die Lilabluse, darüber den prächtigen Granatschmuck von Kaiser Wilhelm. – Nun trug sie das schwarze Kleid: armer Michel, dein Vater ist heute nacht zum Allervater hinübergeholt.

Darauf bog sich Herr Andex laut unverhohlen schluchzend über das Geländer der Neckarbrücke und warf eine dreifarbige Mütze, ein begeistertes, kostspieliges Studium und seine innigsten Wünsche in den Strom.

»Rudys Frettchen hat es aus dem Bau gejagt und Treff hat es gefangen. Soll ich es in den Stall zu den Ponys tun? Denkst du, daß es leben bleibt?«

Wo – wer sprach da? Ach, Daja war es, Daja, die an seiner Seite spielte.

»Ja«, erwiderte der Hauslehrer spät und kehrte sogleich in sein Sinnen zurück zu den Bildern und Gestalten seiner Vergangenheit, die ihm auf einmal überwältigend viel zu umfassen schien. Er traf sich in der brasilianischen Farm, wie er dem Mestizen das Messer entwand und dort zum erstenmal Lepupa[81] erblickte mit ihren vollkommenen Elfenbeinzähnen – seine Zahnerfindung –

»Was soll ich ihm denn zu fressen geben?«

»Ja«, sagte der Hauslehrer.

– Brotlos, frierend, verschämt in einem Wartehäuschen des Bremer Hafens übernachtend und damals, als Erlösung, die Hauslehrerstelle bei Stadtrats. Herr Stadtrat, Frau Stadträtin – macht Abenteuer, ja, ja, macht Abenteuer. Aber es war doch immer ein gnädiger Gott nahe gewesen, wenn die Not am höchsten – und nun schenkte er gar die Mühle, das Geld, mit der Freiheit, der Selbständigkeit. Er war es diesem Gotte schuldig, jetzt denen ebenso gnädig zu verzeihen, und er wollte und konnte. Und »nicht wahr«, setzte Daja ein, »morgen taufen wir es?«

Ihr Lehrer hatte wohl überhört. Flüsternd, aber deutlich sprach er ein Verschen vor sich hin:


»Ihr glücklichen Augen,

Was je ihr gesehn,

Es sei, was es wolle,

Es war doch so schön.«


Die achtjährige Schülerin, welche diese Poesie nicht ganz verstand und sie auf das Kaninchen bezog, lächelte mit allerliebstem geschmeichelten Besitzerstolz, indem ihre Fingerchen gelinde über die verschrockenen Rollaugen und das appetitliche Schnäuzchen des zitternden Tierchens strichen.

Nun trugen die Schwingen der Gedanken den bleichen Mann mit dem schlotternden Gehrock hoch in das goldene Futur, wo unabsehbare, jugendlang und jugendheiß erhoffte Wonnen winkten. Und doch war oben Michels erster Blick wieder rückwärts, abwärts gerichtet, wo das unumgrenzbare, ungreifbare, unglaubliche Vorbei sich in wirren Rätseln verlor. Jetzt geschah es, daß der Hauslehrer von einem friedesamen, milden Schwindel ergriffen wurde.

Zauberhaft! dachte er. Märchenseltsam! Aber es liegt noch etwas namenlos darüber, was so wehmütig stimmt, etwas so – ein –

»Herr Andex, wie soll ich es denn taufen?«

– ein unnennbares, eine, so eine – er suchte und suchte nach einem wörtlichen Ausdruck für das Gedachte und endlich sprach er ihn laut aus: »Verstorbenheit.«

»Ver-stor-ben-heit?« wiederholte Daja fragend, und ihre Verwunderung dehnte das Wort.[82]

»Ja«, nickte Andex traumtrunken, »Verstorbenheit.«

Und plötzlich erhob er sich energisch mit dem Ruf: »Aber Daja, was treibst du? Wir müssen nach Hause, marsch! Mutti wird schelten.«

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 4: Erzählungen, Zürich 1994, S. 78-83.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Papa Hamlet

Papa Hamlet

1889 erscheint unter dem Pseudonym Bjarne F. Holmsen diese erste gemeinsame Arbeit der beiden Freunde Arno Holz und Johannes Schlaf, die 1888 gemeinsame Wohnung bezogen hatten. Der Titelerzählung sind die kürzeren Texte »Der erste Schultag«, der den Schrecken eines Schulanfängers vor seinem gewalttätigen Lehrer beschreibt, und »Ein Tod«, der die letze Nacht eines Duellanten schildert, vorangestellt. »Papa Hamlet«, die mit Abstand wirkungsmächtigste Erzählung, beschreibt das Schiksal eines tobsüchtigen Schmierenschauspielers, der sein Kind tötet während er volltrunken in Hamletzitaten seine Jämmerlichkeit beklagt. Die Erzählung gilt als bahnbrechendes Paradebeispiel naturalistischer Dichtung.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon